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Auszug aus dem Buch von Ansgar Schneider: „Stigmatisierung statt Aufklärung“

Auszug aus dem Buch von Ansgar Schneider: „Stigmatisierung statt Aufklärung“


Es folgt ein Auszug aus dem Buch: „Stigmatisierung statt Aufklärung: Das Unwesen des Wortes »Verschwörungstheorie« und die unerwähnte Wissenschaft des 11. Septembers als Beispiel einer kontrafaktischen Debatte“

Aus der Buchbeschreibung:

Einführung

Ich lese Sergio Benvenutos Essay »Verschwörungen allüberall«, der im Juni 2016 in der Sommerausgabe des Lettre International er schien.3 Benvenuto, ein italienischer Psychoanalytiker, führt anekdotenhaft Beispiele von »Verschwörungstheorien« auf und versucht mit psychologischen Ansätzen zu erklären, wie sich »Verschwörungstheorien« in manchen Kreisen überhaupt verbreiten können. Ein Beispiel, das Benvenuto mehrfach aufgreift, ist dasjenige der »Verschwörungstheorien über die Anschläge des 11. Septembers 2001«. Er nennt psychologische Kriterien, um diese »Verschwörungstheorien« zu widerlegen und um so die offiziell akzeptierte Lesart der Vorfälle auf Wahrheit zu überprüfen.

Im November 2016 gibt der Tübinger Amerikanist Michael Butter dem Westdeutschen Rundfunk ein Interview zum Thema »Verschwörungstheorien«.4 Butter untersucht soziologische Phänomene von »Verschwörungstheorien«, wie beispielsweise die gesellschaftliche Struktur der Anhängerschaft einer solchen »Verschwörungstheorie«, und er versucht auf diese Weise, Gemeinsamkeiten zu erkennen, die allen »Verschwörungstheorien« innewohnen. Auch Butter führt den 11. September als Beispiel für zahlreiche »Verschwörungstheorien« an. Er nennt ein Umfangskriterium, das sich auf die Größe einer mutmaßlichen Verschwörung bezieht, um damit »Verschwörungstheorien« auf Wahrheit zu testen.

Was die beiden mit ihren Argumenten diskutieren, ist die im Internet und anderswo viel beschworene Parole, daß »Bush und die CIA« hinter den Terroranschlägen stecken würden. Sie versuchen also nichts weniger, als anhand von Ausschlußkriterien die Frage nach den Tätern und Hintermännern des 11. Septembers zu beleuchten. Das ist natürlich eine wichtige Frage. Es ist allerdings alles andere als gewiß, ob man zu dieser Frage überhaupt mehr als spekulieren kann, denn schließlich hatte selbst die Bush-Regierung Schwierigkeiten, hier Definitives festzustellen. Beispielhaft etwas Hintergrund dazu:

Die Nationale Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice offenbarte am 28. September 2001 bei einem Treffen mit Diplomaten der deutschen Botschaft in Washington, daß die amerikanische Regierung außer vagen Verdächtigungen nicht viel zur Täterschaft Osama bin Ladens vorbringen kann. Rice wörtlich:

»Es gibt keinen Beweis, der vor einem New Yorker Bezirksgericht Bestand hätte.«5

Dieser Sachverhalt änderte sich offenbar auch in den folgenden Jahren nicht, denn im Juni 2006 ließ die amerikanische Bundespolizei, das FBI, durch den Sprecher Rex Tomb verlauten, daß dem FBI keine »stichhaltigen Beweise« zur Täterschaft Osama bin Ladens bekannt seien. Dieser Aussage war die Veröffentlichung eines FBI-Steckbriefes von Osama bin Laden vorausgegangen, auf dem Bin Laden zwar der Täterschaft verschiedener Terroranschläge im Ausland beschuldigt wurde, aber einen Bezug zu den Anschlägen des 11. Septembers gab es dort nicht (s. Abb.2). Der Journalist Edward Haas fragte daraufhin beim FBI nach und wurde dann von dem Sprecher Rex Tomb über den Mangel an Beweisen folgendermaßen aufgeklärt:

