Ein Kommentar von Das Gewerkschaftsforum.
Hinweis zum Beitrag: Der vorliegende Text erschien zuerst im „Rubikon – Magazin für die kritische Masse“, in dessen Beirat unter anderem Daniele Ganser und Hans-Joachim Maaz aktiv sind. Da die Veröffentlichung unter freier Lizenz (Creative Commons) erfolgte, übernimmt apolut diesen Text in der Zweitverwertung und weist explizit darauf hin, dass auch der Rubikon auf Spenden angewiesen ist und Unterstützung braucht. Wir brauchen viele alternative Medien!
Die wachsende Armut in Deutschland wird auf einmal zum Teil eines Bedrohungsszenarios erklärt, für das es nur einen Schuldigen gibt: Putin.
Armut ist auch nicht mehr das, was sie einmal war. Früher wurde sie als das Ergebnis gesellschaftlicher Fehlentwicklungen im eigenen Land interpretiert. Oder — je nach Blickwinkel — des fehlerhaften politischen Handelns einiger Parteien. Hartz IV zum Beispiel war eine Idee der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder. Deren Protagonisten mussten sich denn auch einiges an Kritik und Anfeindungen gefallen lassen. In den letzten Jahren ist die Armut zwar weiter gewachsen, nicht aber das Verantwortungsgefühl derer, die sich unter anderem die Coronamaßnahmen und den neuen Kalten Krieg gegen Russland ausgedacht haben. Die Armen in Deutschland des Jahres 2022 sind — so einfach kann man es sich machen — Putins Arme. Die Bedrohung kommt von außen, aus einem Land, das sich rätselhafter Weise den Kräften des Bösen verschrieben hat. Aufgabe der Führungselite in unserem Land ist es demgemäß, alle Bürger zu einer Not- und Schicksalsgemeinschaft zusammenzuschweißen. Es gibt auf einmal keine Ober- und Unterschicht mehr, nicht Ausbeuter und Ausgebeutete, nur noch Deutsche, die an der Heimatfront hassend, frierend und verzichtend gegen den Feind im Osten zusammenstehen.von Johannes Schillo „Russlands Machthaber Wladimir Putin will die westlichen Demokratien destabilisieren und spalten. Wir rufen alle Bürgerinnen und Bürger auf: Treten wir dieser zerstörerischen Strategie durch unseren Zusammenhalt gemeinsam entgegen!“ Das kommt nicht vom Verteidigungsministerium, so heißt es vielmehr im neuesten Aufruf „Für Solidarität und Zusammenhalt jetzt!“, initiiert von der DGB-Gewerkschaft Verdi. Mit drastischen Worten benennt der Arbeitnehmerverein die „gewaltigen Aufgaben, vor denen die Menschheit derzeit steht“, und fordert entsprechende Konsequenzen. Vor allem die „Inflation mit dramatisch steigenden Preisen für Energie und Lebensmittel und höchst unsozialen Folgen“ wird beklagt, also die Verarmung der Bevölkerung im kommenden Winter — und darüber hinaus. Dieses Szenario vom Hungern und Frieren ist nicht neu, es wird ja auch von der Politik offiziell angesagt und gleichzeitig mit trostreichen Vorschlägen flankiert. Darauf bezieht sich die Gewerkschaftsinitiative ganz treuherzig: „Wir brauchen umgehend ein zielgenaues und wirksames Entlastungspaket für die, die bereits heute fast zwei Drittel ihres Einkommens für Lebensmittel, Energie und Miete aufbringen müssen. Gute Vorschläge dazu liegen bereits vor. Sie müssen jetzt politisch umgesetzt und gegenfinanziert werden von denen, die das leisten können und womöglich sogar von den diversen Krisen profitieren.“
Sozialer Frieden versus zunehmende Kriegsmüdigkeit!
Am Tag der Veröffentlichung, dem 1. August, kann Verdi stolz vermelden, dass prominente Vertreter aus Freier Wohlfahrtspflege, Gewerkschaften, Kirche, Wissenschaft und Kultur den Aufruf unterstützen und gemeinsam zur Solidarität mit den Schwächsten der Gesellschaft aufrufen. Zwar ist von denjenigen, die sich in dieser Wirtschaftsordnung an erster Stelle was leisten können — weil sie zu deren Profiteuren gehören —, keiner unter den Erstunterzeichnern, aber dafür ist CDU-Minister Laumann von der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft dabei, somit eine nicht ganz einflusslose Stimme aus der Politik. Für Verdi ist das ein Erfolg — und möglicher Weise sammelt die Gewerkschaft ja auch noch weitere Unterschriften von Hinz und Kunz ein. Doch mit diesem allerbreitesten Konsens fangen die Probleme der Initiative gleich an.
