Ein Kommentar von Rainer Rupp.
Allgemein ist in unserer westlichen Gesellschaft ein zunehmender Hang zu beobachtenden, der Realität zu entfliehen. Die einen suchen ihr Heil in Drogenkonsum und Sekten und andere flüchten zumindest in die vorübergehende Geborgenheit der Esoterik und mystischer Zauberwelten, von denen es ein rasch wachsendes Angebot von Kino-Filmen und TV-Serien gibt.
Die Tatsache aber, dass selbst Politiker des kollektiven Westens z.B. in Sachen Ukraine, lieber auf Zauberkunst setzten, statt auf Fakten zu bauen, hat jüngst „The Wall Street Journal“, das Zentralorgan des US-amerikanischen Kapitals mit einem vernichtenden Kommentar auf den Plan gerufen. Die Autoren sind zwei ehemalige hochrangige Mitarbeiter der US-Regierung: Eugene Rumer war im National Intelligence Council (Geheimdienst) spezialisiert auf Russland und Andrew S. Weiss war Russland-Spezialist in den Bush- und Clinton Regierungen. Bei bekleiden aktuell hohe Positionen im akademischen und Beratungsbereich. Der Titel ihres Kommentars lautet:
„Es ist Zeit, das magische Denken über die Niederlage Russlands zu beenden“, mit dem Untertitel: „Putin hat den größten Bemühungen des Westens, ihn wieder aus der Ukraine zurückzudrängen, widerstanden und zu Hause hält er die Macht weiter fest in seinen Händen. Die USA und ihre Verbündeten brauchen eine neue Strategie: Eindämmung.“
Diese Passage aus dem Wall Street Journal (1) ist unbezahlbar. Es ist der Moment, in dem man in Washington anscheinend erkennt und eingesteht, dass die Strategie des Westens das Produkt „magischen Denkens“ ist! Hiernach noch einige Auszüge aus dem Kommentar:
„Das Selbstbewusstsein des russischen Präsidenten Wladimir Putin ist kaum zu übersehen. Die Anfang des Jahres mit Spannung erwartete ukrainische Gegenoffensive hat nicht den Durchbruch gebracht, der Kiew eine starke Verhandlungsposition verschaffen würde. Der Tumult im Nahen Osten beherrscht jetzt die Schlagzeilen, und die parteiübergreifende Unterstützung für die Ukraine in den USA wurde durch Polarisierung und Dysfunktionalität im Kongress auf den Kopf gestellt, ganz zu schweigen von den Pro-Putin-Neigungen des republikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump.“
„Putin hat Grund zu der Annahme, dass die Zeit auf seiner Seite ist. An der Front gibt es keine Anzeichen dafür, dass Russland einen Zermürbungskrieg verliert. Die russische Wirtschaft wurde zwar erschüttert, aber sie liegt nicht in Trümmern. (Anmerkung. Nein, sie ist sogar stärker als vor den Sanktionen) Putins Machterhalt wurde paradoxerweise gestärkt. Die Unterstützung der Bevölkerung für den Krieg ist nach wie vor solide, und die Unterstützung der Eliten für Putin ist ungebrochen.“
„Die Versprechen westlicher Regierungsvertreter, ihre eigenen Rüstungsindustrien wiederzubeleben, kollidieren mit bürokratischen Engpässen und zerbrochenen Lieferkette. In der Zwischenzeit haben Sanktionen und Exportkontrollen Putins Kriegsanstrengungen weit weniger behindert als erwartet. Russische Rüstungsfabriken steigern ihre Produktion, und sowjetische Fabriken übertreffen westliche Fabriken, wenn es um dringend benötigte Güter wie Artilleriegranaten geht.“
„Die Technokraten, die für die Führung der russischen Wirtschaft verantwortlich sind, haben sich als widerstandsfähig, anpassungsfähig und einfallsreich erwiesen. Hohe Ölpreise, die unter anderem durch die enge Zusammenarbeit mit Saudi-Arabien getrieben werden, füllen die Staatskassen wieder auf. Die Ukraine hingegen ist stark von westlichen Geldspritzen abhängig.“
„Putin kann auch mit Genugtuung auf seine außenpolitische Bilanz blicken. Seine Investitionen in wichtige Beziehungen haben sich ausgezahlt. China und Indien haben der russischen Wirtschaft eine wichtige Stütze gegeben, indem sie die Importe von russischem Öl und anderen Rohstoffen erhöht haben. Anstatt sich über verlorene Märkte in Westeuropa oder Pekings Widerwillen, sich über die Sanktionen der USA und der EU hinwegzusetzen, zu ärgern, hat Putin entschieden, dass es kurzfristig vorteilhafter ist, einfach Chinas Juniorpartner im wirtschaftlichen Bereich zu werden. Waren aus China machen fast 50 % der russischen Importe aus, und Russlands führende Energieunternehmen sind jetzt süchtig danach, nach China zu verkaufen.“
