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Angespannte Ruhe in Syrien | Von Rüdiger Rauls

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Nach den turbulenten Ereignissen der letzten Wochen scheinen sich die Lage und die Stimmungen in und um Syrien zu beruhigen. Alle politischen Kräfte sind vollauf damit beschäftigt, die Möglichkeiten der eigenen Einflussnahme unter den veränderten Bedingungen auszuloten.

Ein Kommentar von Rüdiger Rauls.

Unklare Verhältnisse

Die größten Vorteile aus den Entwicklungen der vergangenen Tage scheinen zuvorderst die Türkei und mit ihr die Kämpfer der Nationalen Syrischen Armee (SNA) errungen zu haben. Die Erfolge haben sich auch in Gebietsgewinnen niedergeschlagen, die sie den Kurden hatten entreißen können. Auch Israel hat die Gunst der Stunde zu nutzen gewusst, indem es die Ausrüstung der syrischen Armee weitgehend vernichtet hat und sich weitere Landgewinne auf den Golan-Höhen verschaffen konnte. Sie sind bisher die eindeutigen Gewinner der Entwicklungen.

Zwar ist den Rebellen aus der Region Idlib durch den Sturz Assads die Macht in Syrien wie ein reifer Apfel in den Schoß gefallen, aber das hat noch wenig zu bedeuten und darf schon gar nicht als Zeichen eigener Stärke missverstanden werden. Vielmehr zeigt es nur, wie weit die Macht Assads bereits ausgehöhlt war. Die HTS (Hayat Tahrir al-Scham) muss sich erst einmal in dieser Position festigen. Fürs Erste wissen sie noch nicht, auf welche Kräfte im Land sie sich verlassen können.

Die schnelle Eroberung von Damaskus und der unerwartete Sturz von Assad haben viele Kräfte in der syrischen Gesellschaft überrascht. Wer weiß, ob sich die verbliebenen Teile der Armee den neuen Herrschern unterordnen werden? Fraglich ist auch, ob der neue Machthaber in Damaskus, Ahmad al Sharaa, mit Kampfnamen al-Golani, seine Ankündigung wird durchsetzen können, nicht zuzulassen,

„dass es im Land Waffen außerhalb staatlicher Kontrolle gibt“(1) .

Nach seinen Plänen sollen alle Kampfverbände ihre Waffen niederlegen und sich in die syrische Armee eingliedern lassen. Zum Verteidigungsminister wurde jedoch kein bisheriges Mitglied der syrischen Armee ernannt, sondern mit Murhaf Abu Qasra der Organisator der HTS-Offensive. Das könnte für neuen Konfliktstoff sorgen, nicht nur unter den bewaffneten Kräften selbst sondern auch im Verhältnis zu den Nachbarn. Denn damit würde das verbliebene Militärmaterial gerade jenen Kräften unterstellt, denen die israelische Armee durch ihre Bombardements den Zugriff darauf hatte entziehen wollen.

Wenn auch die HTS über die politische Macht in Damaskus verfügt, so bedeutet das nicht, dass sie sich in einer gefestigten Position befindet. Die Haltung der Bevölkerung ist noch vollkommen unklar, und im Moment scheinen sich die Kämpfer aus Idlib auf nichts weiter verlassen zu können als die eigenen Kräfte. Insofern steht sie sogar weniger stabil da als Assad vor seinem Sturz. Der konnte immerhin davon ausgehen, dass die Armee auf seiner Seite steht, auch wenn diese ihn im Stich gelassen hatte, als es drauf ankam. Ob die Armee aber auf der Seite der HTS steht, ist im Gegensatz dazu von vorneherein eher unklar, vielleicht sogar zweifelhaft. Zudem wusste Assad die Russen und den Iran hinter sich.

Schwache Sieger

Während sich die Russen neutral und abwartend verhalten, stehen die Iraner den neuen Machthabern ablehnend gegenüber. Von diesen beiden dürfte für die Kämpfer aus Idlib vorerst keine Unterstützung zu erwarten sein. Die Türken werden vermutlich jeden Schritt der Regierenden in Damaskus unterstützen, der ihren Interessen dient. Das ist die Rückführung der Flüchtlinge nach Syrien und die Zerschlagung der kurdischen Kampfeinheiten. Der türkische Einfluss ist stark und ohne deren Wohlwollen wird Ahmad al Sharaa wenig von seinen Plänen in Syrien umsetzen können.

