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China und die Demokratie: Über den westlichen Irrtum der Deutungshoheit | Von Tom J. Wellbrock

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Ein Standpunkt von Tom J. Wellbrock.

Mit einer aufreizenden Selbstverständlichkeit geht der Westen davon aus, dass seine Interpretation von Demokratie die Einzige ist, die ihre Berechtigung hat. Doch es gibt andere Ausprägungen der Demokratie. Und die sind ganz sicher nicht schlechter.

In Deutschland gibt es – offiziell – eine liberale Demokratie, die sich an folgenden Charakteristika erkennen lässt:

  • allgemeine, freie und geheime Wahlen
  • die Aufteilung der Staatsgewalt bei Gesetzgebung, Regierung und Rechtsprechung auf voneinander unabhängige Organe (Gewaltenteilung)
  • die Garantie der Grundrechte.

Der geneigte Leser mag sich fragen, wo denn in dieser kleinen Auflistung die freie Meinungsäußerung bleibt. Sie ist in der Rubrik der "repräsentativen Demokratie" zu finden:

"Die Opposition ist fester Bestandteil eines solchen demokratischen Systems, zu dem auch die freie Meinungsäußerung samt Pressefreiheit, die Möglichkeit friedlicher Regierungswechsel und der Minderheitenschutz gehören."

Sämtliche hier genannten Punkte sind in Deutschland entweder nicht mehr vorhanden oder stehen in erheblichem Maße auf der Kippe. In diesem Text soll darauf jedoch nicht weiter eingegangen werden, es gibt zum einen schon ein breites Informationsangebot in alternativen Medien, die den zunehmenden Zerfall der liberalen Demokratie umfassend und sehr präzise beschreiben.

Es soll aber zum anderen hier über das grundsätzliche Verständnis von Demokratie gehen. Denn der zutiefst arrogante Irrtum des Westens besteht in der Behauptung, nur seine Interpretation von Demokratie sei die richtige, habe gegenüber anderen Ausprägungen die Deutungshoheit. Mehr noch: Im Westen besteht die Ansicht, jede von der eigenen Form abweichende Demokratie sei überhaupt keine, sondern müsse als Autokratie oder Diktatur bezeichnet werden.

Diese Arroganz verwundert zusätzlich, wenn man den aktuellen Zustand der westlichen Demokratien betrachtet. Das Papier, auf dem sie inhaltlich verewigt wurden, muss täglich geduldiger werden, denn der Kontrast zwischen Theorie und Praxis lässt sich selbst mit fest verschlossenen Augen kaum mehr verdecken. Man riecht, hört und spürt regelrecht, wie die liberale Demokratie, die repräsentative Demokratie, ihrem endgültigen Ende entgegensteuert.

Doch das bedeutet nicht zwingend das grundlegende Ende der Demokratie, denn es gibt sie auch in anderen Formen, die besser funktionieren. Als Beispiel sei der Blick - ausgerechnet! - nach China gerichtet.

Ausgerechnet China!

Für den im Westen, in Deutschland sozialisierten Menschen mag es beinahe schon eine Unverschämtheit darstellen, China und Demokratie auch nur in einem Satz zu verwenden. China, mit seiner übermächtigen Kommunistischen Partei, seinem diktatorischen Präsidenten und dem Einparteien-Prinzip kann unmöglich eine Demokratie sein! Und, ja, vieles in China ist zu kritisieren, es geht hier also nicht um eine generelle Heroisierung des Landes. Das sollte man mit keinem Land machen, denn wer so verfährt, würde dem entsprechenden Land Perfektion unterstellen. Die gibt es aber nicht, also sollte man gewarnt sein, wenn jemand eine solche Verherrlichung eines Landes (welchen Landes auch immer) vornimmt.

Um die Prinzipien der Demokratie, also der Volksherrschaft, zu beleuchten, eignet sich China aber ausgezeichnet, weil es ein Land mit langer Tradition und zahlreichen bedeutsamen Entwicklungen ist. Auffällig ist dabei die Geschwindigkeit, mit der in China Veränderungen entstehen. Man blicke allein auf die technologischen und wirtschaftlichen Sprünge Chinas, die aus westlicher Sicht ein rasantes, schon beängstigendes Tempo zeigen. Bei so viel Weiterentwicklung auf technologischem und wirtschaftlichem Gebiet ist es wenig überraschend, wenn der Westen in China einen Konkurrenten, mehr noch: einen Feind sieht.

Doch mit China ist es wie mit Russland, über das der Journalist Ulrich Heyden in einem Interview einmal sagte:

"Russland existiert nicht, um dem Westen zu gefallen."

