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Das Ende der Doppelmoral | Von Roberto J. De Lapuente

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Ein Kommentar von Roberto J. De Lapuente.

Nicht Russland, sondern der zunehmend immer unglaubwürdiger werdende Westen ist in der Welt isoliert.

Endlich mal eine Analyse, die nicht so einfach in Bausch und Bogen der Putinversteherei bezichtigt werden kann. Denn Kai Ambos macht in seinem gestern erschienenen Buch mit dem schlichten Namen „Doppelmoral“ laut und deutlich klar, dass es sich bei der Sonderoperation der russischen Armee in der Ukraine um einen Angriffskrieg, einen enormen Schlag gegen das Völkerrecht handelt. Gleichwohl „darf (dieses Unrecht) nicht blind machen gegenüber den komplexen rechtsstaatlichen Problemen, denen sich (die Ukraine) gegenübersieht. Zu diesen Problemen zählen etwa strukturelle Defizite der Justiz, insbesondere deren mangelnde Unabhängigkeit, und die immer noch grassierende Korruption.“ Diese Missstände heben aber freilich nicht das Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung auf. Der Westen könne somit der Ukraine auch nicht vorschreiben, wann sie diese einzustellen habe, „westliche Gesellschaften dürfen und sollten aber sehr wohl diskutieren, ob, in welcher Form und bis wann die Unterstützung der Ukraine (noch) politisch sinnvoll ist“, legt Ambos völkerrechtlich aus. Überhaupt sei aber die Frage zu stellen, ob der „Westen (…) unter der Führung der USA, der EU und der NATO“ einen Anspruch darauf erheben könne, mittels „Ukraine eine regelbasierte Völkerrechtsordnung zu verteidigen“. Das meint Ambos keineswegs im Sinne des üblichen „Whatsaboutism“, also der Aufrechnung von begangenem Unrecht, ganz im Gegenteil: Er legt dar, warum Verfehlungen dieser westlichen Wertegemeinschaft in der Vergangenheit — aber auch heute noch — dazu führten, dass Russland eben nicht derart isoliert ist in der Welt, wie uns das Medien und Politik seit Monaten weismachen wollen.

Norden gegen Süden: Verschiedene Perspektiven

Zwar hätten 141 von 193 UN-Mitgliedsstaaten der Resolution der UN-Generalversammlung vom 2. März 2022 zugestimmt, in der Russlands Vorgehen als „Aggression“ bezeichnet und „auf das Schärfste“ verurteilt wurde. Aber was Sanktionen und militärische Unterstützung betrifft, so gibt es kein Mehrheitsverhältnis. Nur 38 Länder haben Sanktionen (Stand: 7. Juli 2022) verhängt. Manche davon nur sehr zögerlich und auf Drängen der EU, andere ruderten später wieder rhetorisch zurück.

Nicht zu übersehen ist dabei das Nord-Süd-Gefälle nach dem etwas vereinfachenden Muster „Reicher Globaler Norden und unterentwickelter, armer Globaler Süden“. Letzterer hielte tendenziell eher zu Russland. Ambos sieht darin die Folgen einer historischen Schuld und ein längst manifestes Selbstbewusstsein des armen Südens.

Die regelbasierte Ordnung kann nicht mehr als weltbeglückendes System denjenigen vermittelt werden, denen über lange Zeit hinweg — teilweise über Jahrhunderte — westliche Werte nicht als Segnungen, sondern als Bevormundung und Ausbeutung aufgedrängt wurden.

Dies sei gewissermaßen das „historische Vermächtnis der Kolonialzeit“.

Es mag sein, dass diese Länder, die sich scheuen, Russland zu sanktionieren und zu isolieren, dies „bis zu einem gewissen Grad“ lediglich aus Gründen der schlechten Erfahrungen mit dem Globalen Norden tun. Es gibt eben „ein historisches Erbe, das bis zum Antikolonial-/Antiapartheid-Kampf zurückreicht, wo einige dieser Staaten (zum Beispiel Angola, Südafrika) nur von der ehemaligen Sowjetunion und ihren Verbündeten unterstützt wurden — (…) Moskau spielt diesen Trumpf geschickt aus“.

Gleichzeitig zeigt sich bei den Ländern, die Russland nicht sanktionieren wollen, auch ein gewisses Befremden über eine nördliche Hemisphäre, die immer dann von Werten und Moral spricht, wenn es ihr in den Kram passt, es aber an beiden mangeln lässt, wenn solche Tugenden gerade stören.

Aus diesem Krieg lernen

Der Autor skizziert in der Folge auch zwei Fälle aktueller Doppelmoral, die er „jüngste völkerrechtliche Konsistenzen“ nennt. Zum einen die gemeinsame Absichtserklärung zwischen Finnland, Schweden und Türkei: ein Kuhhandel, der den NATO-Beitritt der beiden skandinavischen Länder an die Bedingung knüpft, kurdische „Terroristen“ ohne Rücksicht auf Menschen- und Flüchtlingsrechte an die Türkei auszuliefern. Zum anderen nennt er die „Draft Bill of Rights“ Großbritanniens, die Menschenrechtverletzungen britischer Streitkräfte für lässlich erklärt.

Beide Beispiele spielen sich synchron zum Konflikt in der Ukraine ab, bei dem NATO, EU und aus der Ferne die USA vorgeben, für eine „regelbasierte Ordnung“ zu stehen, die sich gegen die blanke Willkür des Stärkeren stellt.

Für Kai Ambos sind die Schlussfolgerungen klar „größere westliche Konsistenz im Völker(straf)recht“. Will heißen: Aus diesem Krieg kann der Westen lernen, dass er sich selbst dringend an das Völkerrecht zu halten hat. Dass er das in der Vergangenheit — und parallel zum aktuellen Konflikt — nicht getan hat, führte dazu, dass nicht Russland isoliert ist, sondern der Westen — jedenfalls aus einer moralischen Perspektive.

Man muss nicht in allen Punkten und Aussagen mit Ambos konform gehen. Speziell nicht an jenen Stellen des Buches, wo es nicht um rechtliche Einschätzungen, sondern um politische Taxierungen der Grundprämissen und Ereignisse geht. Das macht das Buch aber vielleicht sogar noch wertvoller. Denn hier spricht sich jemand für den diplomatischen Weg aus, für eine Abkehr vom aktuellen Kurs deutscher und europäischer Außenpolitik, der nicht verdächtigt werden kann, ein „Putinversteher“ zu sein. Die Schrift ruft zu einer differenzierten Betrachtung auf — und adressiert diesen Aufruf an beide Seiten, eben gerade an jene hüben wie drüben, die heute so selbstgerecht im Moralismus schweben und die Doppelmoral ausblenden.

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle: Vitalii Stock/ shutterstock


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