»[…] Das FBI sammelt Beweise. Alsbald Beweise vorliegen, werden diese dem Justizministerium vorgelegt. Das Justizministerium entscheidet dann, ob genug Beweise vorliegen, um diese einem Bundesgeschworenengericht vorzulegen. Im Falle der Bombenanschläge auf die US-Botschaften 1998 wurde Bin Laden durch ein Geschworenengericht beschuldigt und offiziell angeklagt. Im Zusammenhang mit dem 11. September wurde er nicht offiziell beschuldigt und angeklagt, weil das FBI keine stichhaltigen Beweise hat, die Bin Laden mit dem 11. September in Verbindung bringen.«7

Abbildung 2: Der Steckbrief des FBI aus dem Jahr 2006 weist Osama bin Laden als einen der meistgesuchten Terroristen aus, jedoch nicht wegen der Anschläge des 11. Septembers 2001. Quelle: FBI (Internet Archive)6

Die Nicht-Existenz von Beweisen ließ auch Dan Eggen von der Washington Post aufhorchen, der noch einmal bei Tomb nachfragte und dann die Erklärung bekam, daß hier nichts Mysteriöses vor sich gehe, da das Justizministerium Bin Laden auch wegen der Anschläge des 11. Septembers anklagen könne, so es denn nur wolle, daß es dies zum jetzigen Zeitpunkt aber nicht müsse.8 Wie das Justizministerium dies ohne stichhaltige Beweise tun könnte, verriet Tomb an dieser Stelle nicht. Offenbar wollte das Justizministerium aber Bin Laden auch im späteren Lauf der Geschichte immer noch nicht so richtig wegen des 11. Septembers beschuldigen, wie die historische Liste der meistgesuchten Personen des FBI zeigt. Darin werden seit 1950 die Verdächtigen in chronologischer Reihenfolge aufgeführt. Zu Osama bin Laden, der auf der Liste an 456. Stelle genannt wird, heißt es dort:

»Bin Laden wurde im Zusammenhang mit den Bombenanschlägen 1998 auf die US-Botschaften in Dar-es-Salaam (Tansania) und Nairobi (Kenia) gesucht. Diese Anschläge töteten über 200 Menschen. Am 1. Mai 2011 wurde Bin Laden während einer US-Regierungs-/Militäroperation in Pakistan erschossen.«9

Am 15. Juli 2016 wurde ein bis dahin als geheim klassifiziertes Dokument parlamentarischer Geheimdienstausschüsse, bekannt unter dem Namen »The 28 Pages«, veröffentlicht. Darin wird erwähnt, daß elf der mutmaßlichen Attentäter des 11. Septembers während ihres Aufenthaltes in den Vereinigten Staaten Kontakte zu Personen hatten, die vielleicht in Verbindung zur saudischen Regierung standen.10 Devin Nunes, der seit 2015 Vorsitzende des Geheimdienstausschusses des Repräsentantenhauses, bekräftigte zwar, daß keine »überprüfbaren Schlußfolgerungen, sondern nur unverifizierte Anhaltspunkte« in dem Dokument enthalten seien, die später gänzlich untersucht worden seien.11 Jedoch gab das Dokument neuerlichen Spekulationen über die Anschläge Auftrieb, wie der ehemalige Senator und damalige zweite Vorsitzende eines der Ausschüsse, Bob Graham, im September 2016 in der New York Times feststellte:

»Fragen, ob die saudische Regierung die Terroristen unterstützte, bleiben unbeantwortet.«12

Diese kleine anekdotische Auswahl deutet an, wie diffizil es ist, Fragen nach der Täterschaft und den Hintermännern der Anschläge des 11. Septembers befriedigend zu erörtern. Diese Fragen anzugehen, geschweige denn sie zu beantworten, will ich daher nicht einmal ansatzweise in Betracht ziehen. Dies muß an anderer Stelle geschehen, denn mehr als eine diffuse Spekulation kann ich dazu nicht vorbringen, und dergleichen soll in diesem Buch keinen Platz finden.

Es gibt im Zusammenhang mit den Ereignissen des 11. Septembers aber, unabhängig von der Frage nach den Tätern und deren Hintermännern, eine ganz andere, viel fundamentalere Frage: nämlich die Frage nach der eigentlichen Tat. Zu dieser Frage sind in den letzten sechzehn Jahren einige wichtige naturwissenschaftliche Befunde erbracht worden, denen wesentlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte, als es aktuell getan wird, denn die diesbezüglich aufgeworfenen Fragen lassen sich – im Gegensatz zur Frage nach den Tätern – mit naturwissenschaftlichen Methoden eindeutig beantworten.

