Ein Kommentar von Wolfgang Effenberger.
Laut US-Präsident Joe Biden muss eine direkte militärische Konfrontation in der Ukraine zwischen dem US-Militär und den russischen Streitkräften verhindert werden, damit es nicht zu einem "dritten Weltkrieg" kommt. Hat er sich da verplappert? Ist denn US-Militär in der Ukraine? Biden twitterte am 11. März 2022, er wolle in der Ukraine keinen Krieg mit Russland führen, denn „eine direkte Konfrontation zwischen der Nato und Russland ist der dritte Weltkrieg - und etwas, das zu verhindern wir uns bemühen müssen.“(1) Aber solange die russische Armee kein NATO-Land angreift, ist eine direkte Konfrontation doch ohnehin ausgeschlossen!
Ende Januar 2022 schrieb Willy Wimmer in seinem Artikel „Der ukrainische Kreidekreis“, dass die Washington-Administration ohne Skrupel über die Ukraine lang gehegte US-Interessen in Europa durchsetzt.(2) Willy Wimmer ist überzeugt, dass Victoria Nuland, seit Mai 2021 als Bidens Wunschkandidatin stellvertretende US-Außenministerin, dieses Gesamtbild zweifellos bei ihrem Besuch in Moskau Mitte Oktober 2021 vor Augen hatte. Ihr sogenanntes „Angebot“ an die russische Seite: „Russland schwenkt auf die amerikanische Linie ein und erhält dafür milliardenschwere Investitionen. Der Besuch muss so schlechte Auswirkungen gehabt haben, dass der CIA-Chef anschließend nach Moskau geflogen ist und ein langes Gespräch mit Präsident Putin gehabt haben soll.“(3)
Mitte Dezember 2021 hatte Putin dann von den USA und von der NATO Sicherheitsgarantien gefordert. Das Gespräch Putin/Biden am 30. Dezember 2021 verlief ergebnislos, ebenso wie alle folgenden diplomatischen Bemühungen.
Letztlich hat der ehemalige US-Präsident Barack Obama die Zuspitzung seit 2013 zu verantworten. Am 1. Februar 2015 nahm er im Interview mit CNN zu der Entwicklung in der Ukraine Stellung:
„Und seit Mr. Putin diese Entscheidung in Bezug auf die Krim und die Ukraine getroffen hat - nicht aufgrund einer großartigen Strategie, sondern im Wesentlichen, weil er durch die Proteste auf dem Maidan aus dem Gleichgewicht gebracht wurde und Janukowitsch [der 2010 gewählte und rechtmäßige Präsident der Ukraine] dann flüchtete, nachdem wir einen Deal [unter Einsatz von 5 Milliarden US-$] für den Machtwechsel in der Ukraine ausgehandelt hatten - seit dieser Zeit hat ihn diese Improvisation immer tiefer in eine Situation gebracht, die eine Verletzung des Völkerrechts darstellt, die die Integrität, die territoriale Unversehrtheit und die Souveränität der Ukraine verletzt, Russland diplomatisch isoliert hat, Europa davor zurückschrecken lässt, mit Russland Geschäfte zu machen, die Verhängung von Sanktionen ermöglicht hat, die Russlands Wirtschaft zu einer Zeit lähmen, in der die Öleinnahmen des Landes sinken.“(4)
Wie kann ein US-Präsident anderen die Verletzung des Völkerrechts vorwerfen?
Jeder der unzähligen von den USA orchestrierten Regime-Changes stellt schließlich eine Verletzung des Völkerrechts dar.
In der Zeit-Matinee am 9. März 2014 zum Thema Krim gab der ehemalige SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder öffentlich zu, dass mit der Bombardierung von Jugoslawien das Völkerrecht gebrochen wurde.(5) Weiter sagte er, die Entscheidung dazu sei im vollen Bewußtsein getroffen wurde, obwohl der Krieg gegen Jugoslawien rechtswidrig war. Rechtliche Folgen? Bis heute keine.
Am 12. März 2022 erinnerte der ehemalige Außenminister Jugoslawiens, Zivadin Jovanovic, im Interview mit Xinhua News, Beijing, China, an Serbien als das erste Opfer der Expansionsstrategie der NATO. 1999 hatten sich die NATO-Truppen unter Führung der Vereinigten Staaten über den UN-Sicherheitsrat hinweggesetzt und Jugoslawien 78 Tage lang unter dem Vorwand der "Verhinderung humanitärer Katastrophen" bombardiert, wobei über 8.000 unschuldige Zivilisten getötet und verletzt und fast eine Million Menschen entwurzelt wurden. Jovanovic macht die militärische Expansion der USA und der NATO in Osteuropa als Hauptursache für die derzeitige Krise in der Ukraine verantwortlich.(6)
Wer bei dem Referendum zugunsten des Anschlusses an die russische Föderation von einer Annexion der Krim spricht, verweigert den Menschen auf der Krim ihr verbrieftes Selbstbestimmungsrecht, das eines der Grundrechte des Völkerrechts ist. Ein Volk darf frei über seinen politischen Status, seine Staats- und Regierungsform und seine wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung entscheiden. „Dieses Selbstbestimmungsrecht ermöglicht es einem Volk, eine Nation bzw. einen eigenen nationalen Staat zu bilden oder sich in freier Willensentscheidung einem anderen Staat anzuschließen.“(7) Die Gewährung oder Vorenthaltung des Selbstbestimmungsrechts gehört zum Besteck imperialen Vorgehens. So verweigerten nach dem Ersten Weltkrieg die Sieger den Besiegten das Selbstbestimmungsrecht.
