Ein Standpunkt von Jochen Mitschka.
Nachdem ich viele Jahre wohlwollend über eine neue multipolare Welt schrieb, möchte ich mit diesem 2. Teil eines Realitäts-Checks inzwischen überbordende Hoffnungen etwas dämpfen. Auch wenn manche Entwicklungen sich überwältigend schnell zu entwickeln scheinen, ist eine multipolare Welt, in der nicht mehr ein Hegemon über die Welt entscheidet, sondern jede Nation, in jeder Region den eigenen Interessen folgt, und alle gemeinsam versuchen Sicherheit, Handel und Industrie so zu entwickeln, dass alle Länder davon profitieren, ist der Weg noch weit und wird von Rückschlägen geprägt sein. Nachdem ich bereits im ersten Teil andeutete, welche Dornen auf dem Weg liegen, möchte ich mit diesem PodCast weitere Hindernisse zum Nachdenken und Beobachten erwähnen, aber auch wieder Hoffnung verbreiten.
Kritik von Links
Ein, wenn auch weniger beachtetes Problem des Multipolarismus, ein kleiner Dorn, ist die Tatsache, dass nicht nur die Vertreter klassischer imperialistischer Standpunkte gegen ihn kämpfen. Vielmehr wird er nicht nur von „Rechts“ sondern auch von „Links“ bekämpft, als nur eine Variante des klassischen „Ausbeuter-Imperialismus“. Ein Beispiel dafür stellt die Erklärung der „Revolutionären Kommunisten, Norwegen“ (RK) dar.
Dort wird am 28. März (1) erklärt, dass die USA schon kurz nach der Auflösung der Sowjetunion ein Problem hatten, ihre globale Hegemonie aufrecht zu erhalten. Und, so die Erklärung weiter, nun werde unter Intellektuellen davon gesprochen, dass die „unipolare“ Weltordnung durch eine „multipolare“ ersetzt werde. Dabei herrsche in der Linken große Verwirrung darüber, wie man sich zu den neuen imperialistischen Mächten verhalten solle, meinen die Autoren. Auf der einen Seite gebe es viele, die sich in unterschiedlichem Maße in den neuen Kalten Krieg des US-Imperialismus gegen China (und Russland) gestürzt haben. Auf der anderen Seite gebe es diejenigen, die sich auf die Seite des aufstrebenden chinesischen (und russischen) Imperialismus stellten, als Gegengewicht zum US-Imperialismus.
Hier wird schon zum ersten Mal deutlich, dass man China und Russland einfach als neue imperiale Mächte ansieht. "Multipolarismus", so der Artikel weiter, beziehe sich auf die politische Tendenz, die die Entwicklung mehrerer konkurrierender imperialistischer Mächte in der Hoffnung auf eine "multipolare" Welt fördere, in der sich die Großmächte gegenseitig "in Schach halten". Multipolaristen würden sich oft als Antiimperialisten bezeichnen, aber in Wirklichkeit beschönigten sie das imperialistische Weltsystem, leugneten, dass der Wettbewerb zwischen imperialistischen Mächten unweigerlich zum Krieg führt, und stellten sich auf die Seite eines imperialistischen Blocks gegen einen anderen.
„China ist kein sozialistisches Land“
China sei heute eine sozialimperialistische Supermacht, die die Souveränität anderer Länder verletze und um Märkte, Handelswege und Rohstoffe konkurriere. Der chinesische Imperialismus konzentriere sich besonders auf Investitionen in Afrika, sowohl durch Kredite als auch durch Direktinvestitionen.
China sei seit Jahrzehnten kein sozialistisches Land mehr. Die Diktatur des Proletariats in China sei durch die Konterrevolution von 1976-78 von der Bourgeoisie besiegt worden, und die herrschende Klasse in China sei nicht mehr das Proletariat, sondern eine neue Klasse von Monopolkapitalisten. Das vorherrschende Prinzip der chinesischen Wirtschaft sei die Kapitalakkumulation, nicht die Bedürfnisse des Volkes. So weit die Behauptungen der norwegischen Kommunisten.
„Die Multipolaristen behaupten, China sei freundlicher als die USA, denn schließlich habe China gegen kein anderes Land Krieg geführt. Erstens ist dies kein Beweis dafür, dass China sozialistisch oder nicht-imperialistisch ist. Zweitens ist China indirekt in Bürgerkriege in mehreren Ländern verwickelt und verkauft Waffen an Kompradorenregime, die Krieg gegen ihr Volk führen, wie die Philippinen, Äthiopien und Sri Lanka.