Die von Benvenuto und Butter geäußerten Gedanken sind für sich genommen zwar interessant, weil sie interessante Phänomene der Psychologie und Soziologie ansprechen, aber als sachlicher Beitrag zum Geschehen des 11. Septembers sind sie unbrauchbar. So gibt es etwas erschreckend Unaufgeklärtes an Benvenutos und Butters Debatte, und das ist nicht so sehr das, was diskutiert wird, sondern das, was nicht diskutiert wird: Eine sachliche Diskussion jener naturwissenschaftlichen Befunde wird von Benvenuto und Butter nicht geführt. Die Beiträge erweisen sich so nicht nur als belanglos, sondern als völlig irreführend und frei von jedem Bezug zu entscheidenden Tatsachen. In diesem Sinne kann man die Debatte, die die beiden führen, mit vollem Recht als kontrafaktisch bezeichnen, d.h. gegen die Tatsachen gerichtet. Die beiden sind dabei keineswegs alleine, sondern sie werden seit Jahren von einer Vielzahl von Journalisten in ähnlichem Tonfall begleitet. Im Verlauf dieses Buches werde ich diese Behauptungen ausführlich begründen und die von Butter und Benvenuto eingebrachten Argumente und Begebenheiten einordnen. Letztlich – und das ist ein notwendiger Schritt zur Beurteilung der erwähnten Beiträge – will ich der Diskussion etwas Wesentliches hinzufügen, etwas, das für Aufklärung unerläßlich ist: empirische Belege und Präzision der Begriffe.

Quellenangaben und Verweise

3 Sergio Benvenuto: Verschwörungen allüberall, Lettre International (deutsche Ausgabe) 113, (2016), Seite 132-134

4 Michael Butter, Interview beim WDR, 22. November 2016. Der hier relevante Teil des Interviews ist:

Sabine Brandi: Also Sie haben den Mord an Kennedy ja schon erwähnt – vorhin, bei den Beispielen von Verschwörungstheorien. Als Kennedy ermordet wurde, da hätte man ja jeden, der dahinter ein Komplott seiner politischen Gegner vermutet, ausgelacht. »Verschwörungstheorie« hätte man gerufen. Heute weiß man, daß die Zweifel eher an der … daß Zweifel an der Einzeltätertheorie angebracht sind.

Ist der Begriff »Verschwörungstheorie« nicht die beste Tarnung, die es gibt, für ein echtes Komplott? Wie kann ich da Spreu vom Weizen unterscheiden, Michael Butter?

Michael Butter: Der Begriff Verschwörungstheorie ist natürlich – da haben Sie vollkommen recht – relativ problematisch, wenn er so diffamierend benutzt wird, weil er eben manchmal auch auf Gedankengebäude angewandt wird, die überhaupt keine Verschwörungstheorien sind – entweder weil Sie reale Verschwörungen im Blick haben oder … Dinge, die überhaupt nichts mit Verschwörungen zu tun haben letztendlich, und weil es gleichzeitig andere Gedankengebäude gibt, die Verschwörungstheorien sind im neutralen Sinn, die dem Begriff aber entkommen.

Das Kennedy-Attentat ist vielleicht ein ganz gutes Beispiel, um zu zeigen, wo wirklich vernünftige Kritik dann umschlägt eben auch in eher schwer zu belegende und ganz hundertprozentig falsche Verschwörungstheorien. Wenn man zum Beispiel davon ausgeht, daß da ein zweiter Schütze beteiligt war und vielleicht zwei, drei Hintermänner, dann ist man oder liegt man, glaube ich, gar nicht falsch. Es gibt also sehr, sehr viele Anzeichen dafür – und spätere Untersuchungen haben das ja auch bekräftigt –, die … daß Lee Harvey Oswald nicht alleine gehandelt hat. Allerdings ist es von da natürlich dann ein ganz, ganz, ganz großer Schritt zu diesen typischen Verschwörungstheorien, die die CIA als ganzes, vielleicht sogar noch zusammen mit der Mafia oder dem Militär oder dem Vizepräsidenten Lyndon B. Johnson als die eigentlichen Schuldigen ausmachen und von daher so Komplotte konstruieren, an denen Hunderte, wenn nicht, sogar Tausende von Menschen hätten beteiligt sein müssen; und dann manchmal in einem weiteren Schritt dann [sic] die Kennedy-Ermordung noch einbetten in eine große Geschichte der Verschwörung gegen das Volk, in die [sic] ja dann die Mondlandung und 9/11 einfach nur weitere Kapitel sind. Dann wird das natürlich wahnsinnig unwahrscheinlich einfach schon aus dem Grund, weil bis heute niemand dann an die Öffentlichkeit getreten ist und gesagt hat: »Ja, ich war dabei«, weil man keinerlei Beweise dafür gefunden hat und weil es einfach schwer vorstellbar ist – wenn man weiß, wie solche Prozesse ablaufen –, daß so viele Menschen sich einfach verabreden können und niemand kommt ihnen Jahrzehnte später auf die Schliche. Das heißt, der Umfang der Verschwörung ist oft dann ein ganz guter Indikator dafür wie wahrscheinlich es sein könnte und … wie wahrscheinlich es vielleicht ist, daß wir es dann doch mit einer Verschwörungstheorie, die eben keinen wahren Kern hat, zu tun haben.

