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Auf der falschen Seite | Von Tilo Gräser

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Ein Verlierer des Krieges in der Ukraine steht schon fest: Die Bundesrepublik Deutschland. Deren Regierung unter Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) verhält sich wie ein Vasall der herrschenden Kreise der USA, zum Schaden des eigenen Landes mit seiner Bevölkerung und Wirtschaft. Das ist anscheinend gewollt.

Ein Kommentar von Tilo Gräser.

Der Krieg in der Ukraine ist mehr als nur ein Krieg des US-geführten Westens gegen Russland. „In diesem Krieg geht es um Deutschland.“ Das hat der französische Historiker und Politikwissenschaftler Emmanuel Todd in einem am 5. Januar 2023 veröffentlichen Interview mit der Schweizer Zeitung „Die Weltwoche“ klargestellt. Todd wurde bekannt, als er 1976 den Untergang der Sowjetunion vorhersagte und später das Buch „Weltmacht USA: Ein Nachruf“ (2004 auf Deutsch) veröffentlichte.

Sein Interview mit der „Weltwoche“ ist brisant und wird wahrscheinlich gerade deswegen von den etablierten Medien hierzulande ignoriert. Denn er widerspricht ganz klar der Legende, dass die USA die „Schutzmacht“ der Bundesrepublik und Europas in Gestalt der Europäischen Union (EU) sei:

„Deutschlands Tragödie besteht darin, dass es noch immer daran glaubte, von den Vereinigten Staaten beschützt zu werden.“

Er erinnert daran, dass der US-Geostratege und -Politiker Zbigniew Brzezinski in seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ (1997 auf Deutsch) Eurasien als „großes Schachbrett“ bezeichnete, auf dem die USA ihre Vorherrschaft sichern. Dazu müsse die Annäherung zwischen Russland und China verhindert werden – und die an Deutschland und die von ihm dominierte EU.

Rivale für die USA

„Die Finanzkrise von 2008 hat deutlich gemacht, dass Deutschland mit der Wiedervereinigung zur führenden Macht in Europa wurde und damit auch ein Rivale der USA. Bis 1989 war es politisch ein Zwerg. Nun ließ Berlin seine Bereitschaft erkennen, sich mit den Russen einzulassen. Der Kampf gegen diese Annäherung wurde zu einer Priorität der amerikanischen Strategie.“

Deshalb ist für Todd nicht nur klar, dass die USA das deutsch-russische Gasabkommen torpedierten und für den Angriff auf die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 verantwortlich sind.

Auch die Nato-Osterweiterung sei „nicht in erster Linie gegen Russland gerichtet, sondern gegen Deutschland. Deutschland, das seine Sicherheit Amerika anvertraut hatte, wurde zur Zielscheibe der Amerikaner.“

Für den französischen Historiker war der russische Einmarsch in die Ukraine „eine defensive Invasion“. Der Westen habe Russland provoziert. Dessen Nachbarland sei durch die Kiewer Zusammenarbeit mit den USA und Großbritannien „faktisch zum Nato-Mitglied“ gemacht worden.

Seine Analyse der wahren Verhältnisse in der Nato:

„Sie besteht aus der Achse Washington–London–Warschau–Kiew. Deutschland und Frankreich sind ihre Juniorpartner, mit ihrer vorherrschenden Stellung in Europa ist es vorbei.“

Die Macht, die gegenüber den Deutschen vorgab, sie zu beschützen, habe dagegen

„nichts unversucht gelassen, um die vorherrschende Stellung Deutschlands in Europa zu zerschlagen“.

Todd sagte, dass Berlin „nur zu genau“ wisse, dass Nord Stream von den USA gemeinsam mit den Briten und Polen zerstört wurde. „Aber sie können es nicht sagen. In Tat und Wahrheit sind die Deutschen von den Amerikanern angegriffen worden. Man wollte sie vom russischen Gas abkoppeln.“

Aus seiner Sicht werde Deutschland angesichts des Verrats der USA an seinen Interessen „kognitiv überfordert“. Und:

"In diesem Krieg hat man den Eindruck, als wolle die Welt Deutschland in den Wahnsinn treiben.“ Er wünsche sich, „dass die Deutschen begreifen würden: Die Seite des Guten, auf der sie stehen möchten, ist diesmal nicht jene der Vereinigten Staaten. Das Gute bedeutet: diesen Krieg beenden.“

Von der Krise zum Weltkrieg

Aus Sicht von Todd setzt die russische Führung um Wladimir Putin auf den langfristigen Niedergang der USA und ihrer globalen Dominanz. Das werde von Washington mit „Druck auf seine alten Protektorate“ kompensiert: „Die Kontrolle über Europa – vor allem Deutschland – und Japan ist zu seiner Priorität geworden. Gegen seinen Krieg im Irak hatten Chirac, Schröder und Putin an einer gemeinsamen Pressekonferenz protestiert. Seither hat Amerika das erreicht, was man auf Deutsch die ‚Gleichschaltung‘ Europas nennt.“ Der Rest der Welt aber halte es mit Russland, das nicht mehr Angst und Schrecken verbreite wie einst die Sowjetunion: „Heute steht Russland für eine konservative Weltsicht und verteidigt die Souveränität der Völker und Nationen, die alle ein Recht auf Existenz haben.“