1. Volksgemeinschaft
An wen richtet sich der Aufruf eigentlich? An uns alle, das liegt auf der Hand! Aber ist das die Aufgabe einer Gewerkschaft, sich allgemein an ein Publikum zu wenden und zu guten Taten zu ermuntern? War da nicht etwas Spezielles mit dieser Organisation — mit einem Zusammenschluss, der einst mit kämpferischem Elan als Interessenvertretung für bestimmte Leute gegründet wurde, deren Interessen regelmäßig unter die Räder kommen?Selbst das DGB-Grundsatzprogramm weiß in seiner Präambel noch etwas von der Notwendigkeit zu vermelden, dass „man durch Zusammenhalt wirksame Gegenmacht gegen Arbeitgeber- und Kapitalmacht zu schaffen“ habe. Aber das gilt für die gewerkschaftliche Brauchtumspflege, für schwungvolle Reden am 1. Mai eventuell, nicht für nationale Notstandslagen. Da hat der Dachverband der deutschen Gewerkschaften gleich eine Woche nach Beginn des Ukrainekriegs klare Verhältnisse geschaffen und, wie die Analyse des Gegenstandpunkt festhält, „das proletarische Einverständnis mit der Zeitenwende … verkündet“: Der DGB-Aufruf kommt daher als „eine Ermunterung an die Regierung, den Krieg zu beenden und den Frieden einkehren zu lassen, indem sie genau den militärischen und diplomatischen Kurs fährt, auf den sie die Nation längst eingeschworen hat.“ Der Gegenstandpunkt weist auch darauf hin, dass diese Loyalitätserklärung insofern bemerkenswert ist, als sich hier immerhin Gewerkschaften zu Wort melden; also Vereine, die sich ja seit ihrer Gründung als Teil einer internationalen Bewegung verstehen, „zu deren Ethos der Einspruch gegen Krieg gehört, und die — zwar in denkbar höflicher Zurückhaltung, aber immerhin explizit — daran erinnern, was ihre Klientel im Krieg überhaupt ist: Hauptleidtragende eben“. (Im DGB-Aufruf vom Jahresanfang hieß es: Die „Hauptleidtragenden sind die Zivilbevölkerung und viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer …“) Dass es welche gibt, die die Lasten zu tragen haben, und andere, die — „womöglich“ (!) — von diesem Lastentragen profitieren, klingt zwar bei Verdi ganz am Rande an. Aber das ist gleich wieder vergessen im Blick auf das Große Ganze.
Denn jetzt soll gelten: In der Stunde der Not steht das Volk zusammen. Deutschland kennt keine Klassen, Parteien und Konfessionen mehr, rivalisierende Wohlfahrtsverbände ziehen an einem Strang und Wirtschaftsforscher sehen das genau so wie alle anderen: Die Preissteigerungen kommen, bei elementaren Bedürfnissen wird es Einschränkungen geben, prekäre Verhältnisse breiten sich aus — aber da müssen „wir“ durch.
Das muss doch zu schaffen sein, wenn selbst der Kulturrat mit unterschreibt, somit an seine Leute appelliert, für gute Stimmung zu sorgen. Und die Kirchen werden natürlich das Ihre beitragen und Gebete zum Himmel schicken, dass es nur so kracht.
2. Feindbild
Aber bei der Beschwörung eines gemeinschaftlichen Geistes, einer völkischen Gemeinschaft, die in Opferbereitschaft zutiefst verbunden ist (solange es nur gerecht zugeht!), bleibt es nicht. Der neue Aufruf weiß schon noch von einem Gegensatz, den es auf dem Globus gibt. Nein, natürlich nicht den von Kapital und Arbeit, von oben und unten, von nationalen Führungen und ihrem Fußvolk, sondern den von guten und schlechten Nationen bzw. ihren Führern. Hier redet der Aufruf Klartext: Wir müssen zusammenstehen, um der „zerstörerischen Strategie“ Putins entgegenzutreten. Das ist die Parole fürs Hinterland.
