Deutschland entwickelt sich zunehmend zu einem Ort, an dem man keine Ansprüche an das Leben mehr stellen darf.
Pünktlichkeit, Ordnung, Effizienz — solche zugegebenermaßen etwas bieder anmutenden Qualitäten brachte man lange Zeit mit Deutschland in Verbindung. Entgegen der beobachtbaren Realität wirken diese Klischees in den Köpfen der Älteren von uns auch noch nach. Die Wahrheit ist aber längst eine andere. Deutschland bewegt sich in rasantem Tempo auf den Status eines Failed State zu. Typisch deutsch ist allenfalls noch der Hang zur Selbstzerfleischung. Im Gegensatz zur Nachkriegs- und Wendezeit ist diese Selbstkritik aber heute nicht mehr übertrieben. Ein Land, in dem selbst für die Grundbedürfnisse wie Transport und medizinische Versorgung nicht mehr gesorgt ist, wird zunehmend zu einem unbehaglichen, beängstigenden Ort, an dem man — um ein Kanzlerinnenwort zu variieren — schlecht und ungern lebt. Nur noch der Rückzug in die eigenen vier Wände schafft für kurze Zeit Erleichterung — ein digital upgedatetes Biedermeier. Wenn nun wenigstens die Menschen ein stilles Glück auf niedrigem materiellem Niveau realisieren könnten ... Doch auch untereinander sind wir tief gespalten. Ein Kommentar von Roberto J. De Lapuente.
Samstagmorgen. Ich plane eine nachmittägliche Fahrt nach Langen — von Frankfurt, meinem Wohnort, aus sind das vielleicht 15 Kilometer. Die S-Bahn fährt dorthin; ein Blick in die App verrät mir die jeweiligen Ankunftszeiten. Allerdings steht hinter jedem Zug samt Zeiten ein kleines rotes Warndreieck mit Ausrufezeichen. Ein Klick verrät, dass alle Verbindungen in Gefahr sind. Der Grund: Personalmangel. Ob oder zumindest wann ich also im Frankfurter Umland ankommen würde, war schon Stunden vorher nicht gesichert.
Kurz danach machte ich mich auf den Weg zum örtlichen Supermarkt. Eine bekannte Kette mit großer Filiale. Alle Einkaufswagen mal wieder im Einsatz — man muss wissen: Sie haben dort kaum noch Einkaufswagen, gefühlt vielleicht zwanzig Stück. So geht das seit Wochen: Egal, wann man kommt, es gibt nur noch wenige bis keine Wagen.
Nach einigen Wochen dieses Mangelzustands fragte ich den Geschäftsführer, was für eine Art Strategie das sei — ich ginge nämlich mittlerweile regelmäßig woanders hin, weil man in seinem Geschäft ständig die Waren herumtragen müsse. Er gab sich konsterniert: Bestellt seien sie schon lange. Aber es gebe Lieferengpässe. Und das seit Monaten. Ob das mit mangelndem Stahl oder fehlendem Personal zu tun habe, vermochte er nicht zu beantworten.
Pünktlichkeit ist rechts
Neulich durfte Bahnchef Richard Lutz der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) ein Interview geben. Man erfuhr Erstaunliches: Pünktlichkeit, über Jahrzehnte — allerdings vor langer Zeit — die Tugend der Eisenbahner, sei überhaupt keine Priorität der Deutschen Bahn mehr. Klar, man könnte pünktlicher sein, erfuhr der überraschte Leser. Aber dann müsse man Züge von der Schiene nehmen. Weniger Verbindungen bedeuteten mehr Pünktlichkeit. Aber dann schade man dem Klima. Anders gesagt: Sich zu verspäten rettet das Klima.
Natürlich ist das die reinste Augenwischerei. Verspätungen entstehen nicht durch zu viele Züge — dafür gibt es so was wie einen Fahrplan. Die Deutsche Bahn hat seit 1994 mehr als 5.400 Kilometer Gleise, das sind an die 16 Prozent des gesamten Streckennetzes, stillgelegt oder abgebaut. Vermutlich gab es bis dahin mehr Züge auf den Gleisen als heute.
