Die Spaltung in geimpfte und ungeimpfte Menschen im Rahmen einer Zweiklassengesellschaft wird erst der Anfang sein. Ein Kommentar von Sibylle Zieburg.
Hinweis zum Beitrag: Der vorliegende Text erschien zuerst im „Rubikon – Magazin für die kritische Masse“, in dessen Beirat unter anderem Daniele Ganser und Hans-Joachim Maaz aktiv sind. Da die Veröffentlichung unter freier Lizenz (Creative Commons) erfolgte, übernimmt apolut diesen Text in der Zweitverwertung und weist explizit darauf hin, dass auch der Rubikon auf Spenden angewiesen ist und Unterstützung braucht. Wir brauchen viele alternative Medien!
„Mir fällt da kein Land auf der Welt ein, wo ich aktuell lieber wäre als in Deutschland“, konstatierte Jens Spahn in einem Interview mit dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen Ende August 2020 (1). Dabei bezieht er sich auf die freiheitliche Demokratie, die Deutschland seiner Auffassung nach auszeichnet — trotz der bereits monatelang vorherrschenden Diffamierung und Unterdrückung von Kritikern der Covid-19-Maßnahmen durch Politik und die sogenannten Leitmedien. Vermutlich hat der bisherige Bundesgesundheitsminister neben der Staatsform der Demokratie noch weitere Gründe, gerne in Deutschland zu leben — und vielleicht ist ein sehr wichtiger davon unser Solidaritätsprinzip.
Deutschland ist eine Solidargemeinschaft. Oder etwa nicht?
„Eine Solidargemeinschaft ist eine Gemeinschaft, in der die Mitglieder bei den großen Lebensrisiken wie Krankheit und soziale Not füreinander einstehen. Solidarität heißt: Hilfe der Stärkeren für die Schwächeren, die nicht die Kraft oder Möglichkeit zur Selbsthilfe haben“ (2).
Dieser Solidaritätsbegriff wird im Zusammenhang mit Covid-19 ad absurdum geführt, da er sich nicht mehr nur darauf bezieht, dass Stärkere für Schwächere einstehen. Hier wird vielmehr verlangt, dass Menschen die Verantwortung für persönliche Lebensentscheidungen wie medizinische Interventionen und die eigene Gesundheit aufgeben, um nicht als unsolidarisch oder gar asozial zu gelten. Dies ist jedoch falsch verstandene Solidarität.
„Keiner hat die Pflicht, überhaupt gar kein Risiko für andere Menschen zu sein. Dann dürften wir alle auch nicht Autofahren. Wir haben allerdings die moralische Pflicht, auf die Gesundheit anderer möglichst gut aufzupassen und sie nicht willkürlich zu gefährden“,schlussfolgert entsprechend auch die Medizinethikerin Christiane Woopen gegenüber dem Tagesspiegel im Juli 2021 (3).
Umgekehrt hat sich jedoch die oben beschriebene Solidargemeinschaft bis heute in vielen Lebensbereichen bewährt. Beispielsweise stehen im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung alle Versicherten mit ihren Beiträgen füreinander ein. Jeder zahlt seinen Anteil — unabhängig davon, wie viel Nutzen er selbst daraus aufgrund von notwendigen Behandlungen zieht. In ähnlicher Weise sind auch andere Sozialabgaben wie die Arbeitslosenversicherung oder die gesetzliche Rentenversicherung aufgestellt. Alle Mitglieder leisten ihren Beitrag und finanzieren damit nicht ihren persönlichen Versicherungsfall oder ihre eigene Rente, sondern auch die anderer. Und sie können sich umgekehrt darauf verlassen, bei Bedarf von den Beiträgen Dritter aufgefangen zu werden.
Das Solidaritätsprinzip gerät aus den Fugen
Doch dieses Prinzip der Solidarität scheint immer stärker aus den Fugen zu geraten. Im Zusammenhang mit Covid-19 werden Stimmen laut, die die Solidargemeinschaft aufkündigen möchten. Bund und Länder diskutieren, dass ungeimpfte Menschen im Fall von Quarantänemaßnahmen keine Lohnfortzahlung beziehungsweise keine finanzielle Entschädigung für den entstandenen Verdienstausfall erhalten sollen (4). Im Rahmen einer Bund-Länder-Konferenz im August 2021 wurde beschlossen, dass Ungeimpfte ab dem 11. Oktober die Kosten für angeordnete Antigen-Schnelltests sowie PCR-Tests selbst tragen müssen (5).
