Ein Standpunkt von Paul Soldan.
Nigeria: Ein Land der Extreme und der Zerrissenheit. Obszöner Reichtum beherrscht die Nation genauso wie grassierende Armut – beides verbunden mit enormer Gewalt. Mit mehr als 230 Millionen Einwohnern ist es das mit Abstand bevölkerungsreichste Land Afrikas (1) und knapp vor Ägypten auch die größte Volkswirtschaft auf dem Kontinent (2). Zwei Konflikte, die zunächst grundverschieden anmuten, halten die Gesellschaft in Atem: Der eine, ein 50 Jahre alter Bürgerkrieg um Souveränität, dessen Schrecken bis zum heutigen Tag keinen Weg in die nationalen Geschichtsbücher gefunden haben – der andere, ein Kampf um die kompromisslose Durchsetzung der weltweiten Agenda der Digitalisierung. Tatsächlich befindet sich das Land im Bereich der digitalen Währung und Identität schon deutlich weiter als viele andere Staaten. Gibt es zu den beiden Konflikten eine verbindende Klammer?
Die Region des heutigen Nigerias ist seit mindestens zehntausend Jahren besiedelt, wie archäologische Funde aus den südlichen Landesteilen zeigen. Im Verlauf dieser langen Geschichte entwickelten sich verschiedene Großreiche, unter anderem das Songhaireich, das Königreich Oyo der Yoruba, die Aro-Konföderation der Igbo oder das Kalifat von Sokoto. Durch den Handel mit dem muslimischen Norden Afrikas sowie den Ländern aus Zentralafrika wurde in der Folge das Gebiet zu einem der Handelsdrehkreuze auf dem Kontinent und führte die Reiche zu beachtlichem Wohlstand. Ende des 15. Jahrhunderts kamen die Portugiesen an die nigerianische Küste und stiegen in den florierenden Handel mit ein – auch in den bereits existierenden Sklavenhandel. (3) Großbritannien war wirtschaftlich seit Ende des 17. Jahrhunderts an der afrikanischen Westküste tätig. 1861 annektierte es die Stadt Lagos – damals wie heute Handelszentrum der Region – und weitete sein koloniales Territorium in den folgenden Jahrzehnten bis zur vollständigen Kolonisierung des Landes aus. Im Jahr 1954 erhielt Nigeria zum ersten Mal ein geringes Maß an Selbstverwaltung. Diese vergrößerte sich in den darauffolgenden Jahren, bis das Land schließlich am 1. Oktober 1960 von Großbritannien in die Unabhängigkeit entlassen wurde. (4)
Eine künstliche Nation
Die neue Bundesrepublik Nigeria ließ zunächst die politischen Strukturen aus der Kolonialzeit bestehen. Elisabeth II. blieb nominelles Staatsoberhaupt, Abubakar Tafawa Balewa blieb Premierminister, Lagos blieb Hauptstadt und die Zentralregierung nach britischem Vorbild hatte drei große Bundesstaaten unter sich. (5)
Mit seinen mehr als 250 verschiedenen Bevölkerungsgruppen, die teilweise wenig miteinander gemeinsam hatten, war der neu geschaffene Staat jedoch ein äußerst künstliches Gebilde. Dieses hatte so zuvor noch nie existiert und barg dadurch ein gewaltiges Konfliktpotenzial in sich. Die neue nigerianische Elite stand nun vor der Herausforderung, die verschiedenen Ethnien in einem politischen System, welches bis dato nie Teil der jeweiligen Kulturen war, zu repräsentieren und zu einen, ihnen ein gleichberechtigtes Mitspracherecht zu gewähren und für eine gerechte Verteilung zu sorgen. Dies gelang nicht, da der Kampf um Vormachtstellung und Zugänge zu Ressourcen sowie enorme Korruption den politischen Alltag prägten – insbesondere zwischen den Haussa und Fulani im Norden, den Yoruba im Westen und den Igbo im Südosten.