Etwas anderes beeinträchtigt die Pünktlichkeit massiv: der marode Zustand der Infrastruktur. Sie wird aber auch in die Fahrpläne eingespeist. Brücken, die nicht mehr ganz auf statischer Höhe sind, werden deshalb nur langsam passiert. Solche Schonfahrten preist man ein. Viele Strecken erreichte man vor Jahren daher auch noch schneller als heute. Da man nicht davon ausgehen kann, dass es an der Verschiebung der tektonischen Platten liegt, kann es nur der Umstand sein, dass die Bahn ihre marode Ausstattung mit in die Ankunftszeiten hineinrechnet.
Nun ist aber die Unpünktlichkeit, die systemisch bedingt und strukturell seit 1994 herbeireformiert wurde, gar kein Makel mehr, sondern die Stärke der Deutschen Bahn: denn sie ist durch die Klimarettung bedingt.
Für diese Aufgabe sollten wir uns als potenzielle oder wirkliche Bahnkunden nicht so anstellen und auch mal Verspätungen in Kauf nehmen. Zwar verliert jeder, der regelmäßig mittels Schiene an sein Ziel kommen will, immens viel Lebenszeit. Aber das für einen guten Zweck. Die jungen Fahrgäste finden an dieser Logik vielleicht noch nicht mal etwas, was sie beanstanden können. Sie kennen es ja nicht anders. Die Erfahrenen unter uns haben jedoch vielleicht das Gefühl, dass es mal anders gewesen ist. War da nicht mal was mit Pünktlichkeit? Oder ist das bloß Einbildung?
Dass die Nationen allesamt mal national wie international abgestimmte Uhrzeiten festgelegt haben, lag am Betrieb der Eisenbahn. Sie stellte eine Verbindung verschiedener Regionen her, und die Abstimmung der Fahrpläne machte eine Standardisierung notwendig. Dass es ausgerechnet der Bahnchef ist, der mit dieser Grundtugend der Eisenbahner lax umgeht, ist geradezu grotesk. Fast fühlt man sich als Kunde, der noch auf Pünktlichkeit wert legt, wie ein Querdenker. Wann wird man auf Pünktlichkeit versessene Fahrgäste als rechte Zeitgenossen beschimpfen, weil sie ihr Zeitmanagement über den Klimaschutz stellen?
Personalengpässe, Sparzwang und andere Funktionsstörungen
Die Frankfurter Verkehrsbetriebe haben neulich eine kleine Broschüre herausgegeben. Übertitelt war das Blatt mit der Aussage, dass sie die Verbindungen fit machten und mehr Stabilität garantierten. Erst wenn man genauer las, erfuhr man, wie das geschehen soll: mit Ausdünnung der Taktungen. Nur so könne man gewährleisten, dass der innerstädtische Nahverkehr zuverlässig bleibe. Als Grund gab man Personalmangel und hohen Krankenstand an — woher Letzterer plötzlich kommt, während Unternehmen früher wenig von ihren Krankenzahlen berichteten, bleibt im Dunkeln. Der eine oder andere ahnt vielleicht, woran es liegen könnte — weiß es aber nicht sicher.
Nicht anders sieht es bei Arztterminen aus. Wartezeiten von drei bis vier Monaten für einen Facharzttermin sind Normalität. Die Krankenkassen bieten zwar an, dass sie einen Termin binnen Monatsfrist gewährleisten können — aber dann muss man bereit sein, auch mal 80 Kilometer für den Besuch einer Orthopädiepraxis in Kauf zu nehmen.
Gespräch mit einem Apotheker: Nach einem Sturz benötigte ich starke Schmerzmittel und dazu Antazida — das sind Medikamente, die das Überschießen der Magensäure verhindern sollen. Er gab mir die vorletzte Packung. Danach sei er blank, Nachlieferung sei keine in Sicht. Die Apotheke, die ich vorher aufgesucht hatte, besaß gar keine mehr. Warum dieser Mangel entstehe, fragte ich ihn. Er schimpfte auf die Bundesregierung, namentlich auf Karl Lauterbach. Seit Jahren würden diese substanziellen Medikamente im Ausland hergestellt. Deutsche Pharmakonzerne hielten sich damit gar nicht mehr auf, weil die Gewinnmargen zu niedrig seien.
Das gehe immer mal wieder so, sagte der Apotheker. Mit verschiedensten Medikamenten. Antazida seien für viele existenziell. Ohne dieses Mittel würden sie akute Magen- und Darmprobleme entwickeln. Natürlich werde es früher oder später wieder Lieferungen geben. Aber dann fehle erfahrungsgemäß wieder etwas anderes. Es sei ein dauerndes Mangelmanagement, das bei der Versorgung mit Medikamenten bestehe.