Der ‚Sozialismus mit chinesischen Merkmalen‘ der KPCh ist nichts anderes als Imperialismus mit chinesischen Merkmalen. China ist kein ‚antiimperialistisches Gegengewicht‘ zum US-Imperialismus, sondern ein rivalisierender Imperialist, der seine sozialistische Geschichte ausnutzt, um internationales Ansehen zu gewinnen.“
„Der russische Imperialismus und der Krieg in der Ukraine“
Der russische Imperialismus sei im Vergleich zum US-amerikanischen (und chinesischen) Imperialismus wirtschaftlich und militärisch schwach. Aber auch ein schwacher Imperialismus sei Imperialismus, und Lenin habe betont, dass die ungleiche Entwicklung des Kapitalismus - ein ökonomisches Gesetz - im Zeitalter des Imperialismus verstärkt werde.
Lenins Imperialismustheorie besage nicht, dass nur die reichsten Länder der Welt oder die größten Kapitalexporteure der Welt imperialistisch sind. Lenin betrachte das Russische Reich 1916 als imperialistisch, obwohl Russlands Wirtschaft relativ rückständig war und obwohl die modernen kapitalistisch-imperialistischen Beziehungen "mit vorkapitalistischen Beziehungen verflochten" waren. Das Monopolkapital sei heute in der russischen Wirtschaft absolut dominant - mehr noch als zu der Zeit, als Lenin Russland 1916 als imperialistisch bezeichnete. Das Monopolkapital sei eng mit dem Staat verflochten, und es sei daran erinnert, dass Lenin das imperialistische Stadium des Kapitalismus in erster Linie als staatlichen Monopolkapitalismus definiert habe.
Daraus ergebe sich, so die Erklärung weiter, dass das russische Monopolkapital mit anderen Monopolkapitalen um die Vorherrschaft in halbkolonialen Ländern Osteuropas und Zentralasiens kämpfe.
Die Rivalität zwischen den Monopolkapitalen sei der Hintergrund für Russlands Krieg gegen die Ukraine. Die Erklärung liege weder in Putins Verstand noch in seinem Wunsch, die Ukraine zu entnazifizieren. Russlands Krieg sei ein imperialistischer Krieg; ein Krieg, um den Zugang zu Märkten, Arbeitskräften und Rohstoffen zu erhalten und zu verhindern, dass diese in die Hände der imperialistischen Konkurrenten fallen. [Leider wird nicht erklärt, wieso dieser Krieg „um Märkte“ auf Kosten des Verlustes der wichtigen Märkte EU und USA geführt wird.] Es werden dann drei Gründe für die Konflikte genannt, die man in Anhang (2) findet.
Daraus ergebe sich, dass die Kommunisten „den Krieg des russischen Imperialismus gegen die ukrainischen Volksmassen“ verurteilen. Sie unterstützten das Recht des ukrainischen Volkes, sich mit Waffen gegen einen imperialistischen Besatzer zu wehren. Zugleich unterstützten sie nicht das Spiel des US-Imperialismus, den Krieg zu einem großen imperialistischen Krieg gegen Russland auszuweiten.
„Zwischenimperialistische Konkurrenz führt zum Krieg“
Eine multipolare Weltordnung mit dauerhaftem Frieden zwischen den Großmächten sei im Zeitalter des Imperialismus nicht möglich, erklären die Kommunisten. Solange das imperialistische Weltsystem bestehe, könne es keinen dauerhaften Frieden geben. Lenin habe festgestellt, dass die Konkurrenz der verschiedenen Monopolkapitale um Rohstoffe und Märkte zu imperialistischen Umverteilungskriegen führen muss und dass Zeiten des Friedens und sogar der Zusammenarbeit zwischen den imperialistischen Mächten nur Kriegsvorbereitungen sein können. Daraus ergebe sich folgender Standpunkt der Kommunisten:
Sich in einer antiimperialistischen Front gegen den westlichen Imperialismus auf die Seite Chinas und Russlands zu stellen, sei ebenso sinnlos wie die Unterstützung des deutschen Imperialismus im Vorfeld des Ersten Weltkriegs.
Die Kommunisten Norwegens unterstützten das internationale Proletariat und alle Völker der Welt, die gegen den Imperialismus kämpfen, und die neuen demokratischen Revolutionen und Volkskriege, die unter kommunistischer Führung geführt werden.