Als Resultat aus einem Konflikt zwischen den Offiziersgenerationen putschten am 15. Januar 1966 Igbo-Offiziere um Major Chukwuma Nzeogwu den aus dem muslimischen Norden stammenden Premierminister Balewa (6). Der Armeechef Johnson Aguiyi-Ironsi, ebenso Igbo aus dem Südosten, schlug den Putsch kurz darauf nieder, setzte die Verfassung außer Kraft und löste das Parlament auf. Am 29. Juli erfolgte wiederum ein Gegenputsch unter der Leitung des aus dem Norden stammenden Murtala Mohammed (7) – General Yakubu Gowon wurde zum neuen Militär- und Staatsführer ernannt, wie Balewa zuvor wurde auch Aguiyi-Ironsi umgebracht (8). In der Folge brachen im ganzen Land Pogrome aus – am verheerendsten im muslimischen Norden. Zwar richteten diese sich gegen alle Menschen aus dem Südosten, traf aber mehrheitlich die Igbo. Insgesamt kamen dabei etwa 30.000 Menschen ums Leben und schätzungsweise 1 Million flohen in den Südosten. Als Reaktion auf diese Pogrome rief Chukwuemeka Ojukwu, damaliger Militärgouverneur der Ostregion, am 30. Mai 1967 die Republik Biafra aus (9).
Der Biafra-Krieg
In den frühen Morgenstunden des 6. Juli 1967 überschritten nigerianische Truppen die Grenze zu Biafra und begannen damit einen zweieinhalb Jahre anhaltenden Bürgerkrieg. Dieser eigentlich rein regionale Konflikt bekam jedoch schnell eine internationale Tragweite, da im Nigerdelta Ende der 1950er-Jahre reichhaltige Erdölvorkommen entdeckt worden waren und welche sich nun auf biafranischem Gebiet befanden. Die internationale Unterstützung der beiden Kriegsparteien hätte unterschiedlicher nicht ausfallen können. Zwar wurde Biafra unter anderem von Frankreich, Israel und Portugal teilweise auch mit Rüstungsgütern unterstützt, diese Engagements fanden jedoch eher verdeckt statt. Allerdings war dies mit der Unterstützung, die Nigeria erhielt, nicht zu vergleichen.
„Er kommt so schnell, der Vogel des Todes aus bösen Wäldern sowjetischer Technologie. Ein Mann, der über die Straße geht, um einen Freund zu begrüßen, ist viel zu langsam. Sein in zwei Hälften gerissener Freund hat nun andere Sorgen als ein freundliches Händeschütteln am Mittag.“ (10)
So schrieb damals Chinua Achebe, einer der größten Vertreter der modernen afrikanischen Literatur, über den Biafra-Krieg. Aber nicht nur die Sowjetunion versorgte Nigeria mit Waffen, sondern auch die USA, Polen, Spanien sowie sein ehemaliger Kolonialherr Großbritannien. Letzterer betrieb darüber hinaus auch intensive Lobbyarbeit, um die internationale Meinung auf die nigerianische Seite zu ziehen (11).
Nach einer erfolgreichen Invasion Biafras Anfang 1968 erklärte Staatsführer Gowon schließlich den „totalen Krieg“ gegen Biafra. Bis dahin waren die militärischen Einsätze immer nur als „Polizeiaktionen“ bezeichnet worden. (12) Das Wort „Krieg“ wurde vermieden, eine Vorgehensweise, die heute sehr an Russlands „militärische Sonderoperation“ (13) in der Ukraine erinnert. Militärisch war aber Nigeria Biafra haushoch überlegen, was nicht zuletzt auch an der erheblichen Unterstützung aus West und Ost lag. Die Hauptstadt Enugu im Norden fiel nach wenigen Monaten, die Hafenstadt Port Harcourt im Süden kurz darauf. Im Anschluss daran errichtete Nigeria eine Land- und Seeblockade, wodurch die rund 10 Millionen Biafraner fortan auf einem immer enger werdenden Gebiet eingeschlossen und von Nahrungsmittellieferungen abgeschnitten waren. Hunger wurde zur Kriegswaffe. Was folgte war eine humanitäre Katastrophe, deren Höhepunkt im Sommer 1968 erreicht wurde, als bis zu 10.000 Menschen pro Tag am Hunger starben.