Ein solcher Beschluss hebelt nicht nur die Solidargemeinschaft aus. Er ist umso fragwürdiger, wird doch weiterhin die Gefährlichkeit von Covid-19 und der dringende Schutzbedarf der gesamten Gesellschaft zeitgleich in den Vordergrund gerückt. Dieser Schutz soll bis dato unter anderem durch flächendeckende Tests sichergestellt werden. Werden sie kostenpflichtig, dann birgt dies die Gefahr, dass weniger Menschen sich testen lassen. Wie passt dies zu der Debatte des vorgeblichen Gesundheitsschutzes?
Eine Spaltung unserer Gesellschaft scheint bewusst inszeniert
In eine solch mutmaßlich intendierte Spaltung der Gemeinschaft fügen sich hervorragend Äußerungen wie die des Union-Fraktionsvorsitzenden Ralph Brinkhaus ein: „ … der Druck durch den geimpften Teil der Bevölkerung wird enorm zunehmen. Und das ist völlig nachvollziehbar“ (6).
Ein indirekter Appell zu Hetze und gegenseitiger Ausgrenzung wird durch Politik und die breiten Medien wiederholt befeuert. So ist nicht verwunderlich, dass der Ruf nach Selbstzahlung von Behandlungskosten durch Ungeimpfte oder höhere Krankenkassenbeiträge für diese nicht lange auf sich warten lässt (7, 8).
Spätestens hier stellt sich die Frage:
Wo fängt das an und wo hört das auf?
Eine solche Debatte öffnet die Büchse der Pandora. Den nicht geimpften Menschen abzuverlangen, dass sie höhere Krankenkassenbeiträge entrichten oder gar die Behandlungskosten einer Covid-19-Erkrankung selbst tragen müssen, ist erst der Anfang. Scheinbar wägen sich damit die geimpften Bevölkerungsteile in Sicherheit. Doch folgerichtig werden sich weitere Forderungen anschließen, um Menschen aus der Solidargemeinschaft auszugrenzen, die vermeintlich selbst verschuldet unter bestimmten Krankheiten leiden.
Zu den häufigsten Todesursachen in Deutschland zählen nach wie vor Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems und hier vor allem ischämische Herzkrankheiten und Herzinfarkte (9). Die Hauptrisikofaktoren für diese Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind gemäß Robert Koch-Institut (RKI) unter anderem "… gesundheitsbeeinträchtigende Verhaltensweisen wie Rauchen, körperliche Inaktivität und ungesunde Ernährung“ (10). Gleichzeitig verursachen ebendiese Erkrankungen die höchsten Ausgaben in unserem Gesundheitssystem (11). Müssten in der Konsequenz nicht auch Raucher sowie Menschen, die sich ungesund ernähren, sich zu wenig bewegen oder Alkohol konsumieren, ihre Behandlungskosten für Folgeerkrankungen selbst tragen?
Einem Bericht des Gesundheitsministeriums Nordrhein-Westfalen (NRW) aus dem Jahr 2003 zufolge belaufen sich die Kosten ernährungsbedingter Krankheiten auf circa 45 Milliarden Euro jährlich, was damals etwa einem Drittel der Gesamtkosten im Gesundheitswesen entsprach (12).
Und wie steht es mit Fehlbelastungen unseres Körpers? Gemäß RKI gehören auch chronische Rückenschmerzen "… in Deutschland seit Langem zu den größten Gesundheitsproblemen. Sie erzeugen eine immense Krankheitslast, sind in erheblichem Umfang für medizinische und soziale Leistungen verantwortlich und verursachen enorme gesamtwirtschaftliche Kosten“ (13).
Eine der Hauptursachen für Rückenschmerzen sind Fehlhaltungen und Fehlbelastungen (14). Weshalb sollte in diesen Fällen weiterhin die Solidargemeinschaft einspringen und die Behandlungskosten übernehmen, wenn Menschen vorab Raubbau mit ihrem Körper betreiben?
Ebenso wie zu wenig sportliche Betätigung schädlich ist und mittels der Übernahme von Krankheitskosten sanktioniert werden könnte, müssten in der Konsequenz auch selbst verschuldete Sportverletzungen in diese Rechnung mit aufgenommen werden. Und nicht nur solche, die bei einer Risikosportart entstanden sind.