Gleichzeitig betonen sie, dass ihre Hauptaufgabe als Kommunisten in einem imperialistischen Land darin bestehe, gegen ihre eigenen Imperialisten - d.h. den norwegischen Imperialismus mit seinen Verbündeten in den USA und der EU - zu kämpfen und für eine sozialistische Revolution in ihrem eigenen Land zu arbeiten.
„Revolutionäre können sich nicht auf ‚antiimperialistische‘ Mächte verlassen. China und Russland werden sich nicht auf die Seite der Weltrevolution stellen. Das internationale Proletariat muss sich allein auf seine eigenen Kräfte verlassen.“
Soweit also die Haltung einiger Kommunisten der alten Schule. Von diesen Ausführungen kommen wir zu Vorgängen in der aktuellen Weltpolitik, welche für Kommunisten bestätigend sein könnten, für Verfechter des Multipolarismus aber enttäuschend.
New Development Bank – vertritt Interessen des Westens?
Die BRICS-Bank hatte bestätigt, dass sie sich an die westlichen Finanz-Sanktionen gegen Russland beteiligen werde. Das dürfte Einige geschockt haben, welche sich die BRICS-Bank als Bollwerk gegen die Macht des Dollars vorgestellt hatten.
Andrew Korybko erklärt(3), dass dies für Menschen eine Gelegenheit sein könnte, aus ihren Träumen aufzuwachen. Der Autor schreibt, dass die alternative Mediengemeinschaft ihrem Publikum seit Beginn des NATO-Russland-Vertreterkriegs vor siebzehn Monaten vorgegaukelt habe, BRICS stünde angeblich kurz davor, dem Dollar den Todesstoß zu versetzen. Die wichtigsten Einflussnehmer hätten die Rolle der Gruppe bei der Förderung des finanziellen Multipolaritätsprozesses absichtlich übertrieben, um Einfluss zu gewinnen, ihre ideologische Agenda voranzutreiben und/oder Spenden von ihren wohlmeinenden, aber naiven Anhängern zu erhalten.
In Wirklichkeit wolle BRICS das globale Finanzsystem nur schrittweise durch eine Reihe sorgfältig abgestimmter Maßnahmen reformieren, deren Auswirkungen erst nach einer langen Zeit zum Tragen kommen werden, und nicht alles radikal verändern, indem sie der westlich geprägten Finanzordnung de facto den Krieg erklären, mit allem, was dazu gehört. Schließlich befänden sich alle Mitglieder, abgesehen von Russland, in komplexen Interdependenzbeziehungen mit demselben einseitigen System, das sie zu reformieren beabsichtigen.
Was Korybko schreibt, sollte eigentlich jedem bewusst sein, der weiß, wie groß immer noch die in US-Schuldverschreibungen gehaltenen chinesischen staatlichen Vermögenswerte sind, welche durch die USA im Fall eines Krieges mit einem Federstrich getilgt werden könnten.
Daraus folge, so Korybko weiter, dass keines dieser vier Länder jemals vorhatte, die finanziellen Grenzen seiner westlichen Partner zu überschreiten, wie die führenden Vertreter der alternativen Medien fälschlicherweise behaupteten, und damit riskierten, die für beide Seiten katastrophalen Folgen einer so genannten Entkopplung auszulösen. Die Volkswirtschaften der Länder könnten zusammenbrechen, die Bedrohung durch Farbenrevolutionen könnte zunehmen, und die daraus resultierende internationale Instabilität könnte die jeweiligen großen Strategien erschweren.
Dann erklärt der Artikel noch einmal genauer, was passiert war. Die neu ernannte Präsidentin der Neuen Entwicklungsbank (NDB, im Volksmund auch BRICS-Bank genannt), Dilma Rousseff, habe in einer auf ihrem offiziellen Twitter-Account veröffentlichten Erklärung offen gesagt:
"Die New Develompent Bank (NDB) hat bekräftigt, dass sie keine neuen Projekte in Russland plant und unter Einhaltung der geltenden Beschränkungen für die internationalen Finanz- und Kapitalmärkte arbeitet. Jegliche Spekulationen über eine solche Angelegenheit sind unbegründet."