Diese Zahlen lösten im Westen eine gewaltige Betroffenheit aus. Auf sämtlichen Titelseiten der großen Magazine waren plötzlich Bilder mit abgemagerten und an Kwashiorkor leidenden Kindern abgebildet (14). Kwashiorkor oder Hungerödem ist eine Form der Protein-Energie-Mangelernährung. Charakteristisch dafür sind die sogenannten, durch Wassereinlagerung verursachten „Hungerbäuche“. Speziell europäische und amerikanische Hilfswerke organisierten daraufhin Luftbrücken mit Lebensmitteln und Medikamenten. Ferner nahm auch die Kritik an den westlichen Waffenlieferungen zu, woraufhin sich verschiedene aktivistische Bewegungen gründeten. Neben vielen anderen gehörten dazu auch der Kreis um Jean Paul Sartre, der ehemalige französische Außenminister Bernard Kouchner sowie Jean Ziegler. (15)
Zu dieser Zeit begannen sich auch Frankreichs verdeckte Operationen zu intensivieren. Unter der Leitung von Jacques Foccart – Generalsekretär der französisch-afrikanischen Gemeinschaft und enger Vertrauter des französischen Präsidenten Charles de Gaulle – sowie mithilfe des französischen Verteidigungs- und Außenministeriums gelangte von Gabun, der Elfenbeinküste und São Tomé aus der Waffennachschub nach Biafra. Erstaunlich war, dass jeder der frankophonen nigerianischen Nachbarstaaten – Kamerun, Benin, Tschad und Niger – die Zusammenarbeit mit Foccart ablehnte. (16) Insgesamt wurde die Republik Biafra lediglich von Tansania, Gabun, der Elfenbeinküste, Zaïre (heute Demokratische Republik Kongo) sowie von Haiti, als einziges nichtafrikanisches Land, offiziell anerkannt (17).
Tragischerweise hat die französische Unterstützung am Ende dazu beigetragen, dass sich die für Biafra unausweichliche Niederlage noch mehr als ein Jahr hinauszog. Wodurch sich die Anzahl an Opfern unnötig vergrößerte. Am 15. Januar 1970 erfolgte schließlich die Kapitulation; Biafra wurde wieder Teil des nigerianischen Staates. Konkrete Todeszahlen existieren bis heute nicht; je nach Schätzung verloren zwischen 1 und 3 Millionen Menschen ihr Leben – davon größtenteils Zivilisten durch die Hungerblockade.
Keine Sieger, keine Besiegten
„Die offiziellen Stellen wollen sich nicht mit ihrer eigenen Geschichte auseinandersetzen – vor allem nicht mit der Geschichte, über die du unglücklich bist. Aber wenn du dich nicht mit deiner Vergangenheit auseinandersetzt, wirst du die Zukunft vermasseln.“ (18)
So lauteten die warnenden Worte des nigerianischen Literaturnobelpreisträgers Wole Soyinka, den Massenmord an den Biafranern nicht unaufgearbeitet zu lassen.