5 Condoleezza Rice über Osama bin Laden: »There is no proof that would stand in a circuit court in New York.« Fernschreiben der Deutschen Botschaft in Washington, D.C. vom 28. September 2001, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Bestand: ZA, Aktenzeichen:—, Band: 315691

6 Das Internet Archive ist eine digitale Bibliothek, um frei zugängliche, digitale Daten dauerhaft zu sichern. Der FBI-Steckbrief ist einsehbar unter http://web.archive.org/web/20090417012244/ http://www.fbi.gov/wanted/terrorists/terbinladen.htm

7 FBI-Sprecher Rex Tomb über Osama bin Ladens Steckbrief: »The reason why 9/11 is not mentioned on Usama Bin Laden’s Most Wanted page is because the FBI has no hard evidence connecting Bin Laden to 9/11. […] The FBI gathers evidence. Once evidence is gathered, it is turned over to the Department of Justice. The Department of Justice then decides whether it has enough evidence to present to a federal grand jury. In the case of the 1998 United States Embassies being bombed, Bin Laden has been formally indicted and charged by a grand jury. He has not been formally indicted and charged in connection with 9/11 because the FBI has no hard evidence connected [sic] Bin Laden to 9/11.« Muckraker Report am 6. Juni 2006, einsehbar im Internet Archive unter http://web.archive.org/web/20090421105709/http://muckrakerreport.com/id267.html

8 Dan Eggen: Bin Laden, Most Wanted For Embassy Bombings?: »›There’s no mystery here, ‹said FBI spokesman Rex Tomb. ›They could add 9/11 on there, but they have not because they don’t need to at this point. … There is a logic to it.‹« Washington Post, 28. August 2006, einsehbar unter http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/content/article/2006/08/27/AR2006082700687.html

9 FBI: Ten Most Wanted History Pictures, 456. Usama Bin Laden: »Bin Laden was wanted in connection with the 1998 bombings of the United States Embassies in Dar es Salaam, Tanzania and Nairobi, Kenya. These attacks killed over 200 people. On May 1, 2011, Bin Laden was shot and killed during a US Government/Military operation in Pakistan.« Einsehbar unter https://www.fbi.gov/wanted/topten/topten-history/hires_images/FBI-456-UsamaBinLaden.jpg/view

10 Joint Inquiry Into Intelligence Community Activities Before and After the Terrorist Attacks of September 11, 2001, (2002), Seite 420: »While in the United States, some of the September 11hijackers were in contact with, and received support or assistance from, individuals who maybe connected to the Saudi Government.« Einsehbar unter https://assets.documentcloud.org/documents/2994063/911-Report-28pages.pdf

11 Pressemitteilung des Geheimdienstausschusses des Repräsentantenhauses: »However, it’s important to note that this section does not put forward vetted conclusions, but rather unverified leads that were later fully investigated by the Intelligence Community.« 15. Juni 2016, einsehbar unter http://intelligence.house.gov/news/documentsingle.aspx?DocumentID=676

12 Bob Graham: Release More 9/11 Records: »Questions about whether the Saudi government assisted the terrorists remain unanswered.« New York Times, 16. September 2016, einsehbar unter https://www.nytimes.com/2016/09/10/opinion/bob-graham-release-more-9-11-records.html?_r=0

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Auszug aus: Ansgar Schneider, Stigmatisierung statt Aufklärung, ISBN 3-86242-001-9

Das Buch ist bei peace press erschienen und kann zum Beispiel hier erworben werden.

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Wir danken dem Verlag für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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Bildquelle: peace press


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