„Selbst Nachbarländer ... wie Armenien, Georgien, Kasachstan und Kirgisistan, haben fette Gewinne gemacht, indem sie als Wegbereiter für die Umgehung von Sanktionen und als Umschlagplätze für die Waren dienten, die Russland früher direkt importiert hat.“
„Allzu oft haben sie (die westlichen Staats- und Regierungschefs) sich magischem Denken hingegeben – sie haben auf Sanktionen, auf eine erfolgreiche ukrainische Gegenoffensive oder auf die Lieferung neuer Waffentypen gesetzt, um den Kreml an den Verhandlungstisch zu zwingen. Oder sie haben gehofft, Putin durch einen Palastputsch gestürzt zu sehen!“
„Aber jetzt ist es an der Zeit, zu einer langfristigen Strategie überzugehen, die den Druck auf das Schurkenregime im Kreml erhöht und aufrechterhält. Man sollte sich nicht der Illusion hingeben, dass eine mögliche Kombination kurzfristiger Schritte ausreichen wird, um Putin zur Aufgabe seines Krieges zu zwingen“
Und dann erklären die Autoren Weiss und Rumer in ihrem letzten Absatz, was sie unter einer langfristigen Strategie zur zum Sieg der NATO über Russland verstehen: nämlich „Containment“, also Eindämmung wie im Kalten Krieg, d.h. mehr Investitionen in die Rüstungsindustrie des Westens, Stärkung der militärischen Fähigkeiten der NATO, diplomatische Ausgrenzung und Abschottung Russlands.
In dem Zusammenhang kritisieren die beiden Autoren die westlichen Staats- und Regierungschefs, weil diese
„in auffälliger Weise nichts getan haben, um ihre Öffentlichkeit über die anhaltende Natur der Bedrohung durch ein revisionistisches Russland aufzuklären“.
Sie werfen also den West-Politikern vor, ihre Bevölkerung nicht hinreichend auf die Notwendigkeit vorbereitet zu haben, dass ohne einen Sieg der Ukraine der kollektive Westen in den nächsten 5 bis 10 Jahren gigantische Rüstungsanstrengungen machen muss, um den Zähne fletschenden russischen Bären abzuschrecken.
Allerdings benutzen die Autoren des WSJ-Kommentars an dieser Stelle definitiv selbst magisches Denken. Denn wie sonst kann man sich vorzustellen, dass in den kommenden Jahren eine massive Umverteilung der knappen Haushaltsgelder zugunsten des Militärs zur Kriegsvorbereitung gegen Russland politisch umgesetzt werden kann, z.B. in einem Land wie Deutschland, das mit nachlassender Wirtschaftskraft und weiter sinkender Kaufkraft und Kürzungen der Sozialleistungen kämpft.
Auch in anderer Hinsicht wird spätestens im letzten Absatz des WSJ-Kommentars klar, dass auch die beiden Autoren, trotz aller Kritik, weiterhin selbst im „magischen Denken“ des Westens gefangen sind. Wenn sie z.B. fordern, Russland diplomatische auszugrenzen und wirtschaftlich abzuschotten, dann haben sie noch nicht gemerkt, dass die USA und der kollektive Westen längst nicht mehr der Nabel der Welt sind. Die einstigen „Herren des Universums“ stehen zunehmend isoliert dar, während Russland und China ihnen in Bezug auf globale „soft power“ und „good will“ den Rang abgelaufen haben.
Laut einer Analyse des US-Magazins „US-News and World-Report“ aus der Zeit vor dem 7. Oktober stand Russland an Stelle 6 der einflussreichsten Länder der Welt. Seit der bedingungslosen Unterstützung des zionistischen Regimes in Israel und dessen rassistisch motivierten Massenmordes an der Bevölkerung von Gaza durch Deutschland, Frankreich und England, dürften die Länder nicht die Plätze vor Russland auf der Liste der einflussreichsten Länder der Welt einnehmen. Beobachter sehen jetzt Russland und China auf den ersten zwei Plätzen, denn Gaza hat den Ländern des Globalen Südens geholfen, hinter die Maske der westlichen Demokratie und Menschenrecht-Verkäufer zu sehen.
Quellen und Anmerkungen
(1) https://www.wsj.com/world/russia/its-time-to-end-magical-thinking-about-russias-defeat-f6d0b8de
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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bildquelle: GaudiLab / Shutterstock.com
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