Rousseff sei bis zu ihrer Amtsenthebung im August 2016 im Rahmen der damaligen US-Kampagne für einen Regimewechsel an der Spitze Brasiliens gewesen. Ihre Ernennung zur Präsidentin der BRICS-Bank sei durch den frisch wiedergewählten und nun dreimaligen Präsidenten Lula da Silva von den Top-Influencern einiger alternativen Medien als angeblicher Beweis für ihre geheimen Pläne dargestellt worden, der westlich-zentrierten Finanzordnung de facto den Krieg zu erklären. Die Zuschauer seien auf diese Lüge hereingefallen, weil sie mit ihr sympathisierten und fälschlicherweise glaubten, Lula sei „gegen die USA“.
Diese Medienkonsumenten hätten sich nie vorstellen können, dass ausgerechnet Rousseff es sein würde, die die Welt offiziell darüber informiert, dass die BRICS-Bank die westlichen Sanktionen gegen Russland einhält, und dann alle diesbezüglichen Spekulationen über die Absichten ihrer Gruppe als "unbegründet" abtut. Auf einen Schlag sei unbestreitbar geworden, dass "BRICS nicht das ist, was viele ihrer Befürworter angenommen haben", womit das Weltbild einiger Alternativmedien erschüttert und diejenigen ihrer wichtigsten Einflussnehmer diskreditiert worden sei. Also jenen, die ihre Rolle in der entstehenden Ordnung absichtlich übertrieben hätten.
Natürlich werde es Aussagen geben, dass Rousseff nur "5D-Schach" spiele, um "den Westen zu verunsichern" oder was auch immer, aber dies sei eine Beleidigung der Intelligenz des Publikums. Nichtsdestotrotz sei diese Art von Verschwörungstheorien in den letzten Jahren bedauerlicherweise weit verbreitet, nachdem die Top-Influencer erkannt hätten, dass viele Menschen aus welchen Gründen auch immer verzweifelt an sie glauben wollten.
Die Schritte, die hier vor einem halben Jahrzehnt vorgeschlagen worden seien, würden den verwirrten Medienkonsumenten helfen, ihren Verstand nach all den falschen Erzählungen, die ihnen von vertrauenswürdigen Quellen vorgegaukelt wurden, neu auszurichten. Außerdem sollten sie sehen, ob die genannten Quellen öffentlich Rechenschaft darüber ablegen, warum sie BRICS so falsch eingeschätzt haben. Diejenigen, die dies tun, verdienen Anerkennung dafür, dass sie Verantwortung übernehmen und versuchen, ihre Arbeit zu verbessern, während man denjenigen, die die jüngsten Entwicklungen ignorieren oder die Verschwörungstheorien über das "5D-Schach" wiederholen, nicht mehr vertrauen sollte.
Wie in einer Analyse, die auch in dieser PodCast-Serie diskutiert worden war, über die jüngste Verhaftung von Igor Girkin, dem "5D-Schach" und "Doom & Gloom" [Untergangsszenarien] seien diese Verschwörungstheorien mit gleichermaßen ungenauer Darstellungen der Realität, etwas, vor denen sich die Mitglieder der alternativen Gemeinschaft stets in Acht nehmen sollten. Rousseffs Bestätigung, dass die BRICS-Bank die westlichen Sanktionen gegen Russland einhalte, erschüttere die erste falsche Vorstellung über ihre Rolle bei der Förderung finanzieller Multipolaritätsprozesse, sollte aber auch nicht ausgenutzt werden, um der zweiten, dem Weltuntergangsszenario, Glaubwürdigkeit, zu verleihen.
Diese "politisch unbequeme" Entwicklung bedeute nicht, dass BRICS nicht wichtig ist oder sich an den Westen verkauft habe. Vielmehr bestätige sie lediglich, dass diese Gruppe das Ziel verfolge, das globale Finanzsystem nur schrittweise durch eine Reihe sorgfältig koordinierter Maßnahmen zu reformieren, deren Auswirkungen erst nach langer Zeit zum Tragen kommen werden. Es worden dabe bereits Fortschritte erzielt, auch wenn das Tempo vielen in der alternativen Community nicht gefalle.
China vs Indien – BRICS-Streit?
Korybko warnt dann auch noch davor, eine „angebliche Differenz“ zwischen China und Indien über die Erweiterung von BRICS zu stark zu gewichten. Er schreibt(4), dass China sich vorstelle, dass die BRICS-Mitglieder den Dollar durch den Yuan ersetzen und in die BRI integriert werden, während Indien möchte, dass sie der Verwendung ihrer nationalen Währungen den Vorzug geben und BRICS als Ganzes nicht offiziell in dieses globale Projekt eingebunden werde.
