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Buchrezension: „Cancel Culture“ – Michael Meyen über die Mechanismen der heutigen Zensurpraxis

Buchrezension: „Cancel Culture“ – Michael Meyen über die Mechanismen der heutigen Zensurpraxis


Eine Rezension von Eugen Zentner.

Ein wesentliches Merkmal der Romantik-Epoche war die Verwischung von Grenzen. In der künstlerischen Darstellung lösten sich die Konturen auf. Tag und Nacht gingen ineinander über, ebenso Traum und Wirklichkeit. Die Theoretiker forderten eine Verschmelzung von Kunst und Wissenschaft, von Poesie und gesellschaftlichem Leben. Doch die Zeit der Romantik ist lange vorbei. Heute werden Grenzen nicht aufgehoben, sondern gesetzt, immer häufiger und rabiater. Wer nur ein falsches Wort sagt, nur einmal von der herrschenden Meinung abweicht, findet sich sofort auf der äußeren Seite des Zauns wieder. Obwohl ständig von Inklusion die Rede ist, wird massenhaft exkludiert. Der Raum des Sagbaren verengt sich im gleichen Tempo, wie der Digitalkonzernstaat seine Macht ausbaut. Von ihm geht das aus, was wie ein Damoklesschwert über der Demokratie hängt: die Cancel Culture.

Diese These vertritt der Medienwissenschaftler Michael Meyen in seinem gleichnamigen Werk, das nun pünktlich zur Leipziger Buchmesse erschienen ist. Cancel Culture stehe hier für eine „Zensur, die nicht so heißen darf, weil sonst das Grundgesetzt einstürzt wie ein Kartenhaus“, schreibt er und zeigt in der Folge, wie der Digitalkonzernstaat mithilfe der Leitmedien und anderer Institutionen, wenn schon nicht die Grenzen, so doch die Spuren auf der Sprachoberfläche zu verwischen versucht. „Herrschaftsverhältnisse sind heute mehr denn je Definitionsverhältnisse“, schreibt Meyen. „Macht hat der, dem es gelingt, seine Interpretation der Wirklichkeit in der Öffentlichkeit zu platzieren.“ Von solchen schönen Sätzen gibt es in dem Buch reichlich. Sie beschreiben die gesellschaftspolitischen Prozesse so prägnant wie präzise. Ein weiterer lautet:

„Cancel Culture ist ein Programm, das Deutungshoheit sichert und damit Macht.“

Dieses Programm erklärt Meyen auf knapp 80 Seiten, allerdings nicht anhand der Symptome, sondern kleiner Rädchen, die das Getriebe am Laufen halten. Er leuchtet hinein und zeigt die Funktionsweise hinter den Phänomenen. So wird unter anderem erklärt, was der heutige Digitalkonzernstaat unternimmt, um die Öffentlichkeit für sich zu gewinnen bzw. um dort seine Interpretation der Wirklichkeit zu platzieren. Er schafft unter anderem Stellen, er bläht den Apparat auf, lässt mehr Bürger an der Macht partizipieren, instrumentalisiert sie aber im gleichen Zug für deren Aufrechterhaltung. Mittlerweile gibt es ein ganzes Heer an Beauftragten, die „haupt- oder ehrenamtlich auf ganz unterschiedlichen Verwaltungsebenen installiert sind“, schreibt Meyen. Sie sind „wahlweise zuständig für Ausländer, Integration, Diskriminierung, Rassismus, Frauen, Queer, Lesben, Schwule, Inklusion, Antisemitismus, Antiziganismus, Klima, Nachhaltigkeit. Ihre Existenz rechtfertigen sie durch ständige Leitmedienpräsenz, womit sie zugleich eine bestimmte Interpretation der Wirklichkeit platzieren und dadurch bei der Herstellung der gewünschten Definitionsverhältnisse mitwirken.

Ähnliche Mechanismen beschreibt Meyen im Kulturbereich. Eine staatliche Förderung erhalten nur Projekt und Programme, die auf Regierungslinie sind. Die Behörde der derzeitigen Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne)

„finanziert damit nicht nur Anlässe für die Berichterstattung, sondern auch Personal, das sich entsprechend äußern kann und will“.

Beim Canceln und Ausgrenzen greift der Digitalkonzernstaat auch gerne auf das akademische Prekariat zurück. Wer in Redaktionen, Verlagshäusern, PR-Agenturen und anderen Medienberufen eine sichere und feste Anstellung anstrebt, muss mitcanceln. Voraussetzung dafür ist das Mindset der Cancler. Erst wenn die entsprechenden Codes und Denkmuster verinnerlicht sind, können Grenzen richtig und sauber gezogen werden. Andernfalls droht die Gefahr, selber gecancelt zu werden.

Meyen erweitert seine Analysen auf sämtliche Bereiche und veranschaulicht unter anderem, welche Rolle die vermeintliche Online-Enzyklopädie Wikipedia oder der sogenannte Digital Services Act der Europäischen Union spielt. Pate steht bei den Ausführungen der mittlerweile verstorbene US-Politikwissenschaftler Sheldon Wolin, aus dessen «Umgekehrter Totalitarismus» er häufig zitiert. Dort finde sich unter anderem die Antwort darauf, „wie es möglich ist, auch Wissenschaftler und Intellektuelle nahtlos in das System zu integrieren und Widerworte zu verhindern, ohne Kritiker schikanieren oder diskreditieren zu müssen“. Die Auflösung dürfte nach der Hälfte von Meyens Buch kaum überraschen:

„durch eine Kombination aus staatlichen Aufträgen, Unternehmens- und Stiftungsgeldern, gemeinsamen Projekten von Universitäts- und Unternehmensforschern sowie wohlhabenden Einzelpersonen.“

Lange vor Wolin hatte Étienne de la Boétie bereits im 16. Jahrhundert in seiner «Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft» die gleichen Mechanismen beschrieben, allerdings in einer etwas umständlichen Sprache. Meyen hingegen schildert die Zusammenhänge so leichtfüßig und verständlich, dass sich der Eindruck einstellt, man hätte es eigentlich selbst schon immer gewusst. Einige seiner Aussagen sind bereits aus seinen vorherigen Büchern bekannt, unter anderem diejenigen zu dem Begriff „Wahrheitsregime“ und dem dazugehörigen theoretischen Unterbau, für den der französische Philosoph Michel Foucault verantwortlich ist. Was dieser vor knapp sieben Jahrzehnten festgestellt hat, gilt noch heute und führt direkt in den Kaninchenbau der Cancel Culture. Meyen bringt dessen Erkenntnis so auf den Punkt:

„Jede Gesellschaft hat und braucht ein ‚Wahrheitsregime‘ – Techniken, von denen wir annehmen dürfen, dass sie Wahrheit produzieren, Menschen, die befugt sind, diese Wahrheiten zu verkünden, und Mittel, um Abweichler zu sanktionieren.“

Diese Sentenz gibt in verdichteter Form das wieder, wovon Meyens Buch handelt.

Wie lässt sich vor diesem Hintergrund der 5. Artikel des Grundgesetzes beurteilen? Findet eine Zensur wirklich nicht statt? Der Satz habe nur dann Gültigkeit, so Meyen, wenn sein Kernbegriff ganz eng ausgelegt werde – „als eine Vorprüfung, die direkt vom Staat ausgeht und im Extremfall zu einem Verbot von Äußerungen führen kann. Das ist Cancel Culture in nuce, so unromantisch das klingen mag.

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Hier der Link zum Buch: https://www.buchkomplizen.de/buecher/hintergrund-verlag/cancel-culture.html +++

Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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Bildquelle: Lightspring / Shutterstock


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