Der Austausch zwischen den Ethnien kehrte relativ schnell wieder – die treibende Kraft dafür war der Handel. Igbo gingen wieder zurück in den Norden, ebenso wie Menschen aus dem Norden zurück in den Süden kamen. Nichtsdestotrotz besteht die innere Spaltung Nigerias bis heute fort. „Wie schon damals gibt es den Süden und den Norden“, wie Eghosa Osaghae, Professor für Vergleichende Politik an der Universität Ibadan, feststellt. Die kulturell-religiösen Linien sind unverändert und prägen nach wie vor das Zugehörigkeitsgefühl; die Schaffung einer kollektiven nigerianischen Identität ist weiterhin schwierig. Uchenna Chikwendu, die den Biafra-Krieg als Jugendliche miterlebte, bestätigt dies. Die mittlerweile 70-Jährige kann mit dem „Konzept Nigeria“ nach wie vor nicht viel anfangen: „Als Nigerianerin fühle ich mich gar nicht. Da gibt es nichts, worauf ich stolz sein kann. Ich bin nur froh, Igbo zu sein.“ (19)
Die Wiedereingliederung Biafras folgte Staatsführer Gowons Devise: keine Sieger, keine Besiegten. Dadurch sollte die Rückkehr in den nigerianischen Staat erleichtert und der Hass überwunden werden. Die praktische Umsetzung bedeutete: Rückkehr zur Tagesordnung – Biafra und der Krieg sollten schnellst möglich unter dem Mantel des Schweigens vergessen werden. Aus diesem Grund fand das Thema zukünftig auch keinen Weg in den Lehrplan. Die katholische Ordensschwester Chidiebere Umeasiegbu erinnert sich: „Nie haben wir in der Schule über Biafra gesprochen. Zwar wussten wir, dass es einen Krieg gegeben hatte. Die Gründe dafür kannten wir aber nicht. Nur manchmal haben ältere Menschen ein wenig darüber gesprochen, wie die Kinder gestorben sind.“ (20)
Terror und Armut
Seit einigen Jahren werden die Rufe nach einem unabhängigen Biafra wieder lauter – die Bewegung „Indigenous People of Biafra“ (IPOB) agitiert für eine neue Unabhängigkeit. Viele Leute aus der Region fühlen sich benachteiligt und abgehängt – besonders die Menschen unter 25, die etwa 70 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Ihrer Überzeugung nach sei die Region des ehemaligen Biafras die unterentwickelste in ganz Nigeria. Eine Ansicht, die Osaghae jedoch nicht teilt. Der Norden des Landes stehe bei Bildung, Armutsbekämpfung und Gleichberechtigung der Geschlechter deutlich schlechter da, so der Politikprofessor. (21)
2017 wurde die IPOB von der Regierung als Terrororganisation eingestuft. Seitdem sind Biafra-Aktivisten teils schwerster Gewalt ausgesetzt, darunter willkürliche Verhaftungen, Entführungen bis hin zu Erschießungen. Laut der „Gesellschaft für bedrohte Völker“ sollen so im Zeitraum von August 2015 bis April 2017 180 Aktivisten umgebracht worden sein (22). Dieses gnadenlose Vorgehen sowie die immense Wohlstandsschere, nicht nur in der Südost-Region, haben im ganzen Land mittlerweile verschiedene Bürgerwehren und Terrorgruppen hervorgebracht.
Neben „Boko Haram“ und dem „Islamischen Staat Provinz Westafrika“, die ihre Anschläge vorwiegend im verarmten Norden durchführen, sind im ölreichen Nigerdelta die „Niger Delta Avengers“ und die „Niger Delta Revolutionary Crusaders“ aktiv. Eines der Hauptziele ihrer Angriffe ist die Zerstörung von Erdölanlagen, um die Wirtschaft in eine Rezession zu stürzen, wie sie selbst angeben. (23)
Der enorme Reichtum an Öl und Gas hat Nigeria zur größten Volkswirtschaft des Kontinents werden lassen. Jedoch hat dieser Reichtum auch zu einer „organisierten Plünderung des Staates geführt“ – die Folgen sind eine extreme Umweltverschmutzung durch die Förderung sowie eine immer weiter auseinandergehende Kluft zwischen Arm und Reich (24). So hat die größte Volkswirtschaft des Kontinents im Jahr 2018 Indien als Land mit den meisten Menschen in extremer Armut abgelöst (25).