Die schnell fortschreitenden Entwicklungen in China – und damit sind wir bei der Demokratie angekommen – wären unmöglich, wenn das Land von einem Diktator regiert werden würde. Diktaturen zeichnen sich durch Trägheit, Gier, Egoismus und Aggressivität aus, nicht durch stetige Weiterentwicklungen aller erdenklichen Lebensbereiche. Wenn sich also ein Land wie China in einem atemberaubenden Tempo entwickeln kann, so sind dafür unzählige Menschen notwendig, Spezialisten, die sich in ihren jeweiligen Bereichen bestens auskennen. Das widerspricht der Vorstellung des Diktators, der von seinem Thron aus sein Land beherrscht, ganz gravierend.

Chinas Demokratie von unten

Ein Land mit 1,4 Milliarden Einwohnern zu regieren, ist kein Kindergeburtstag. Im Jahr 2021 brachte der chinesische Staatsrat (zu dessen Bedeutung weiter unten mehr) ein Weißbuch mit dem Titel "China – eine Demokratie, die funktioniert" heraus. Einen westlichen Betrachter mag schon dieser Titel verwirren, aber China sieht sich durchaus als eine Demokratie. Das Land ist der Schweiz nicht unähnlich aufgebaut. Während es in der Schweiz drei politische Ebenen gibt (Bund, Kantone und Gemeinden) sind es China fünf: die Provinzen (23), die Bezirke (333), die Kreise (2.860), die Gemeinden (41.040) und die Dörfer (ca. eine Million). All diese Ebenen haben Parlamente (Volkskongresse) mit eigenen Abgeordneten, die vom Volk gewählt werden.

Diese Einteilung der politischen Ebenen ist schon aus praktischen Erwägungen heraus sinnvoll, denn wie sollte die politische Führung in Peking es je schaffen, eine Million Dörfer vernünftig zu regieren im Sinne der Gestaltung des Alltages? Das ist schlicht nicht möglich, also mussten praktikable Lösungen gefunden werden.

Der politische Aufbau Chinas

Verordnungen und Gesetze werden in China vom Nationalen Volkskongress erlassen, hohe Beamte werden ebenfalls von dort aus ernannt und abberufen. Der Nationale Volkskongress gibt gewissermaßen die politische Grundrichtung des Landes vor. In den Provinzen werden Abgeordnete gewählt, die sich einmal im Jahr für drei Wochen treffen, 200 von ihnen arbeiten in einem ständigen Ausschuss das ganze Jahr über zusammen. Der Gesamtkongress entscheidet dann über die vorgeschlagenen Prozesse.

Unterhalb des Nationalen Volkskongresses gibt es in China zahlreiche regionale Volkskongresse in den Provinzen, Kreisen und Bezirken. Ende 2020 waren in diesen Kongressen ca. 2,6 Millionen Abgeordnete tätig. Die größte Nähe zwischen Abgeordneten und Volk herrscht in den 41.000 Gemeinden mit ihren eine Million Dörfern. Sowohl die Dorfvorsteher als auch die städtischen Einwohnerkomitees werden direkt gewählt, über Dinge wie Straßenplanung, Schulbauten und andere Vorhaben wird abgestimmt.

Das Sagen hat in China tatsächlich die KPCh. Das heißt aber nicht, dass ihr Generalsekretär Xi Jinping die alleinige Befugnis hat, Entscheidungen zu treffen. Wer daran glaubt, fällt auf die westlichen Narrative herein, denn es wäre faktisch unmöglich, ein Volk mit 1,4 Milliarden Menschen zu führen. Die KPCh wird aber allgemein als Führungspartei anerkannt, wenngleich es innerhalb der Partei – die aus 90 Millionen Mitgliedern besteht – unterschiedliche Strömungen gibt. Andere Parteien haben zusammen nur ca. eine Million Mitglieder.

Anders als in den uns bekannten Parteisystemen ist die KPCh ständig in Bewegung. Regelmäßig werden Sachabstimmungen durchgeführt und interne Wahlen abgehalten. Bis man etwa Generalsekretär wird, vergehen unzählige Prozesse, die jeder, der es zu etwas bringen will, durchlaufen muss. Die 90 Millionen Mitglieder der Partei wählen 2.500 Delegierte für den Parteikongress, die wiederum 350 Mitglieder für das Zentralkomitees wählen, von denen 25 in das Politbüros gewählt werden. Das Politbüro wählt dann den Generalsekretär.

Wahlen ändern nichts …

… sonst wären sie verboten. Als Deutscher kennt man diesen Satz. In China spielen Wahlen in der Tat keine große Rolle (sieht man von den parteiinternen ab). Das kann man als undemokratisch abtun, aber auch pragmatisch betrachten. Sieht man sich das Wahlsystem in Deutschland an, so laufen die Menschen alle paar Jahre zu den Wahlurnen, geben ihre Stimme und damit ihren Einfluss ab müssen ohnmächtig dabei zusehen, dass ihr Wählerwille in der Versenkung verschwindet. Und es gibt ein weiteres Problem. Wenn Parteien mit abweichenden Meinungen die etablierten Parteien bedrohen, weil sie ein gewisses Wählerpotenzial erzeugen, beginnen groß angelegte Kampagnen gegen sie, die nicht nur demokratiegefährend sind, sondern die Wähler der Außenseiterpartei kollektiv verurteilen.