Durchhalten ist jetzt angesagt, um Deutschland in seinem Wirtschaftskrieg zu unterstützen, der laut Außenministerin Baerbock darauf angelegt ist, Russland zu „ruinieren“. Wachstumseinbruch, Produktionsausfälle, Entlassungen, Verarmung — dass soll drüben beim Iwan passieren, je mehr um so besser.
Das müssen „wir“ konsequent weiter verfolgen. Eventuelle Schäden, die hier bei uns anfallen, sind der Preis, der dafür zu zahlen ist. Die deutsche Bevölkerung muss die Lektion lernen, dass sie die Heimatfront in diesem Kriegsgeschehen stellt. Und was in Russland gerade passieren soll, dass die Folgen des westlichen Sanktionsregimes die politische Herrschaft destabilisieren und spalten, darf auf keinen Fall bei uns eintreten. Politik und Mainstream-Medien beschwören hierzulande ja schon die Gefahren, die der Republik im Herbst drohen. Protest gegen Krieg, Aufrüstung und Verelendung soll man sich demnach als ein „Werk des Rechtsextremismus“ vorstellen. Bevor noch der erste Pflasterstein geflogen kommt, steht die Republik also schon in Hab-Acht-Stellung. Und alle Verantwortlichen wissen: Wer jetzt noch gegen die nationale Formierung die Klappe aufmacht, ist im Grunde ein Fall für die Extremismusbekämpfung.
3. Wohlstand und Notstand
Eine Sache geht in der Einschwörung aufs Szenario vom heißen Herbst bzw. kalten Winter ebenfalls unter: das hausgemachte „Armutsproblem“, die legendäre soziale Frage, die in der sozialen Marktwirtschaft längst ausgestorben war, mit der Finanzkrise und der rotgrünen Armutsberichterstattung dann aber wieder öffentliche Anerkennung erlangte. Seitdem ist Armutsforschung, die zeitnahe Beobachtung des sozialen Elends und die Suche nach Möglichkeiten, Abhilfe zu schaffen, eine anerkannte Disziplin. Dass hier kontinuierlich Bericht erstattet, das aktuelle Ausmaß nachgezählt und das darin liegende Gefahrenpotenzial ermittelt wird, gehört mittlerweile zu guten Ton der Republik. So legt der Paritätische Wohlfahrtsverband pflichtgemäß jedes Jahr seinen Armutsbericht vor, der dann in der Öffentlichkeit anerkennend aufgenommen wird. Im Sommer dieses Jahres war es aber anders, wie Suitbert Cechura in seinem Beitrag „Akzeptiertes Elend“ in der Jungen Welt am 3. August ausführlich dargelegt hat. Der Bericht wurde dieses Mal ganz forsch zurückgewiesen. Als Stein des Anstoßes galt gleich die erste und zentrale Aussage des Sozialverbandes, dass die Armut im Lande bereits vor Beginn des Ukrainekriegs ein Rekordhoch erreicht hat: „Laut Paritätischem Armutsbericht 2022 hat die Armut in Deutschland mit einer Armutsquote von 16,6 Prozent im zweiten Pandemie-Jahr (2021) einen traurigen neuen Höchststand erreicht. 13,8 Millionen Menschen müssen demnach hierzulande derzeit zu den Armen gerechnet werden, 600.000 mehr als vor der Pandemie. Der Paritätische Wohlfahrtsverband rechnet angesichts der aktuellen Inflation mit einer weiteren Verschärfung der Lage …“ (Der Paritätische — Spitzenverband der freien Wohlfahrtspflege, Armutsbericht 2022). „Rechnet mit“ ist gut! Die Politik verkündet ja offiziell, dass es so kommen wird. Apropos Rechnen ist aber etwas anderes interessant: Armut ist für die Statistik eine rechnerische Definitionsfrage; in der EU fallen die Menschen unter die offizielle Armutsgrenze, die nur Zweidrittel des mittleren Einkommens erzielen. Nun kann die Sozialstatistik diesen Wert auf verschiedene Weise berechnen — je nachdem, ob sie vom Durchschnittswert oder vom Median ausgeht. In ersterem Fall würde das eine höheres „Normaleinkommen“ ergeben, somit auch eine höhere Zahl an Armutsbevölkerung. So haben die EU-Statistiker sich an der Stelle kluger Weise für die zweite Lösung entschieden. Der Armutsbericht des Paritätischen ist so ehrlich, über diese Rechnungsweise aufzuklären: „Der erste Armutsbericht der Bundesregierung aus dem Jahre 2001 wies noch beide Armutsquoten aus, die mit dem arithmetischen Mittel und die mit dem Median errechnete, und tatsächlich lag die erstere (10,2 Prozent) deutlich höher als die letztere (6,2 Prozent). Seitdem wird nur noch der Median ausgewiesen“ (Armutsbericht).