Der Historiker widerspricht den massenmedialen und politischen Behauptungen im US-dominierten Westen über die Ursachen des Krieges und die Ukraine als „angehende Demokratie“, die verteidigt werden müsse. „Dieser Krieg hätte nicht ausbrechen dürfen“, so Todd, der hinzufügte: „Wie alle Kriege.“ Für ihn haben die USA den Krieg verloren, wenn Russland ihn übersteht und weiter und immer enger mit China und Indien zusammenarbeitet. Die USA würden dann auch ihre bisherigen Verbündeten verlieren.

„Deshalb werden Amerika und die Nato weitermachen. Und darum handelt es sich um einen Weltkrieg, der andauern wird. Seine hauptsächlichste Ursache ist die Krise des Westens.“

Todd widerspricht im „Weltwoche“-Interview auch anderen gängigen Vorstellungen. So, wenn er daran erinnert, dass Japan und Deutschland nur deshalb zum Westen gezählt werden, weil sie militärisch erobert wurden. Während die Japaner sich dessen bewusst seien, würden die Deutschen so tun, als gehörten sie zum Westen. Doch durch den Krieg in der Ukraine sei die Bundesrepublik als „führende europäische Wirtschaftsmacht wieder zu einem verängstigten, bevormundeten Protektorat geworden“.

Der Westen befinde sich in einer „Spirale der Selbstzerstörung“, meint der Historiker. „Europa gerät wieder unter die amerikanische Herrschaft.“ Und er warnt angesichts des Krieges des Westens gegen Russland in der Ukraine: „Wenn er nicht gestoppt wird, werden ihn alle verlieren.“

Urangst der USA

Was Todd in dem Interview sagt, ist bemerkenswert. Dabei sagt er eigentlich nichts Neues, sondern wiederholt, was andere schon zuvor über die US-Dominanz gegenüber der EU und Deutschland und deren Hintergründe sagten. Wichtig ist dabei, dass die Bundesregierung nicht das arme Opfer ist, sondern willfähriger und nützlicher Handlanger derjenigen, die US-Interessen und -Strategien durchsetzen.

Und diese sind mehr als einhundert Jahre alt: „Das Hauptinteresse der US-Außenpolitik während des letzten Jahrhunderts, im Ersten und Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg waren die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland. Vereint sind sie die einzige Macht, die uns bedrohen kann. Unser Hauptinteresse war, sicherzustellen, dass dieser Fall nicht eintritt.“ Das sagte der US-Geostratege und -Analytiker George Friedman am 4. Februar 2015 vor dem „Chicago Council on Global Affairs“ in Bezug auf die Vorgänge in der Ukraine.

Er sprach von der „Urangst der USA“,

„dass deutsches Kapital und deutsche Technologien sich mit russischen Rohstoffen und russischer Arbeitskraft verbinden – eine einzigartige Kombination, vor der die USA seit Jahrhunderten eine Höllenangst haben.“

Die russischen Motive und Verhaltensweisen seien klar und bekannt, wogegen die deutsche Position für den Geostrategen als unsicher galt:

„Wer mir nun sagen kann, was die Deutschen tun werden, der kann mir auch sagen, wie die Geschichte der nächsten zwanzig Jahre aussehen wird. Aber leider haben sich die Deutschen noch nicht entschieden. Das ist immer das Problem Deutschlands.“

Dem wurde inzwischen nachgeholfen, so erfolgreich, dass die Bundesregierung gegen die Interessen des eigenen Landes handelt.

Die Rolle Großbritanniens

Die US-Strategie, die sich derzeit zeigt, wurde unter anderem vor dreißig Jahren klar beschrieben: Die sogenannte Wolfowitz-Doktrin formulierte das Ziel, den Status der USA als einzige Supermacht mit allen Mitteln zu behaupten. Die USA müssten nach dem Ende des Kalten Krieges den Aufstieg von Regionalmächten verhindern, so 1992 der Namensgeber Paul Wolfowitz, einflussreicher US-Politiker und zuletzt Weltbank-Präsident. Namentlich nannte er dabei Deutschland und Japan. Seine Ideen wurden angeblich verworfen, fanden sich aber in den folgenden Nationalen Sicherheitsstrategien der US-Regierung.