Monetäre Durchdringung
Wie in den meisten afrikanischen Ländern ist auch in Nigeria die Anzahl an Menschen ohne Bankkonto relativ hoch und liegt bei etwa 50 Prozent. Um diese „finanziell einzugliedern“, ihnen einen größeren „Zugang zu Finanzdienstleistungen“ zu verschaffen und zudem die „Wirtschaft des Landes anzukurbeln“, hat Nigeria im Oktober 2021, als eines der ersten Länder überhaupt, eine eigene CBDC – Abkürzung für digitale Zentralbankwährung – namens eNaira eingeführt – so zumindest die offizielle Verlautbarung der CBN, der Zentralbank von Nigeria. (26)
Nach Hassan Mahmud, Direktor für Geldpolitik der CBN, verfolge der eNaira das Ziel, die geldpolitische Durchdringung zu verbessern, indem viele Sektoren der Wirtschaft, die sich bislang noch außerhalb des Bankensystems befinden, in dieses einbezogen werden. Godwin Emefiele, bis vor kurzem noch CBN-Gouverneur, ergänzt: „Es hat sich in der Entwicklung des Geldes viel getan, von der Ware zum Metall, dann zum Papier, zum Plastik, und nun reden wir von digital. Wir müssen also mit der Entwicklung in der Welt Schritt halten.“ (27)
Da Nigeria aber eines der ersten Länder mit einer eingesetzten CBDC ist, dürfte der damalige Druck, in der Welt Schritt halten zu müssen, noch nicht übermäßig hoch gewesen sein. Viel eher wirkt es so, als ob Nigeria zu einem der globalen Versuchsfelder zählt, um Erkenntnisse zu gewinnen, ob oder wie gut die Menschen dieses neue Währungssystem akzeptieren. Schließlich ist der Umbau des derzeitigen Finanzsystems hin zu digitalen Zentralbankwährungen der große geldpolitische Wandel, der sich momentan auf dem gesamten Globus vollzieht. Der Internationale Währungsfonds hat vor kurzem sogar erklärt, an der Entwicklung einer einzigen, digitalen Weltwährung zu arbeiten (28).
Laut dem CBDC-Tracker des „Atlantic Council“ befinden sich momentan 120 Staaten in unterschiedlichen Einführungs- und Testphasen. Neben Nigeria haben auch Jamaika, die Bahamas sowie die Ostkaribische Währungsunion der kleinen Antillen bereits eine CBDC eingeführt. 18 weitere Staaten – darunter China, Japan, Russland, Schweden, Australien, Indien, Südafrika und Ghana – befinden sich bereits in der Pilotphase, weswegen mit einer Einführung zeitnah zu rechnen ist. Laut Bundesfinanzministerium (BMF) führt die EZB bis zum Herbst 2023 eine Untersuchungsphase für die Eurozone durch, nach welcher über den Eintritt in eine Implementierungsphase, entschieden wird (29).
Zwar gibt das BMF an, dass der digitale Euro das Bargeld nicht ersetzen, sondern nur ergänzen soll, blickt man aber auf Nigeria, erscheint diese Aussage zweifelhaft. Dort wird nämlich das Bargeld, das für Menschen ohne Bankkonto überlebensnotwendig ist, gnadenlos bekämpft – insbesondere, da der eNaira mit einer Nutzung von weniger als 2 Prozent nach wie vor ein Flop ist (30).
Ab dem 1. Februar wurde dann schlagartig das Bargeld knapp, nachdem neue Naira-Banknoten eingeführt wurden, die aber nicht in ausreichender Menge gedruckt worden waren. Bis zum 31. Januar hatten die Menschen Zeit, ihre alten Nairas zurückzugeben. Da es anschließend jedoch nicht genügend neue Banknoten gab, wurde daraufhin die abhebbare Geldmenge auf maximal 100.000 Naira pro Woche begrenzt. Nach damaligem Kurs entsprach das etwa 225 Dollar pro Woche beziehungsweise 45 Dollar pro Tag. Durch diese extreme Verknappung wurde Bargeld zu einer Handelsware und war nur noch gegen Aufpreis erhältlich. Mary Imasuen, Bitcoin-Podcast-Moderatorin aus Nigeria, erklärte dazu Anfang Februar: „Im Moment wird Geld für Geld verkauft“. (31)
Viele Nigerianer hat diese chaotische Politik in existenzielle Not gebracht, da einfachste kleine Geschäfte nicht mehr getätigt werden konnten. Zudem hat auch die Wirtschaft, die offiziell durch den eNaira ja eigentlich angekurbelt werden sollte, schweren Schaden genommen. Der Oberste Gerichtshof hatte dann Anfang März entschieden, die Frist zu verlängern, sodass die alten Banknoten noch bis Ende des Jahres genutzt werden dürfen (32). In diesem Zusammenhang ebenfalls brisant ist die jüngste Festnahme des CBN-Gouverneurs Godwin Emefiele, der formal einer der Hauptverantwortlichen für die Misere war. Dieser wurde am 9. Juni vom neuen Präsidenten Bola Tinubu abgesetzt und einen Tag später vom Geheimdienst verhaftet. Die Vorwürfe wurden nicht öffentlich gemacht – laut einer Pressemitteilung der Regierung seien die Gründe für die Suspendierung „eine laufende Untersuchung seines Amtes“ sowie „geplante Reformen im Finanzsektor“ (33).