Übrigens gelten entsprechend der EU-Konvention Menschen, die nur über 60 Prozent des so errechneten mittleren Einkommens verfügen, bloß als „armutsgefährdet“. Was ebenfalls eine bemerkenswerte definitorische Leistung darstellt (vgl. Warum die Armutsdefinition den Blick auf die Realität verzerrt)! Der betreffende Personenkreis ist demnach nicht wirklich, sondern nur möglicherweise später einmal arm. Aber das muss man dem Paritätischen lassen: dieser üblichen Betrachtungsweise möchte er sich nicht anschließen. Er beharrt angesichts der Höhe der Beträge, die diesen Menschen zur Verfügung stehen, darauf, dass sie arm sind.Das ging als ernsthaft vorgetragene Sorge bisher durch. In diesem Jahr hat aber der besagte Armutsbericht im „Qualitätsjournalismus“ Einspruch, ja richtige Ablehnung ausgelöst. Es wurde die Frage aufgeworfen, ob der Befund überhaupt zutrifft und ob es nicht auch andere Sichtweisen gibt. Dass das „Durchschnittseinkommen nach einem komplizierten Verfahren als Pro-Kopf-Einkommen ermittelt“ wird (WAZ, 14. Juli 2022), wurde dem Publikum gleich im Blick darauf mitgeteilt, dass hier mit statistischen Tricks gearbeitet wird. Dann mischten sich auch noch Fachleute ein, so vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW), und das Publikum erfuhr von den Schwierigkeiten, soziale Daten zu erfassen. Die SZ hatte ebenfalls Experten auf ihrer Seite und stellte schon in den Überschriften klar, worauf man bei den Meldungen zur Armutslage zu achten habe: „Wer wirklich arm ist — 13,8 Millionen Arme in Deutschland — diese Zahl hat kürzlich das Land aufgeschreckt. Doch stimmt sie überhaupt?“ (SZ, 15. Juli 2022). Um den Zweifel zu untermauern ließ das Blatt mehrere Koryphäen aufmarschieren, u.a. einen Menschen aus dem Caritasverband, also der konfessionellen Konkurrenz des Paritätischen. Der wechselte gleich das Thema und fragte, ob solche Alarmmeldungen nicht das Gespräch mit den politisch Verantwortlichen erschweren würden. Denen darf man ja nicht zu kritisch begegnen, will man mit ihnen im Geschäft bleiben! Die Experten, die WAZ und SZ aufboten, passten dagegen mit ihren moderaten Tönen besser zur neuen Lage. Erstaunlich nur: Sie schürten Zweifel an der Zählweise, indem sie, wie Cechuras Analyse im Einzelnen darlegt, den Unterschied zwischen Median und Mittelwert verdrehten und in ihren Beispielen stets die Rechnungsweise des Mittelwerts zur Beweisführung bemühten. Das statistische Verfahren, auf das sich der inkriminierte Armutsbericht stützt, geht dagegen vom Median aus. Mit ihm wird die ärmere Hälfte der Bevölkerung von der reicheren abgegrenzt und nur die ärmere Hälfte als Bezugsgröße für die Berechnung von Armutsgefährdung herangezogen. Alles in allem war es dann für die SZ klar, dass solche Armutsberichterstattung schon vom Ausgangspunkt her ein schiefes Bild unserer Gesellschaft zeichnet, in der es so schlimm doch gar nicht zugeht: „Die Definition geht auf eine EU-Konvention zurück, sie ist verbreitet, aber durchaus umstritten. So bliebe die Zahl der Armen gleich, auch wenn sich plötzlich für alle das Einkommen verdoppeln würde. Überspitzt gesagt: Unter lauter Filetessern ist das Schnitzel auf dem Teller ein Beleg für Armut. Gleichzeitig würde die Armut abnehmen, wenn Gutverdiener einen wirtschaftlichen Einbruch erleiden würden, ohne dass die Niedrigverdiener auch nur einen Cent mehr in der Tasche hätten. Was zählt, ist die Ungleichheit.“ Das Volk von Filetessern soll sich also nicht so haben!
