Vermögensverhältnisse spiegeln Machtverhältnisse
Eine Rezension von Eugen Zentner.
2014 landete der Journalist und Publizist Jens Berger mit «Wem gehört Deutschland?» einen großen Wurf. Das Buch beschrieb die Vermögensverhältnisse im Land und diagnostizierte eine deutliche Diskrepanz zwischen Arm und Reich. Der Traum von einer egalitären Gesellschaft ohne materielle Sorgen neigte sich seinem Ende zu. Zehn Jahre später ist Deutschland wach, aber hochgradig verkatert. Die Corona-, Ukraine- und Energie-Krise haben insbesondere der Mittelschicht arg zugesetzt. Sie erodiert beinahe wöchentlich. Für Berger war es Anlass genug, seinen damaligen Bestseller komplett zu überarbeiten. Die Bilanz fällt vernichtend aus: Die Schere zwischen Arm und Reich ist so weit auseinandergeklafft, dass dringender Handlungsbedarf besteht.
Nach Bergers Recherchen verfügen die 226 wohlhabendsten Deutschen über ein Vermögen, das fünfmal so groß ist wie dasjenige der unteren 40 Millionen Deutschen zusammen. Entlang dieser Verhältnisse entlarvt der Journalist den einen oder anderen Mythos, etwa den von einer breiten Mittelschicht. Selbst wer ein gutes Einkommen hat, muss heute einen enormen Teil davon für die Miete ausgeben. Am Ende des Monats bleibt nicht mehr viel übrig, allen voran denjenigen, die in Großstädten leben. Die Mittel- und erst recht die Unterschicht haben somit Schwierigkeiten, ein Vermögen aufzubauen. Das liegt an den immer höheren Sozialabgaben, die auch darin begründet liegen, dass beispielsweise die Altersvorsorge zunehmend privatisiert wurde. Striche man deren Förderung bei gleichzeitiger minimaler Anhebung des gesetzlichen Beitragssatzes, so Bergers These, stiege die Standardrente. So aber müssen Senioren größtenteils in Armut fristen, ohne auf ein Vermögen zugreifen zu können.
Allerdings ist die kapitalbasierte Altersvorsorge für das Finanzsystem heute systemrelevant, schreibt Berger: „Würde man nur einen kleineren Teil der 2.291 Milliarden Euro, die Versicherungsgesellschaften und Banken den deutschen Privathaushalten über längerfristige Anlageprodukte schulden, abziehen, so würde dies Verwerfungen im Finanzsystem auslösen.“ Damit ist die Antwort auf die titelgebende Frage gegeben. Berger benennt die Besitzer und Superreichen, die milliardenschweren Familiendynastien sowie die Kriegs- und Krisengewinnler der letzten Jahre. Er erklärt, wie sie ihr Vermögen aufgebaut, wie sie es vermehrt haben. Doch das ist nicht unbedingt das, was sein Buch ausmacht. Die Qualität liegt in der Verknüpfung von Vermögen und Macht. Berger erläutert diesen Zusammenhang aus verschiedenen Perspektiven und beschreibt, wie er politisch und gesellschaftlich zum Vorschein kommt: „Wer Vermögen besitzt, hat auch den Hebel in der Hand, gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen und die politische Debatte zu lenken.“
Die wohl größte Macht genießen Versicherungsgesellschaften und Finanzkonzerne, sowohl wirtschaftlich als auch politisch. Sie bestimmen nicht nur die Strategie der Konzerne, an denen sie beteiligt sind, sondern üben auch einen gewaltigen Einfluss auf die Parlamente aus. Warum sie das können, erklärt Berger so: Die meisten Staaten sind bei jenen Konzernen verschuldet und sind auf deren Geld angewiesen, vor allem bei Neuemissionen von Staatsanleihen. Um die Kaufbereitschaft der großen Versicherungsgesellschaften und Finanzinstitute zu steigern, kommt man ihnen auch in politischer Hinsicht gerne entgegen.
Drei Konzerne stechen hier hervor: BlackRock, Vanguard und State Street. Berger widmet ihnen viel Raum und veranschaulicht, welche Macht sie in den letzten Jahrzehnten akkumuliert haben. Von den Vermögen ganz zu schweigen. Diese drei sind im Prinzip an allen großen Unternehmen beteiligt und verdienen immer mit, ob Länder im Zuge von Kriegen zerstört oder danach aufgebaut werden, ob eine Pandemie ausgerufen wird oder eine Energiewende. „Die meisten Aktien befanden sich früher im Streubesitz“, schreibt Berger. „Erst die Konzentration dieses Streubesitzes auf die institutionellen Investoren, die Finanzkonzerne, Fonds, Versicherungen und Banken, hat dazu geführt, dass in den Unternehmen nun die Machtfrage gestellt wurde. Wenn heute mehr als 80 Prozent der Anteile in den Händen der Finanzbranche sind, ist die Machtfrage offensichtlich ein für alle Mal geklärt.“
Die Entscheidungsprozesse über wirtschaftliche Prozesse waren nie undemokratischer als heute, stellt Berger fest. Er beschäftigt sich aber nicht nur mit den Symptomen, sondern zeigt auch die Ursachen. Sie liegen in der Kanzlerschaft Gerhard Schröders, dessen Agenda 2010 den Weg für eine neoliberale Umgestaltung geebnet hat. Während Arbeitsmarktreformen dafür sorgten, dass ein Großteil der Bevölkerung heute immer weniger frei verfügbares Einkommen hat, wurde zugleich die Steuerlast der Vermögenden systematisch heruntergeschraubt.
Solche Geschichtsexkurse sind besonders dann spannend, wenn Berger beispielsweise die Mechanismen der sogenannten Deutschland AG beschreibt und Parallelen zur Gegenwart zeichnet, oder wenn er den Siegeszug der ETFs nachzeichnet und dabei erklärt, welches Machtkalkül sich dahinter verbirgt: „Anders als beim direkten Aktienerwerb geht beim Kauf von Fonds und ETFs das mit dem Besitz von Aktien verbundene Stimmrecht nämlich nicht auf den Kunden über. Nicht Sie, sondern Ihre Fondsgesellschaft übt die mit dem Besitz von Unternehmensanteilen verbundene Macht aus. Ihnen gehört über den Umweg eines ETFs zwar indirekt ein Teil der Unternehmen, Sie haben aber bei diesen Unternehmen nicht mitzubestimmen.“
Aus dieser Neuauflage lässt sich zweifellos viel lernen. «Wem gehört Deutschland?» enthält reichlich ökonomisches Wissen. Es ist klug und zugleich verständlich geschrieben, obgleich der Autor mit betriebs- und volkswirtschaftlicher Terminologie nicht spart. Flankiert werden die Ausführungen mit Grafiken und Statistiken. Im gleichen Atemzug veranschaulicht Berger, wie in der Öffentlichkeit mit allerlei Tricks die wahren Vermögensverhältnisse verschleiert oder verzerrt werden, sodass beispielsweise die Durchschnittsbevölkerung auf dem Papier vermögender aussieht als in Wirklichkeit. Sein Buch erscheint zu einem Zeitpunkt, an dem die deutsche Gesellschaft zutiefst gespalten ist – und wie die Lektüre verdeutlicht nicht nur in politischer und ideologischer Hinsicht. Möglicherweise gibt es auch hier einen Zusammenhang.
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bildquelle: Bartolomiej Pietrzyk / shutterstock
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