Nach all dem haben viele dem Druck der Regierung, von Bargeld auf eNaira umzusteigen, trotzdem nicht nachgegeben. Diejenigen, die es sich leisten konnten, wichen auf Bitcoin und andere Kryptowährungen aus. Wobei in Nigeria die Nutzung von Bitcoin und Co. auch schon vor der Bargeldbeschränkung zur stärksten weltweit zählte. Auch ein 2021 erlassenes Verbot, mit Kryptos zu handeln, scheint nicht viel bewirkt zu haben (34).
Was der eNaira schlussendlich für die Gesellschaft bedeuten würde, kommentierte der nigerianische Informatiker Heritage Falodun im Februar wie folgt: „Die Nigerianer müssen jetzt wissen, dass die CBDCs da sind und dass die Regierung langsam aber sicher den Zugang zu Bargeld immer weiter einschränken wird, bis es ganz weg ist und sie jedem die finanzielle Freiheit genommen hat.“ (35)
Digitales ID-Programm
Vom Voranschreiten der Digitalisierung ist jedoch in Nigeria nicht nur das Geld betroffen. Mit dem „Nigerian national ID program“ wird seit mehreren Jahren ein digitales Identitätssystem aufgebaut. Verwaltet wird dieser Prozess von der Nationalen Kommission für Identitätsmanagement (Nimc) – mit 433 Millionen US-Dollar gab es zudem finanzielle Starthilfe von der Weltbank, der EU und der Französischen Agentur für Entwicklung. Auf Grundlage einer 11-stelligen Identifikationsnummer (NIN) soll jedem Einwohner ein digitales nationales Profil angelegt werden, über das man ein Leben lang identifiziert werden kann, so Nimc-Generaldirektor Aliyu Aziz Abubakar. (36)
Zusammen mit der 2014 eingeführten „Nigeria national ID card“ soll die NIN künftig für die öffentliche Teilhabe obligatorisch werden sowie auch weite Bereiche privater Dienstleistungen mit einbeziehen. Unter anderem benötigt man die NIN bereits bei der Eröffnung eines Bankkontos, bei der Beantragung eines Führerscheins, beim Wählen, beim Abschluss einer Krankenversicherung, bei der Abgabe der Steuererklärung sowie bei der Nutzung einer SIM-Karte. Die ID-Karte, deren Herausgeber MasterCard ist, fungiert daneben als Ausweis- und Reisedokument sowie als Bezahlkarte.
Vollends überzeugt hat das Programm die nigerianische Bevölkerung trotz jahrelanger Werbung bislang aber noch nicht. Stand jetzt haben weniger als die Häfte ihre NIN-Registrierung vorgenommen. Viele sorgen sich um Datenschutz und Privatsphäre. Dementsprechend nimmt der Druck der Regierung seit Jahren zu – die Rigorosität erinnert an den eNaira. So wurden Anfang April 2022 rund 73 Millionen SIM-Karten gesperrt, da sich die Nutzer geweigert hatten, ihre Mobilnummer mit ihrer NIN zu verknüpfen (37). 2020 hatte die nigerianische Telekommunikationsaufsichtsbehörde erklärt, dass alle aktiven SIM-Karten mit der NIN verbunden werden müssen. Nachdem die Frist, die aufgrund des geringen Umsetzungswillens mehrfach nach hinten verlegt worden war, am 31. März endete, konnten die betroffenen Nutzer keine ausgehenden Anrufe mehr tätigen.