Eine wichtige Rolle bei der Sicherung der globalen US-Dominanz spielt bis heute Großbritannien. Friedman verwies 2015 darauf, dass eine Seemacht zur Sicherung der eigenen globalen Dominanz verhindern muss, dass andere Staaten mächtige, feindliche Flotten aufbauen: „Der Weg, den die Briten gegangen sind, um sicherzustellen, dass keine europäische Macht die Flotte bauen konnte, ist, dass die Europäer einander bekämpften.“

Das bestätigt, was der italienische Ökonom Guido Giacomo Preparata 2005 in seinem Buch „Conjuring Hitler“ (auf Deutsch 2010: „Wer Hitler mächtig machte“) schrieb: Schon seit etwa 1900 sei für die britischen Eliten klar gewesen, niemals zuzulassen, dass Deutschland und Russland zusammenkommen, egal in welcher Form – weil ein verbundenes Eurasien mit seinem Potenzial „für die Vorherrschaft des britischen Empires eine tödliche Bedrohung“ darstellen würde. Preparata, der viele Jahre in den USA gelebt und gearbeitet hat, stellte fest:

„Die gegenwärtige Geopolitik der Vereinigten Staaten ist eine unmittelbare und völlig schlüssige Fortsetzung der alten imperialen Strategie Großbritanniens.“

Im Zusammenhang damit verwies er auf die „Herzland“-Theorie, die der britische Geograf und Ökonom Halford Mackinder schon 1904 in einem Text entwarf. Zu den Grundaussagen gehörte, dass es für das britische Empire notwendig sei zu verhindern, dass Deutschland und Russland sich annähern. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs schrieb Mackinder:

»Wer Mitteleuropa beherrscht, hat die Befehlsgewalt über das ›Herzland‹ (Russland); wer das Herzland beherrscht, hat die Befehlsgewalt über die ›Weltinsel‹ (Eurasien); wer die Weltinsel beherrscht, hat die Befehlsgewalt über die gesamte Welt.«

Geistige Erben von Mackinder

Aus Sicht von Preparata ist das US-Imperium der geistige Erbe des britischen Empires: „Tatsächlich wurde die internationale Politik der US-Regierung bis heute nahtlos und widerspruchslos im Geiste der Visionen Mackinders geführt.“ Das bestätigte Brzezinski 1997 in seinem Buch über „Die einzige Weltmacht“ nicht nur, als er Mackinders „geopolitische Pionierarbeit“ hervorhob. Er bezeichnete Eurasien als „das weltweit wichtigste Spielfeld“, auf dem die geopolitischen US-Interessen langfristig gesichert werden müssten, in dem die dortigen Verhältnisse unter Kontrolle gehalten werden. Brzezinski beschrieb „drei große Imperative imperialer Geostrategie“:

„Absprachen zwischen den Vasallen zu verhindern und ihre Abhängigkeit in Fragen der Sicherheit zu bewahren, die tributpflichtigen Staaten fügsam zu halten und zu schützen und dafür zu sorgen, dass die ‚Barbarenvölker‘ sich nicht zusammenschließen.“

Ökonom Preparata machte in seinem Buch darauf aufmerksam, dass sich die Visionen Mackinders eigentlich gegen Deutschland richteten, da es „die dynamische Hälfte der deutsch-russischen Bedrohung“ darstelle. Und weil „es leichter von einer Entente von Nachbarn umzingelt und unter Blockade gesetzt werden konnte“. Hauptziel des britischen Empires sei es gewesen, den aufkommenden Konkurrenten Deutschland zu zerstören. Preparata führt in seinem Buch zahlreiche Belege für die dabei angewandten politischen, diplomatischen und wirtschaftlichen Manipulationen der britischen Eliten vor dem Ersten und vor dem Zweiten Weltkrieg an, einschließlich der Versailler Verträge.

Die Ukraine spielt in den geostrategischen Überlegungen und ihren Umsetzungen eine wichtige Rolle.

Sie sei „ein neuer und wichtiger Raum auf dem eurasischen Schachbrett, ist ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt, weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Umwandlung Russlands beiträgt“, schrieb Brzezinski 1997. „Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr.“

Doch sie ist eben nur Mittel zum Zweck und wird als Schlachtfeld benutzt für die strategischen Ziele des westlichen Imperiums.

„Imperiale Strategeme sind langwierige Angelegenheiten“, stellte der Ökonom Preparata fest und fügte hinzu: „Die Befehlshaber der Weltaggression messen ihre Erfolge oder Misserfolge in Zeitspannen, deren Maßeinheit die Generation ist.“ Das brisante „Weltwoche“-Interview mit dem französischen Historiker Todd belegt das und sollte von vielen aufmerksam zur Kenntnis genommen werden, die versuchen zu verstehen, was wir derzeit erleben.

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Dies war ein Exklusiv-Beitrag aus dem Magazin “VIER – die vierte Gewalt” – ab 7. Februar 2023 mit einer neuen Ausgabe an den Kiosken zu erwerben.

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle: MillaF / shutterstock


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