Das bedeutet aber für die HTS, dass sie von der Türkei nur dann mit Unterstützung rechnen kann, wenn sie gegen die kurdischen Kräfte vorgeht. Das wäre die logische Folge, wenn al Sharaa seinem Anspruch gerecht werden will, alle bewaffneten Kräfte außer der regulären Armee zu entwaffnen und illegale Waffen in Syrien einzusammeln. Weder die kurdischen Kräfte und noch weniger die von der Türkei unterstützte SNA dürften dem Vorhaben der HTS bereitwillig und widerspruchslos Folge leisten.

An dieser Aufgabe hatte sich aber schon Assad die Zähne ausgebissen, dem immerhin die russische Luftwaffe Rückendeckung gegeben hatte. Ob die Türken oder die Amerikaner oder gar die Israelis diese Rolle zugunsten der HTS übernehmen werden, ist vollkommen offen. Sie selbst jedenfalls verfügt über keine Luftwaffe, die die Kontrolle über den syrischen Luftraum ausüben kann. Sie wird also in einem militärisch ausgetragenen Konflikt - mit wem auch immer - Spielball wechselnder Interessen bleiben, wenn sie sich nicht auf genügend starke Kräfte am Boden verlassen kann.

Ob die Stärke der HTS-Kämpfer solchen Herausforderungen gewachsen ist, kann im Moment nicht eingeschätzt werden. Aber es ist ein Unterschied, ob man in einer Blitzaktion ein schwaches, territorial begrenztes Regime mit wenig Unterstützung in der Bevölkerung überrumpeln kann oder ob man die nationale Souveränität über ein wesentlich größeres Staatsgebiet wieder errichten will. Noch weniger können Aussagen darüber gemacht werden, auf welche der nicht-syrischen Kräfte Israel, Russland, Iran, die Türkei und die USA sich die HTS stützen kann, wenn es hart auf hart kommt.

Der Iran hat fürs erste seinen Einfluss weitgehend eingebüßt und sich mehr oder weniger aus innersyrischen Konflikten zurück gezogen. Das bedeutet aber nicht, dass es so bleibt, sobald „sich in Syrien wieder eine starke (Widerstands-) Gruppe bilden wird“ (2). Das letzte Wort in dieser Angelegenheit scheint nach Ansicht des Obersten Iranischen Führers, Ali Khamenei, noch nicht gesprochen zu sein, zumal bedeutende Kräfte der sogenannten Zivilgesellschaft in Syrien sich noch gar nicht zu dem Machtwechsel geäußert haben.

Zusätzlich versuchen nun auch noch die Europäer, ihr Süppchen auf den durch den Sturz Assads neu entstanden Verhältnissen zu kochen. Sie, die in den vergangenen Jahren kaum eine Rolle im vorderasiatischen Raum spielten, wollen jetzt die veränderten Bedingungen zu ihrem Vorteil nutzen. Einerseits wollen sie sich selbst wieder ins Spiel bringen und Einfluss gewinnen, andererseits wollen sie die Russen aus der Region verdrängen und deren Stellung in Nordafrika und der Sahelzone schwächen. Die Russen halten sich weitgehend bedeckt und scheinen ihren Einfluss im Hintergrund wirken zu lassen.

Türkei gegen USA

Augenblicklich dürfte die größte Gefahr für die zerbrechlichen Verhältnisse in Syrien von der Zuspitzung des Konfliktes zwischen der Syrischen Nationalen Armee mit der Türkei im Hintergrund und den kurdischen Demokratischen Kräfte Syrien (SDF) ausgehen, hinter denen die USA stehen. Dabei sind die USA in einer unbequemen Lage, vielleicht der politisch unbequemsten aller Beteiligten. Sie müssen ständig zwischen den Interessen der Kurden und denen des NATO-Partners Türkei versuchen, einen Ausgleich zu finden. Das ist nicht einfach, weil diese sich grundsätzlich widersprechen.

Die Türkei ist nach den USA der zweitgrößte Truppensteller der NATO und inzwischen der einzige Partner, der in der zerbrechlichen Lage in Westasien und dem Vorderen Orient noch über Einfluss und eine gewisse Gestaltungskraft in westlichen Sinne verfügt. Zudem sichert sie die Ostflanke des Bündnisses besonders gegenüber Russland und kontrolliert die Meerengen zwischen dem Mittelmeer und dem Schwarzen Meer. Insofern können die USA und die NATO insgesamt nicht auf das Wohlwollen der Türkei verzichten.