Verbunden mit dem Sparzwang im Gesundheitswesen generell entsteht ein trauriges Bild von der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung. Wer heute krank wird, fürchtet sich im Regelfall gleich zweifach: vor der Diagnose oder Erkrankung — und vor dem Ausgeliefertsein an ein System, das mit kostensparenden Mitteln therapieren soll.
Auch hier ist Deutschland ein Land, in dem kaum noch etwas geregelt funktioniert. Und über die Post, wie sie mittlerweile Tage braucht, um Briefe zu überstellen, sprechen wir gar nicht erst. Das wäre nochmal ein eigener, sehr ausladender Themenkomplex.
Blaise Pascal als Ratgeber
Ansprüche ans Leben darf man hierzulande keine allzu hohen haben. Schon eine Fahrt ins Grüne kann zum Stress ausarten, weil nicht sicher ist, dass man zuverlässig wieder nach Hause befördert wird — wenn man denn überhaupt rauskommt in die Sommerfrische. Deutschland werkelt auf Verschleiß. Und mittlerweile spürt man das an allen Ecken und Enden. Dieser Kurs setzt die Bürger dem Stress aus.
Gleichzeitig wird jeder, der diese Entwicklung direkt anspricht, als negativer Sonderling, als Schwarzmaler betrachtet. Schließlich könne man sich das Leben auch schlechtreden und unglücklich sein durch die bloße Kraft seiner Gedanken. Anders: Denk positiv, dann hältst du es aus. Wer heute von seinen Odysseen mit der Bahn berichtet, trifft meistens nur auf abwinkende Gesprächspartner, die erklären, dass die Bahn nun mal so sei. Man wisse das doch zur Genüge. Diese Resignation ist das Schlimmste: sich abzufinden mit der Misswirtschaft — das bedeutet, man hat aufgegeben und glaubt nicht mehr, dass sich Deutschland noch mal bewegt.
Der französische Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal hat im 17. Jahrhundert geschrieben, dass „das ganze Unglück der Menschen daher komme, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer bleiben könnten“. Nie war dieser Ausspruch vielleicht so wahr wie heute. Deutschland 2024 bedeutet, dass man sich heimelige Wohnungen einrichtet, Rückzugsorte vom Wahnsinn und von der Funktionsstörung dieses Landes schafft. Das hat etwas Biedermeierliches. Das Private wird zur Festung, man schließt die schrecklichen Entwicklungen aus. Kaum tritt man aber hinaus, deprimiert einen die Wirklichkeit. Bliebe man ruhig in seinen Zimmern zurück, könnte man fast so tun, als sei man rundherum glücklich. Das Unglück beginnt erst vor der Haustür. Das heißt, wenn man eine Wohnung hat — da beginnt ja schon das nächste Problem in diesem Deutschland …
In Kürze feiert sich dieses Land wieder selbst. Die Fußball-Europameisterschaft steht vor der Tür. Anders als 2006 scheint die Freude aber verhalten zu sein. Deutschland ist ein verstocktes Land geworden. Es reibt sich auf zwischen Funktionsstörungen und Ideologie, zwischen Spaltung und gegenseitiger Verachtung.
Das eigene Zimmer ist in diesem Deutschland der glücklichste Ort. Das sagt alles über die Qualität dieses Landes aus. Wo Rückzug zur Alternative wird, gibt es keinen lebenswerten öffentlichen Raum mehr. Und wenn Sie, alleine im Zimmer, auch noch das Radio mit seinen allzeit gut gelaunten Stimmen aufdrehen, könnten Sie vielleicht wirklich glauben, im besten Deutschland aller Zeiten zu leben.
Quellen und Anmerkungen
Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog ad sinistram. Seit 2017 ist er Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen. Er war Kolumnist beim Neuen Deutschland und schrieb regelmäßig für Makroskop. Seit 2022 ist er Redakteur bei Overton Magazin. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main. Im März 2018 erschien sein Buch „Rechts gewinnt, weil links versagt“.
+++ Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags. +++ Dieser Beitrag erschien zuerst am 15. Mai 2024 bei manova.news +++ Bildquelle: uslatar/Shutterstock.com
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