In einem Artikel mit dem Titel "China's Push to Expand BRICS Membership Falters" (Chinas Vorstoß zur Erweiterung der BRICS-Mitgliedschaft scheitert) habe Bloomberg zwei ungenannte indische Beamte zitiert, die behaupteten, ihr Land habe strenge Kriterien für den Beitritt zu BRICS vorgeschlagen, nachdem China angeblich eine vergleichsweise entspanntere Haltung zu diesem Thema eingenommen habe.
Klärung gängiger Missverständnisse über BRICS
Bevor erklärt wird, warum der Bericht wahrscheinlich wahr sei, müsse klargestellt werden, dass die führenden Mainstream-Medien ein offensichtliches Interesse daran haben, diese Meinungsverschiedenheit als ein weiteres Beispiel für die zunehmenden Spannungen zwischen China und Indien darzustellen, weshalb sie ihren Artikel auch so betitelt hätten, stellt Korybko lakonisch fest. Mit dieser Formulierung solle der Eindruck erweckt werden, dass BRICS von China angeführt wird und dass alle anderen Mitglieder Juniorpartner seien. Der Inhalt des Artikels vermittele dann den Eindruck, dass gruppeninterne Streitigkeiten die Zukunft der Gruppe gefährden.
In Wirklichkeit könnte man BRICS eher als eine auf die Finanzen ausgerichtete Form einer trilaterale Gruppe Russland-Indien-China bezeichnen. Diese Gruppe diene als Kern, während Brasilien und Südafrika als ihre wichtigsten Partner außerhalb Eurasiens für die Beschleunigung der finanziellen Multipolaritätsprozesse fungierten. Gemeinsame Ziele würden durch schrittweise Reformen verfolgt, da jedes Mitglied in einer komplexen Interdependenz mit dem westlich orientierten Finanzsystem stehe.
Dies erkläre, warum das Projekt einer Reservewährung von BRICS wahrscheinlich nicht so schnell, wenn überhaupt, in Angriff genommen werde und warum Südafrika dem Druck des Westens nachgegeben habe, Präsident Putin aufgrund seines Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) nicht persönlich, sondern online am nächsten BRICS-Gipfel teilnehmen zu lassen. In diesem Zusammenhang sei auch die jüngste Erklärung der Präsidentin der BRICS-Bank, Dilma Rousseff, zu sehen, die bestätigte, dass ihre Institution die westlichen Sanktionen gegen Russland einhalte und daher keine neuen Projekte in Russland plant.
Der chinesisch-indische Streit über die formale Erweiterung der BRICS
Die alternative Mediengemeinschaft betrachte die oben genannten Tatsachen größtenteils als Rückschläge, da sie von den Top-Influencern darauf vorbereitet worden seien, dass BRICS eine revolutionäre Bewegung ist, die sich der Entthronung des Dollars verschrieben habe, aber das sei eine falsche Wahrnehmung, die aus eigennützigen Gründen propagiert wurde. BRICS sei nach wie vor mehr als fähig, das globale Finanzsystem zu verändern, wenn auch nicht radikal, sondern schrittweise. Zu diesem Zweck setzten ihre Mitglieder die Entdollarisierung und den Aufbau alternativer nicht-westlicher Finanzplattformen fort.
Dennoch gebe es unter ihnen noch Differenzen darüber, wie dies am besten zu bewerkstelligen ist. China sehe vor, dass die Mitglieder der Gruppe den Dollar durch den Yuan ersetzen und sich in die Belt & Road Initiative (BRI) integrieren, während Indien der Verwendung nationaler Währungen den Vorzug geben will, und BRICS als Ganzes nicht offiziell mit diesem globalen Projekt der neuen Seidenstraße verbunden sehen möchte.
Dementsprechend habe China von den neuen Mitgliedern meist nur erwartet, dass sie die Internationalisierung des Yuan und ihre Integration in die BRI beschleunigen, während Indiens Position aufgrund der Komplexität der Priorisierung nationaler Währungen strenger sei. Natürlich werde es in der alternativen Mediengemeinschaft einige geben, die behaupten, dass der jüngste Bericht von Bloomberg angeblich beweise, dass Indien das trojanische Pferd des Westens in BRICS ist, aber das sei eine vollkommen falsche Einschätzung.