In Syrien sind die USA und der politische Westen weniger auf die Türkei angewiesen als vielmehr auf die kurdischen Kampfverbände. Diese hatten ihnen im Irakkrieg bereits gute Dienste geleistet. Die USA hatten den Kurden Autonomie zugesagt und gesichert, womit sie den kurdischen Wünschen nach der Schaffung eines eigenen Nationalstaates Hoffnung und Auftrieb gaben. Die Kurden waren der Bildung eines eigenen Staat noch nie so nahe.

Dafür konnten die USA in diesen autonomen Gebieten Stützpunkte und Flugplätze anlegen, deren Sicherheit gewährleistet war durch die wohlwollende Haltung der Kurden und durch deren Abhängigkeit von der Anwesenheit des amerikanischen Militärs. So lange die USA Streitkräfte in den Kurdengebieten unterhalten, können diese sicher sein vor den Versuchen der Nachbarstaaten, der kurdischen Selbstverwaltung ein Ende zu setzen. Bei diesen Bemühungen kann allein die Türkei sich sehr sicher sein, dass die USA wegen der Kurden keinen Konflikt mit ihr eingehen werden.

Im Zwiespalt zwischen den kurdischen und den türkischen Interessen haben sich die USA immer auf die Seite der Türkei gestellt. So mussten auch nach dem Sturz von Assad die Kämpfer der kurdischen SDF auf Geheiß der Amerikaner sich aus Gebieten zurückziehen, die bisher unter ihrer Kontrolle gestanden hatten, und diese der Nationalen Syrischen Armee (SNA) überlassen. Dass die Kurden diese Gebiete seinerzeit unter hohem Blutzoll von den Milizen des Islamischen Staates befreit hatten, wiegt nicht mehr viel bei den Amerikanern.

Sie scheinen das Kurdenproblem am liebsten schnell zugunsten der Türkei lösen zu wollen, wäre da nicht das Problem mit den Gefangenen des Islamischen Staats.

„Die SDF haben die Aufsicht über etwa 10.000 Islamisten in gut einem Dutzend Gefängnissen und kontrollieren das Lager al-Hol, in dem rund 50.000 Angehörige, vor allem Frauen und Kinder, von IS-Kämpfern leben“(3).

Das ist das Druckmittel der Kurden gegenüber der noch im Amt befindlichen amerikanischen Regierung. Sie haben bereits in den US-Medien damit gedroht,

„dass sie die Gefängnisse mit IS-Insassen nicht länger schützen könnten, sollten die [SNA-] Milizen weiter vorrücken“(4).

Den Kampf gegen die SNA zu führen und gleichzeitig die Gefängnisse zu bewachen, würde die Einheiten der SDF überlasten.

Die Sorge der Biden-Regierung ist groß, dass die IS-Kämpfer,

„die Wirren nach dem Sturz Assads nutzen könnten, um sich in der Wüste neu zu formieren“ (5).

Das würde die Situation für die amerikanischen Streitkräfte in Syrien deutlich verschlechtern, zumal der designierte Präsident Trump schon deutlich gemacht hat, dass er wenig Neigung verspürt, sich weiter in Syrien zu engagieren:

„Das ist nicht unser Kampf“ (6).

Bei einem eilig anberaumten Treffen mit dem türkischen Präsidenten Erdogan hat US-Außenminister Antony Blinken die Türkei aufgefordert, nach dem Sturz von Assad nun gegen die „Terrororganisation Islamischer Staat (IS) vorzugehen“ (7). Die USA scheinen also bereit zu sein, die Unterstützung für die Kurden fallen zu lassen, wenn die Türkei den Kampf gegen den IS fortsetzt.

Erdogan hat zugesagt,

„dass die Türkei präventive Maßnahmen gegen alle Terrororganisationen ergreifen werde. Das bezieht sich vor allem auf die kurdischen Milizen in Syrien“ (8).

Für die Kurden dürften schwierige Zeiten anzubrechen, wenn die Unterstützung der Amerikaner nachlässt. Nach anfänglichem Jubel im politischen Westen über Assads Sturz scheint dieser besonders den USA inzwischen die größten Sorgen zu bereiten.

 Quellen und Anmerkungen

(1) Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.12.2024: Fidan bei Sharaa

(2) ebenda

(3) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 15.12.2024: Im staatsfreien Vakuum

(4) ebenda

(5) ebenda

(6) ebenda

(7) FAZ vom 14.12.2024: USA suchen Ankaras Hilfe in Syrien

(8) ebenda

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse.

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Bildquelle: Hadrian / Shutterstock.com


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