Jedoch nimmt durch derartige Maßnahmen die Skepsis zu den staatlichen Digitalisierungsprogrammen nur weiter zu. „Ich werde meine Nummern nicht mit meiner NIN verknüpfen“, erklärte die Menschenrechtsaktivistin Aisha Yesufu gegenüber Reuters im August 2021. Da Nigeria keine Datenschutzgesetze habe, seien ihre Daten nicht geschützt. Auch viele andere Leute befürchten, dass ihre Daten nicht sicher sind und potenziell abgeriffen werden könnten. Maßgebend dafür ist die weit verbreitete und seit vielen Jahren ansteigende Korruption. Im internationalen Korruptionsindex von Transparency International rangiert Nigeria derzeit auf Platz 150 von 180 (38). Chinonso Chime, IT-Berater aus Enugu, sagte dazu: „Wir haben vielleicht keine Privatsphäre mehr, denn die Regierung könnte unsere Gespräche überwachen und unsere Daten sogar an Geschäftsleute und Organisationen verkaufen.“ Er traue der nigerianischen Regierung im Umgang mit den Daten der Bürger einfach nicht. (39)
Ein neuer Bürgerkrieg
Welche Verbindungen bestehen nun zwischen den unaufgearbeiteten Verbrechen des Biafra-Krieges und dem aggressiven Durchsetzen der Digitalisierung? Gibt es überhaupt welche? Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass sich nach über 60 Jahren die Bundesrepublik Nigeria als multiethnisches und multikulturelles Land alles andere als geeint hat. Durch Korruption, Vetternwirtschaft und absoluter Rücksichtslosigkeit ist es dem Staat bis zu diesem Zeitpunkt nicht gelungen, ein tatsächliches Zugehörigkeitsgefühl in der breiten Bevölkerung zu ihm aufzubauen. Unter diesen Gesichtspunkten scheint das Misstrauen der Bürger durchaus gerechtfertigt zu sein.
Darüber hinaus entstand nach der Kolonialzeit 1960 eine politische Führungsschicht, die plötzlich noch nie gekannte Macht über ein riesiges, künstliches Territorium besaß. Ist es denkbar, dass es dieser neuen Elite gar nicht möglich war, diese Vielzahl an unterschiedlichen Interessen unter einen Hut zu bringen – selbst wenn es damals eine echte Motivation dafür gegeben hätte? Zudem blieben die kolonialen Strukturen verdeckt erhalten, auch wenn sich die Kolonisatoren formal zurückgezogen hatten. Die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie drückte einst das „Dilemma“ des afrikanischen Staates wie folgt aus:
„Beginnen Sie die Geschichte mit den Pfeilen der amerikanischen Ureinwohner und nicht mit der Ankunft der Briten, und Sie erhalten eine ganz andere Geschichte. Beginnen Sie die Geschichte mit dem Scheitern des afrikanischen Staates und nicht mit der kolonialen Erschaffung des afrikanischen Staates, und Sie erhalten eine ganz andere Geschichte.“ (40)
An der mangelnden Identifikation sowie dem Misstrauen zum Staat dürfte auch die fehlende Vergangenheitsbewältigung seinen Anteil besitzen. Die Antwort auf die Frage, ob oder wie schnell sich wieder ernsthaftes Vertrauen in eine politische Führung herstellen lässt, die den Tod von Hundertausenden bis Millionen zum Machterhalt billigend in Kauf nimmt, bleibt hier offen. Wie viele Stimmen jedoch zeigen, scheint bis heute kein flächendeckendes Vertrauen vorhanden zu sein – nicht nur von den Menschen im Südosten, sondern im ganzen Land. Was nicht verwunderlich ist, wenn man sich das erbarmungslose Vorgehen der Regierung bei der Digitalisierung ansieht.
Besteht hier möglicherweise die verbindende Klammer – bei der Erbarmungslosigkeit, politische Interessen und Macht durchzusetzen? Kann jenes fehlende Regulativ, dass die menschenverachtende Kriegsstrategie, die eigene Bevölkerung auszuhungern, nicht nur nicht aufgearbeitet bleibt, sondern dass auch deren Verantwortlichen nie zur Rechenschaft gezogen wurden, eine Grundlage bilden, dass der Machtapparat knapp 55 Jahre später erneut mit enormer Verachtung, wenngleich in anderer Ausprägung, gegen die Interessen der eigenen Bevölkerung vorgeht? Als neue Art von Bürgerkrieg?