Im nationalen Gemeinschaftsgefühl vereint
Der letzte Hinweis der SZ stimmt natürlich: Es geht um Ungleichheit, um relative Armut. Es geht ja gerade um den Ausschluss von Reichtum, der vorhanden ist, aber nicht in den Händen derer, die ihn erarbeitet haben, sondern bei denen, die als Privateigentümer der Produktionsmittel über den Ertrag dieser wunderbaren Wirtschaftsordnung verfügen. Als Ideologe der Marktwirtschaft will der SZ-Autor allerdings nicht gesehen werden, sondern eher als einer, der sich wirklich um das Los der Armen kümmert: „Die Debatte um Armut wird hitzig geführt. Wer die Datengrundlage infrage stellt, gilt schnell als Mitglied einer neoliberalen Teufelsgruppe, als Verharmloser von Armut, die es ja gibt. Armut ist ein Problem in Deutschland. Und sie wächst durch die Preissteigerungen … Doch nur wer die Armen zielgenau benennt, kann ihnen auch zielgenau helfen, etwa Obdachlosen oder Alleinerziehenden — statt Geld über Senioren auszuschütten, die in ihrem Haus trotz magerer Rente ganz gut zurechtkommen.“ Wenn um die zielgenaue Erfassung des Anwachsens von Armut an der einen oder anderen Stelle gestritten wird, ist eins klar: Es geht gar nicht um Ursachenforschung und die Beseitigung von Armut, sondern um den gerechten Umgang mit ihr und um die Frage, was den Betroffenen zuzumuten ist. Für die Wohlfahrtsverbände ist die ständig existierende Armut die Geschäftsgrundlage, da sie überwiegend im Auftrag des Staates und mit dessen Bezahlung die Betreuungsleistungen für die Betroffenen erbringen. Der Verweis auf wachsende Armut ist daher auch immer das Anmahnen zusätzlicher Leistungen für die Klientel, die man betreut. Wie Cechura in seiner Analyse des neuesten Armutsdiskurses der Republik festhält, ist aber selbst dieses wohlmeinende Anmahnen einer Sozialfürsorge jetzt ungehörig. In einer Zeit, in der allen Bürgern eine Verarmung offiziell mit allen einschlägigen Durchhalteparolen und Warnungen vor „Kriegsmüdigkeit“ angesagt wird, ist offenbar der Verweis auf die steigende Zahl der Armen, die es auch ohne „Putins Krieg“ gibt, unangebracht. Das stört das feststehende Putin-Feindbild!
Man soll die wachsende Armut eben nicht als Produkt dieser Gesellschaft, sondern als Ergebnis einer nationalen Notlage betrachten. Das deutsche Volk soll — wie im Steckrübenwinter des Ersten und im Winterhilfswerk des Zweiten Weltkriegs — das Hungern und Frieren als Herausforderung ans Gemeinschaftsgefühl nehmen und nur noch den Feind im Äußern kennen!
Es soll unabhängig von der sozialen Stellung zusammenstehen und Verzicht üben. Und wer das noch nicht aus den Nachrichten wusste und die Reden von Scholz oder Habeck verpasst hat, bekommt es jetzt noch mal schriftlich von der Gewerkschaft und darf, wenn er einen Namen hat, unterschreiben.
Johannes Schillo ist Sozialwissenschaftler und Journalist. Er war Redakteur von Fachzeitschriften der Weiterbildung und veröffentlicht regelmäßig zu Fragen aus Bildung und Kultur. Von ihm erschien das Buch „Die AfD und ihre alternative Nationalerziehung“.
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Dieser Beitrag erschien zuerst am 23. August 2022 bei rubikon.news
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Bildquelle: Karen Poghosyan1/ shutterstock
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