Der oben genannten Analyse des Gesundheitsministeriums NRW zufolge treiben etwa 23 Millionen Menschen in Deutschland regelmäßig Sport und 5 Prozent davon verletzen sich so schwer, dass sie eine ärztliche Behandlung benötigen (15).
Das Gesundheitsministerium kommt unter anderem zu dem Fazit:
„Fußball ist der Vereinssport mit den meisten Unfällen. (…) Bei den Trendsportarten ist Inline-Skaten besonders verletzungsträchtig. Dennoch fahren nahezu alle Erwachsenen ohne Helm — ein Drittel der jugendlichen Skater ganz ohne Schutzausrüstung. Beim Mountainbiken sind 90 Prozent der Unfälle selbst verschuldet. (…) Sportunfälle verursachen bundesweit Kosten im Gesundheitswesen von knapp 1,5 Milliarden Euro jährlich.“
Ganz zu schweigen von Verkehrsteilnehmern, die nach einem selbst verschuldeten Unfall eine ärztliche Behandlung benötigen. In Deutschland gibt es im Jahr 2020 trotz rückläufiger Zahlen immer noch rund 328.000 Verletzte nach Verkehrsunfällen (16).
Sollten nicht zumindest diejenigen, die den Unfall verursacht haben, die Kosten für ihre Behandlung selbst tragen? Und vielleicht sogar die ihres Unfallopfers übernehmen?
Wer von sich behaupten kann, zu keiner dieser Gruppen zu gehören, sondern im Gegenteil stets auf seine Gesundheit zu achten, sich entsprechend ausgewogen zu ernähren und zu bewegen, gleichzeitig stets alle Verkehrsregeln zu befolgen und niemals ein Risiko einzugehen — derjenige sei frei von Schuld und stimme bitte umgehend und lauthals in den Appell mit ein, dass Ungeimpfte ihre Behandlungskosten selbst tragen müssen. Denn wir sollten uns der Konsequenzen solcher Forderungen bewusst sein: Dies ist der Anfang vom Ende unserer Solidargemeinschaft.
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.zdf.de/nachrichten/politik/spahn-corona-demo-berlin-100.html (2) https://www.aerzteblatt.de/archiv/38243/Solidargemeinschaft-Kollektiver-Selbstbedienungsladen (3) https://www.tagesspiegel.de/politik/medizinethikerin-woopen-zur-impf-debatte-keiner-hat-die-pflicht-gar-kein-risiko-fuer-andere-menschen-zu-sein/27453812.html (4) https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/faq-verdienst-ausfall-arbeitnehmer-quarantaene-101.html (5) https://www.fr.de/ratgeber/gesundheit/wichtig-fuer-ungeimpfte-ab-oktober-muessen-buerger-innen-corona-tests-selbst-zahlen-90978452.html (6) https://www.evangelisch.de/inhalte/189316/08-08-2021/brinkhaus-druck-auf-nicht-geimpfte-wird-zunehmen (7) https://www1.wdr.de/nachrichten/themen/coronavirus/ungeimpfte-corona-kosten-102.html (8) https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/braucht-es-krankenkassentarife-fuer-ungeimpfte-100.html (9) https://de.statista.com/themen/69/todesursachen/ (10) https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Themen/Chronische_Erkrankungen/HKK/HKK_node.html (11) https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/80604/Herz-Kreislauf-Erkrankungen-verursachen-die-hoechsten-Ausgaben (12) https://www.lzg.nrw.de/_php/login/dl.php?u=/_media/pdf/service/Pub/gesundheitsindikatoren/sportunfaelle.pdf (13) https://www.rki.de/DE/Content/GesundAZ/R/Rueckenschmerzen/Rueckenschmerzen_node.html (14) https://www.orthopaede-baer.de/beschwerden/rueckenschmerzen/ (15) https://www.lzg.nrw.de/_php/login/dl.php?u=/_media/pdf/service/Pub/gesundheitsindikatoren/sportunfaelle.pdf (16) https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2021/02/PD21_084_46.html
+++Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags. +++ Dieser Beitrag erschien zuerst am 16. Oktober 2021 im Rubikon – Magazin für die kritische Masse. +++ Bildquelle: Andrii Yalanskyi / shutterstock
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