Am Ende der Digitalisierung wartet auf der Seite der Bürger der Verlust von Natürlichkeit, Freiheit und Lebendigkeit – auf der Seite des Staates wartet dagegen die absolute Kontrolle. Folglich findet gerade ein Kampf um Freiheit statt, nur dieses Mal nicht von unten nach oben, sondern von oben nach unten. In diesem Sinn kann die gnadenlose Durchsetzung der Digitalisierung – der Kampf um beziehungsweise gegen die Freiheit – ebenso als Bürgerkrieg verstanden werden – nur eben in neuer Form. Die nigerianische Gesellschaft wehrt sich aktuell dagegen: mit Vermeidung, mit Umgehen und auch mit Gewalt. Dass auf dieser Grundlage die Spaltung überwunden werden kann und sich eine nationale Einheit bilden lässt, bleibt dabei aber fraglich.
Literaturempfehlung: Bei Interesse an der Biafra-Thematik empfiehlt der Autor den preisgekrönten und überaus berührenden Roman „Die Hälfte der Sonne“ von Chimamanda Ngozi Adichie. (41)
Quellen
(1) https://www.cia.gov/the-world-factbook/countries/nigeria/#people-and-society
(3) https://www.was-war-wann.de/laender/nigeria.html
(4) https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_Nigerias
(5) Ebd.
(6) https://de.wikipedia.org/wiki/Biafra-Krieg
(7) https://de.wikipedia.org/wiki/Murtala_Mohammed
(8) https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_Nigerias
(9) https://www.domradio.de/artikel/vor-50-jahren-endete-der-biafra-krieg
(10) https://twitter.com/chikaunigwe/status/1266728495151042563
(11) https://www.gfbv.de/de/news/zum-ausbruch-des-biafra-krieges-vor-40-jahren-3521/
(12) http://www.dawodu.com/omoigui25.htm
(14) https://zeithistorische-forschungen.de/3-2011/4516
(15) https://www.gfbv.de/de/news/zum-ausbruch-des-biafra-krieges-vor-40-jahren-3521/
(16) http://www.dawodu.com/omoigui25.htm
(17) https://de.wikipedia.org/wiki/Biafra
(19) https://www.dw.com/de/biafras-langer-schatten/a-51991545
(21) Ebd.
(23) https://guardian.ng/news/niger-delta-avengers-threaten-return-vow-to-crash-economy/
(24) https://www.friedensbildung-bw.de/nigeria-krieg
(25) https://www.diepresse.com/5465293/nigeria-das-neue-armenhaus-der-welt
(26) https://www.aljazeera.com/features/2022/5/23/how-has-nigerias-e-currency-fared-since-introduction
(27) https://bitcoinmagazine.com/culture/cash-limits-cbdc-and-bitcoin-in-nigeria
(28) https://tkp.at/2023/06/21/internationaler-waehrungsfonds-will-zentrale-weltwaehrung/
(31) https://bitcoinmagazine.com/culture/cash-limits-cbdc-and-bitcoin-in-nigeria
(32) https://www.bbc.com/news/world-africa-64837041
(34) https://www.blocktrainer.de/cbdc-nigeria-floppt/
(35) https://bitcoinmagazine.com/culture/cash-limits-cbdc-and-bitcoin-in-nigeria
(37) https://www.reuters.com/article/nigeria-tech-phones-idUKL5N2WA06Z
(38) https://www.transparency.org/en/cpi/2022
(39) https://news.trust.org/item/20210805104557-zunak
(40) https://thediplomat.com/2016/06/china-in-africa-part-iii-the-ugly/
(41) https://www.buchkomplizen.de/index.php?lang=0&cl=search&searchparam=Die+H%C3%A4lfte+der+Sonne
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Bildquelle: Zbitnev/ shutterstock
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