Am 13. März 2022 wies Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg in der "Welt am Sonntag" auf absurde Behauptungen der letzten Tage über chemische und biologische Waffenlabore in der Ukraine hin, in denen die USA der Ukraine bei der Entwicklung von Chemie- und Biowaffen helfen würden. Stoltenberg forderte dazu auf, wachsam zu bleiben,
„weil es möglich ist, dass Russland selbst Einsätze mit chemischen Waffen unter diesem Lügengebilde planen könnte."(8)
Doch ganz so herbeigeholt sind die Vorwürfe des Kremls nicht.
Schon wenige Monate nach der „Orangenen Revolution“ 2004 ermöglichte es die neue, nun prowestliche ukrainische Regierung Juschtschenko/Timoschenko, dass zwischen dem Verteidigungsministerium der Vereinigten Staaten von Amerika und dem Gesundheitsministerium der Ukraine am 29. August 2005 ein Abkommen über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Verhütung der Verbreitung biologischer und nuklearer Waffen getroffen werden konnte. Explizit ging es um die Verhinderung der Verbreitung von Technologien und Fachwissen, das für die Entwicklung von biologischen Waffen genutzt werden könnte.(9)
Das klingt alles sehr wohlmeinend. Es könnte aber auch sein, dass hier das US-Verteidigungsministerium die Kapazitäten samt Forschungsergebnissen für sich nutzte...
Nun möchte US-Präsident Biden einen Dritten Weltkrieg verhindern. Wie ehrlich ist diese Absicht gemeint? Bereits am dritten Tag nach seiner Amtseinführung definierte Biden Russland als Feind und versprach, an die Ukraine Waffen zu liefern.(10) Und keine 10 Tage nach seiner Amtseinführung schickte Biden US-Kriegsschiffe ins Schwarze Meer. Über Twitter teilte Ben Hodges, ehemaliger Befehlshaber der U.S. Army Europe, mit: „Ja! Die Anwesenheit der US-Marine im Schwarzen Meer verdeutlicht das Engagement von Präsident Biden für die NATO und unterstreicht, was er Präsident Putin sagte (…) Die ukrainische Souveränität hat Priorität. Die Marine schickt drei Schiffe ins Schwarze Meer“.(11) Putin reagierte mit der Aufstellung eines Küstenabwehrsystems.(12)
Seit Mitte Februar 2021 gab es wieder verstärkt Kämpfe zwischen den Einheiten der abtrünnigen Gebiete und der Regierungsarmee in der Ostukraine. Für besondere Aufmerksamkeit sorgte das Dekret Nr. 117 vom 24. März 2021, mit dem Selenskij die Entscheidung des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine vom 11. März 2021 „Zur Strategie der Entbesetzung und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebiets der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol“ umsetzen wollte.(13) Diese „Entbesetzung“ musste im Kreml als Kriegserklärung verstanden werden. Selenskij konnte dieses Dekret sicher nicht ohne Billigung des Westen auf den Weg bringen. Zumindest war nun das Minsker Abkommen endgültig aufgekündigt. Und der Westen schaute tatenlos zu.
Der serbische Think Tank „Belgrad Forum“ wagte am 11. März 2022 einen Blick in die Zukunft. „Die NATO-Erweiterung, die Ukraine-Krise und die Sanktionen gegen Russland werden höchstwahrscheinlich die strategische Verbindung zwischen Russland und China beschleunigen und auch die Platzierung Chinas an erster Stelle in der Weltwirtschaft voranbringen. Sanktionen sind immer ein besonders schwerer Schlag für exportorientierte Volkswirtschaften (EU, Deutschland, Japan, Südkorea).“(14)
Auch erwartet das Forum eine Stärkung von Synergieeffekten der Neuen Seidenstraße und der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft (EAG) sowie eine Schrumpfung des westlichen Anteils am Welthandel. „Der Verlust der Privilegien des früheren Wirtschafts- und Finanzsystems, das Defizit an Energie und strategischen Mineralien wird höchstwahrscheinlich den Egoismus innerhalb der westlichen Integrationen und damit ihre Zersplitterung weiter fördern (EU)“, so das Belgrader Forum.