Klärung gängiger Missverständnisse über Indien
Anfang Mai sei darauf hingewiesen worden, dass "die Unterschiede zwischen den RIC-Staaten offen zugegeben werden sollten, anstatt sie zu leugnen oder von den Alternativ-Medien verdreht zu werden". Einen Monat später hätten die USA Premierminister Modi trotz seines mutigen Widerstands gegen die Forderungen, Russland zu sanktionieren, sehr herzlich begrüßt. Das habe angeblich dazu geführt, dass "die USA endlich die Vergeblichkeit des Versuchs erkannt haben, Indien zum Vasallentum zu zwingen". Dabei habe diese Entwicklung lediglich bewiesen, so der Autor, dass Indien seinen Aufstieg zu einer weltweit bedeutenden Großmacht vollzogen habe, deren strategische Autonomie im Neuen Kalten Krieg von allen wichtigen Akteuren respektiert werde.
Diejenigen, die immer noch darauf bestünden, dass Indien in multipolaren Foren das trojanische Pferd des Westens ist, widersprechen den Schlussfolgerungen hochrangiger russischer Beamter, die nach der Reise von Premierminister Modi in die USA versicherten, dass die bilateralen Beziehungen nach wie vor stark seien.
Indiens angebliche Forderung nach strengen Kriterien für den BRICS-Beitritt sei daher nicht so negativ zu bewerten, wie die alternative Mediengemeinschaft vielleicht glauben mag, denn sie decke sich wohl mit den Ansichten aller anderen Mitglieder mit Ausnahme Chinas, und ist somit repräsentativ für die Mehrheit und nicht für einen vermeintlichen US-beeinflussten Ausreißer. Auch Chinas Haltung sei nicht verwerflich, denn sie sei gut gemeint, aber Peking stelle in dieser heiklen Frage den Ausreißer dar, nicht Delhi. In jedem Fall werde es wahrscheinlich zu einem Kompromiss kommen. Soweit Korybko.
Fazit
Geopolitik und Weltwirtschaft sind wie ein Tanker. Man kann einen Tanker nicht mal eben anhalten, oder den Kurs um 90° ändern, sondern muss weit vor dem Ziel Maßnahmen ergreifen, um richtig zu landen. Und am Ende müssen einige Schlepperschiffe dafür sorgen, dass er richtig andocken kann. Wir sind mit dem Multipolarismus gerade in der Phase, in der der Tanker eine Richtungsänderung eingeleitet hat, das Ziel aber noch weit entfernt ist und die Schlepper noch gar nicht ihre Arbeit begonnen haben. Mit anderen Worten: Geduld ist gefragt.
Niemanden ist mit einem heftigen Zusammenbruch, ja einem Krieg gedient. Diese Schockpolitik hatte sich zwar im Kapitalismus zur Durchsetzung seiner Ziele bewährt, aber forderte zahlreiche Kollateralschäden unter der normalen Bevölkerung. Deshalb sollten wir froh sein, dass alle Beteiligten an der Entwicklung des Multipolarismus mit Augenmaß die neue Entwicklung betreiben.
Quellen und Zusatzinformationen
Der Autor twittert zu tagesaktuellen Themen unter https://twitter.com/jochen_mitschka
(1) https://www.maoisme.no/2023/04/multipolarism-is-not-anti-imperialism/
(2) „Unter den Konflikten in der Ukraine können wir drei der wichtigsten nennen: - Zwischen dem russischen Imperialismus und dem ukrainischen Volk - Zwischen dem US-Imperialismus, dem EU-Imperialismus und der ukrainischen Kompradorenbourgeoisie auf der einen und dem russischen Imperialismus auf der anderen Seite. - Zwischen dem US-/EU-orientierten Teil der ukrainischen Kompradorenbourgeoisie und dem russisch orientierten Teil der ukrainischen Kompradorenbourgeoisie.
Als Russland in die Ukraine einmarschierte, wurde der erste dieser beiden Widersprüche zum Hauptwiderspruch. Der Widerstandskampf der Ukraine gegen Russland ist in erster Linie ein Krieg der nationalen Verteidigung mit sekundären Elementen eines Stellvertreterkriegs. Das ukrainische Volk wehrt sich gegen den Besatzer, um seine nationale Souveränität zu verteidigen - die Ukrainer sind keine passiven Schachfiguren für die Amerikaner -, doch die Amerikaner nutzen den ukrainischen Widerstand zweifellos aus, um ihre eigenen imperialistischen Interessen in der Ukraine durchzusetzen und ihren Rivalen Russland zu schwächen.“ (1)
(3) https://korybko.substack.com/p/alt-media-is-in-shock-after-the-brics
(4) https://korybko.substack.com/p/explaining-chinas-and-indias-reported
+++ Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags. +++ Bildquelle: shutterstock / GrAl
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