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Buchrezension: "Im Moralgefängnis"

Buchrezension: "Im Moralgefängnis"


Von der Kultur spalterischen Handelns

Eine Rezension von Eugen Zentner.

Das gesellschaftliche Miteinander ist in den letzten Jahren zum Minenfeld geworden. Bei bestimmten Themen ziehen es Diskussionspartner vor, das gefährliche Terrain lieber zu umgehen. Ob Corona-Politik, Zuwanderung, Ukraine- oder Gaza-Krieg – Freunde, Verwandte und Arbeitskollegen können nicht mehr miteinander reden, wenn sie eine jeweils andere Sicht auf die Dinge haben. Es gibt nur noch ein Dafür oder ein Dagegen. Die Gesellschaft erweist sich als polarisiert und gespalten. Aber wieso ist es so? Wieso enden Meinungsverschiedenheiten heute in bitteren Fehden? Warum können wir nicht mehr gesittet streiten? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der Philosoph Michael Andrick in seinem Essay «Im Moralgefängnis». Der Titel ist Programm und liefert zugleich die Antwort.  

In der Metaphorik der Corona-Jahre spricht Andrick von „Moralin“, mit dem die ganze Gesellschaft infiziert ist. Es handelt sich dabei um ein „kulturelles Virus“, um eine „Verhaltensweise unter Menschen, die das soziale Leben so schädigt wie ein biologisches Virus den Körper“. Wie es sich konkret auswirkt, dürften in den letzten Jahren viele Menschen selbst erfahren haben, insbesondere diejenigen, die den offiziellen Narrativen widersprechen: Der Fokus wird vom Sachverhalt auf die Person verlegt oder auf eine ganze Gruppe, je nachdem, ob es sich um einen privaten oder um einen politischen Fall handelt. Entlang dieser Zweiteilung unterscheidet Andrick zwischen Moralismus (privat) und Demagogie (politisch). Gemeinsam sei ihnen jedoch, dass der Modus der Diskussion immer von „Anfrage auf Anklage“ wechsle, so der Autor.  

In dieser Art der philosophischen Begriffsanalyse fängt Andrick die gegenwärtige Kultur ein und räumt zugleich mit einem Missverständnis auf: mit der Annahme, dass Deutschland gespalten sei. Dieser Wortlaut hat mittlerweile Konjunktur, sowohl in den alternativen als auch in den Mainstreammedien. Andrick entkräftet ihn, indem er sich des Begriffs „Spaltung“ annimmt. Dieser enthält zwei Bedeutungen. Er akzentuiert einerseits den Prozess und andererseits das Produkt. Im Fall der gesellschaftlichen Spaltung wird aber nur der Prozess relevant, wie Andrick scharfsinnig bemerkt. Eine gespaltene Gesellschaft könne es nicht geben, argumentiert er – „ansonsten wären es mehrere Gesellschaften“.  

Die gegenwärtige soziale Situation lässt sich damit so erklären: Die Gesellschaft ist nicht gespalten, sondern handelt spalterisch. Nach Andrick liegt hier das Problem. Und dessen Ursachen liegen in der Kommunikation, das heißt in der Sprache. Sie ist mit Moralin infiziert und führt zum spalterischen Handeln. Andrick bezeichnet diese Kultur als „Regime des Moralismus“. Seine Kennzeichen seien

„Verhaltensweisen wie das gegenseitige Abkanzeln, Stigmatisieren und Umstrittenmachen, aber auch gedanken- und sprachpolizeiliche Initiativen und das Operieren mit Kontaktschuldfantasien“.  

In diesem philosophischen Duktus beleuchtet der Autor das Regime des Moralismus an unterschiedlichen Stellen und veranschaulicht die „Kommunikations-Infektion“ an solchen Phänomenen wie Gendern, Faktenchecking oder dem „Gesinnungsdiktat“. Er arbeitet mit Analogien, plastischen Beispielen wie fiktiven Familienmodellen und thematischen Exkursen, die den Essaycharakter unterstreichen, aber nie den Eindruck erwecken, der Philosoph hätte den Faden verloren. Trotz gedanklicher Sprünge gelingt es Andrick immer wieder, zum Hauptthema zurückzufinden und die vorherigen Erläuterungen als Steine für den weiteren Weg zu legen. Die Leser erfahren auf diese Weise nicht nur viel über das Regime des Moralismus, sondern lernen den Unterschied zwischen Angst und Furcht kennen oder inwiefern es sich bei dem Wort „Hassrede“ tatsächlich um einen Kampfbegriff handelt.  

Mit seinen Ausführungen, das wird schon nach den ersten Seiten deutlich, will Andrick zu einer besseren, das heißt produktiveren und ergiebigeren Diskussionskultur ermutigen. Er spricht dabei nicht nur diejenigen an, die sich auf die Seite der Politik und Medien gestellt haben, sondern auch deren Kritiker. Auch deren Kommunikationsweise zeige Anzeichen einer Moralin-Infektion, so der Autor. Er sagt das so kritisch wie lösungsorientiert:

„Wir können durch möglichst genaue Wortwahl zumindest versuchen, Beschreibung und Bewertung auseinanderzuhalten, wenn wir es darauf anlegen. Und dieser Teil der Übung ist Teil der aufklärenden, um Verständnis ringenden Haltung, die gelingende Kommunikation in einer verfahrenen sozialen Lage wahrscheinlicher macht.“ 

Es muss wieder zu einem Dialog kommen – das ist die Botschaft dieses Essays, in dem Andrick hervorhebt, dass Andersdenkende auch gar nicht eine Einigung erzielen müssen. Diese sei ohnehin nicht das Ziel der Demokratie. Viel eher gehe es um einen Kompromiss im Sinne des Gemeinwohls, also um „das gerade noch erträgliche Maß an Zugeständnissen aller Parteien an die Interessen der anderen um eines Ergebnisses willen, das wir friedlich vereinbaren und für die Zukunft respektieren können“. Es sind Stellen wie diese, die den Essay auszeichnen. Sie dringen zum Kern der Phänomene durch und wirken anregend; sie sind voll von klugen Gedanken und wohlmeinenden Vorschlägen.  

Mit seinen Ausführungen streckt Andrick die Hand aus. Sie sind Ausdruck des Entgegenkommens und zeugen von dem, was er fordert: Respekt. Für den Philosophen ist Respekt das „logische Gegenprinzip“ von Moralisierung. Es ist quasi das „Gegengift, um in der Metaphorik der Medizinsprache zu bleiben. So oder so: Das Regime des Moralismus müsse beendet werden, hält Andrick am Schluss seines Essays fest und entlässt die Leser aus der Lektüre mit einem eindringlichen Appell:

„An uns liegt es, konsequent gleichen Respekt für alle Bürger einzufordern, ihn selbst zu gewähren und dort zu widersprechen und zuwiderzuhandeln, wo wir ihn verletzt sehen.“

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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Bildquelle: rawf8 / Shutterstock.com


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