Der deutsche Wirtschaftswissenschaftler Christian Kreiß geht noch weiter. Aus der Perspektive der USA sei Mitteleuropa, insbesondere Deutschland, ein beachtlicher ökonomischer Rivale. Deutschland, viertgrößte Wirtschaftsnation der Welt und von der Einwohnerzahl her deutlich größer als Frankreich, Großbritannien und Italien, wird in den USA durchaus auch als unangenehmer Konkurrent empfunden.
Kreiß hält von daher die Schwächung Europas, insbesondere Mitteleuropas, für ein mögliches Kriegsziel der USA im Ukraine-Konflikt.
So „könnten Truppenbewegungen und das Austragen militärischer Konflikte auf mitteleuropäischem Boden, möglicherweise auch über den Rhein hinweg in französische, holländische und belgische Industriezentren hinein aus US-Sicht vorteilhaft sein.“(15) Ein Weltkrieg auf dem Schlachtfeld Europa könnte durchaus zu diesem Ziel passen.
„Die westlichen Regierungen und Presseorgane haben einen weitverbreiteten Hass auf die Russen geschürt,“ schreibt der kritische US-Publizist Paul Craig Roberts, „und viele US-Senatoren drängen, angestachelt von den Neo-Konservativen, auf einen größeren Krieg.“(16)
So ist es dringend erforderlich, dass sich zumindest die unter dem Dach des Europarats befindlichen Länder auch auf die von den USA ausgehende Gefahr besinnen. Europa muss zu einer eigenen Sicherheitspolitik finden. Einer Sicherheitspolitik, die dem Frieden und dem Wohlergehen der Menschen dient.
In diesem Sinn rief Zivadin Jovanovic am Ende seines Interviews zu einer friedlichen Lösung des Konflikts in der Ukraine auf. Dieser Konflikt und alles, was ihm vorausgegangen sei, erfordere die Beendigung der Politik der militärischen Expansion und die Gewährleistung der Anerkennung der legitimen Rechte aller Länder auf gleiche Sicherheit ohne Untergrabung der Sicherheit anderer sowie die "globale Anerkennung der neuen multipolaren Weltordnung".
Zum Schluss äußerte er die Hoffnung, "dass der Ukraine-Konflikt so bald wie möglich friedlich und im Wege des Dialogs gelöst wird, wobei die Notwendigkeit gleicher Sicherheit für alle Länder und Völker zu berücksichtigen ist. Sanktionen, Drohungen, doppelte Standards, einseitige Ansätze ... untergraben die Friedensbemühungen und sollten daher eingestellt werden."(17)
Anmerkungen und Quellen:
1) https://web.de/magazine/politik/russland-krieg-ukraine/us-praesident-biden-dritten-weltkrieg-verhindern-36684422 2) https://parstoday.com/de/news/world-i65550-der_ukrainische_kreidekreis 3) Ebd. 4) https://cnnpressroom.blogs.cnn.com/2015/02/01/pres-obama-on-fareed-zakaria-gps-cnn-exclusive/; https://web.de/magazine/politik/russland-krieg-ukraine/us-praesident-biden-dritten-weltkrieg-verhindern-36684422 5) Die Todesfälle unter der Zivilbevölkerung wurden nie von internationalen Gerichten untersucht, obwohl Rechtsgruppen darauf hinwiesen, dass einige Vorfälle gegen das Völkerrecht verstoßen oder sogar Kriegsverbrechen darstellen könnten. (https://www.france24.com/en/20190321-20-years-serbian-victims-nato-bombings-feel-forgotten) 6) http://www.xinhuanet.com/english/europe/20220312/72ff23e5713e41e7a974402e51d3cc44/c.html 7) Joachim Bentzien, Die völkerrechtlichen Schranken der nationalen Souveränität im 21. Jahrhundert, Peter Lang, Frankfurt am Main 2007, S. 45 8) https://www.t-online.de/nachrichten/ausland/id_91820372/stoltenberg-warnt-russland-deutlich-vor-einsatz-von-chemiewaffen.html 9) TREATIES AND OTHER INTERNATIONAL ACTS SERIES 05-829 Agreement signed at Kiev August 29, 2005; Entered into force August 29, 2005 10) https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/509076/Biden-sieht-Russland-als-Feind-und-wird-Waffen-an-die-Ukraine-liefern 11) https://twitter.com/general_ben/status/1355071096354181125 12) https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/509308/Biden-schickt-Kriegsschiffe-ins-Schwarze-Meer-Putin-reagiert-mit-Kuestenabwehrsystem 13) https://www.imi-online.de/2022/03/09/schweden-nato-absage/ 14) www.beoforum.rs 15) https://staging.apolut.net/schuldenschnitt-durch-krieg-von-christian-kreiss/ 16) https://www.paulcraigroberts.org/2022/03/12/ukrainian-update-7/ 17) http://www.xinhuanet.com/english/europe/20220312/72ff23e5713e41e7a974402e51d3cc44/c.html
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Bildquelle: Matt Smith Photographer / shutterstock
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