So eine Praxis gibt es in China nicht. Die Macht ist vorgegeben, die Entscheidungen fallen jedoch in möglichst großem Maßstab in kooperativer Art und Weise. Es scheint, als habe das Interesse der Chinesen, auf Entscheidungen, Prozesse und Entwicklungen einzuwirken, in den letzten Jahrzehnten zugenommen. Da es auf vielen Ebenen Partizipationsmöglichkeiten gibt, die auch oft zu ganz praktischem Einfluss auf Entscheidungen führen, kann das kaum überraschen.

Der eigene Weg Chinas

Im Westen ist die Meinung verbreitet, China kopiere Technologien, um dann billige Kopien zu erstellen. Das ist nicht einmal in Bereich der Halben Wahrheit. Allein die industrielle Entwicklung Chinas sollte den Westen vor Neid erblassen lassen, denn wofür die westlichen Länder teilweise Jahrhunderte brauchten, schaffte China in wenigen Jahrzehnten. Gleiches gilt für die vom Westen so oft und theatralisch wiederholten Warnungen hinsichtlich der Menschenrechte. Selbstverständlich ist auch in China nicht alles Gold, was glänzt, doch die Stimmung im Land ist gut, die Zustimmung der KPCh hoch, der Wohlstand wächst, große soziale Unruhen sind daher selten. Wenn man China nicht mit dem Blick auf Mängel oder auch nur formulierte Mängel betrachtet, die in die eigene politische Agenda passen, sondern einen Blick für das große Ganze entwickelt, kann man nur zum Schluss kommen, dass ein Land dieser Größe erst mal schaffen soll, was China geschafft hat und weiterhin schafft.

Im Westen herrscht die Meinung vor, dass nur die eigene Interpretation von Demokratie Gültigkeit haben kann, andere Formen werden kategorisch abgelehnt und gleich als Autokratie oder Diktatur bezeichnet. In Anbetracht der Tatsache, dass sich das westliche Modell der Demokratie im freien Fall befindet und nur noch rudimentär von den zu Beginn dieses Textes genannten Eigenschaften entfernt ist, ist diese Haltung mehr als verwunderlich.

Doch es gibt einen weiteren, geopolitischen Unterschied zwischen China und dem Westen. Während China sich auf die eigene Fortentwicklung konzentriert, strebt der Westen die Ausdehnung seines im Zerfall befindlichen Systems an. Und die Entscheider können gar nicht verstehen, dass es auf der Welt kaum Interesse für dieses Modell gibt. Die meisten anderen Länder haben längst begriffen, dass beispielsweise das gute Image, das Deutschland über Jahrzehnte hatte, heute nur noch eine Mogelpackung ist, deren Inhalt kaum der Verpackung entspricht.

Chinas Ausdehnung sieht anders aus. Das Land investiert in Länder des globalen Südens und schafft dort Infrastruktur und wirtschaftliche Möglichkeiten. Natürlich macht China das auch, um daraus eigene Vorteile zu erzielen. Aber ist das nicht das Prinzip des Handels? Und handelt der Westen denn uneigennütziger? Ganz sicher nicht, im Gegenteil. Man betrachte nur einmal die zahllosen Interventionskriege, die von den USA seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ausgegangen sind. Man blicke nur auf die noch immer praktizierte Kolonialisierungspolitik Frankreichs, die in afrikanischen Ländern mittlerweile auf heftigen Widerstand stößt. Und man höre nur deutschen Politikern zu, die sich moralisch aufbauend für die Ukraine einsetzen und im nächsten Satz erwähnen, man brauche das Lithium des Landes. Dafür, und nicht für Demokratie und Menschenrechte, wird der Krieg in der Ukraine in die Länge gezogen, mit unzähligen Toten.

Guter Handel ist Handel, der beiden Seiten Vorteile bringt, dabei ist China auf einem guten Weg, und zwar mit vollständigem Verzicht auf Interventionskriege, Regime Changes oder teuer bezahlte „Farbenrevolutionen“. Das, was der Westen "Handel"“ nennt, ist nichts anderes als militaristische, imperialistische und andere Länder zutiefst verachtende Zerstörungswut. Der Abgrund zwischen kommunizierter "Werte"-Politik und praktizierter Destruktion wird immer eklatanter und ist auf Dauer nicht haltbar.

Quellen und Anmerkungen

  Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Texter, Podcaster, Moderator und Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen. +++ Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags. +++ Bildquelle: XC2000 / shutterstock


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