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Das Leben, der Tod und der Wunsch nach Unendlichkeit – Teil 1 | Von Dr. phil. Werner Köhne

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Zum Vorverständnis des Coronaszenarios

Ein Standpunkt von Dr. phil. Werner Köhne.

Teil 1.

Kleiner Einwand gegen ein Prinzip

Erfolg oder Scheitern: Die besten Romane der Weltliteratur haben uns eindrucksvoll vorgeführt, dass sich Scheitern und Niederlage besser erzählen lassen als Erfolg. Das könnte Gründe haben, welche die Intensität der damit verbundenen Erfahrung betreffen.

Vom Ende des Lebens aus betrachtet, folgt ohnehin jedem Erfolg eine Ernüchterung, ja es nagt an ihm eine existentiell spürbare Paradoxie: Dessen letzthinnige Unmöglichkeit. Welcher Sterbende würde in Zeiten einer erschöpften religiösen Heilsgeschichte noch sagen können: »Ich habe es geschafft – oder: Mein Leben ›endet‹ im Erfolg – zumal er nach dem erklommenen Gipfel ›faustischen‹ Strebens nicht mehr auf der Welt ist, um den Erfolg auszukosten.

Das wusste schon Goethes Faust, der nicht im Erfolg und einem unendlichen Glück, sondern allein im erfüllten Augenblick die Matrix des Lebens sah. Die Überlegung mag naiv und abwegig anmuten, zeigt jedoch ihre Wirkung, wenn man sich jahrtausende alte Fragen stellt, vor allem die: »Wohin gehen wir? Was erwartet uns? Und wohin können wir nicht mehr zurück?« Die kulturelle Überlieferung bietet keine Garantie mehr für ein »Es wird schon alles gut gehen«. Sie wirkt heute abgeschliffen bis zur Unkenntlichkeit.

Phänomenologisch betrachtet trifft hier zu, was allgemein für menschliches Leben gilt: Dem Erfolg folgt gemeinhin nach kurzem Hochgefühl eine innere Leere, die man vergeblich wegzudrücken versucht. Scheitern vermag dagegen ein Loslassen freizusetzen, eine Art Gelassenheit auch. Die schrille Fixierung auf den Erfolg und ein zähes »Weitermachen« in der Spur eines wahnhaften Fortschritts mündet heute nicht zufällig im gereizten Affekthaushalt derjenigen, die verbissen dem Coronanarrativ zuarbeiten.

In dieser modernen Erzählung vom Einbruch eines vermeintlich Unheimlichen ins normale Leben wird das oberste Ziel nicht am Glück des fragilen Menschen ausgerichtet, der scheitern kann, sondern an seiner puren Selbsterhaltung ohne weiteren Mehrwert an Sinn, als eben dem, sich selbst zu erhalten. Diese Festlegung wird heute bekanntlich umgesetzt mit den Mitteln einer zynisch betriebenen Gesundheitsdiktatur. Gerade die Unterwerfung des menschlichen Körpers unter die ausschließliche Regentschaft der Gesundheit macht es den Agenten des Transhumanismus so leicht, uns in die Fallstricke einer verbiesterten Moral- und Empörungskultur zu zwingen, worin wir alle Ziele der Aufklärung aufgeben.

Diese Kulturressourcen, darunter selbst religiöse Rituale des friedvollen Zusammenfindens, aber waren es doch, die das Leiden, die Vergeblichkeit und das Scheitern des Individuums immer wieder abmilderten und daraus Mentalitäten der zwanglosen Empathie für andere freisetzten. Was sollte sonst Humanismus bedeuten? Darum sollte es doch gehen: Die nicht auf Eigennutz zielende absichtslose Solidarität mit dem fragilen einzelnen Menschen setzt der gegenwärtigen moralingesäuerten Maßnahmenkultur des blinden  »Richtigmachens« im Coronaszenario etwas essentiell Anderes entgegen. Gelebtes Leben ohne Panik, gebaut am Gestade des Glücks! Keines unendlich fortdauernden Glücks, aber eines von hoher tiefer Intensität.

Davon aber sind wir, die wir unter dem Diktat von Daten und Statistiken der verengten Lebensgestaltung stehen, weit entfernt. »Immerzu, immerzu« ist der Rhythmus dieses Daseins.

Ecce homo – oder eine ungewöhnliche Vision vom Menschen

In Ridley Scotts Film »The Blade Runner« kommt es zum Ende dieses Kultstreifens zum finalen Kampf. Der Jäger, der im Auftrag einer obersten Behörde agiert, soll den gefährlichsten der Replikanten zur Strecke bringen. Dieser war mit drei anderen seiner Bauart, von einem Planeten für Sklavenarbeiter geflohen, um ein Ziel zu verfolgen; die vier wollten ihren Konstrukteur – ihren »Vater«, wie sie ihn auch nennen, auffinden und diesen dazu zwingen, ihr programmiertes Leben, das in Kürze endet, zu verlängern.

Als dies misslingt – die Zeit wird zu knapp und das eingebaute System lässt sich nicht auf Verlängerung hin modifizieren. So läuft das Filmgeschehen scheinbar auf einen der üblichen Showdowns zu: Ein verzweifelter Replikant in einem letzten Rachefeldzug. Wenn ein Schauspieler wie Harrison Ford den »Hunter« gibt, den Jäger, dürfte dem Kinobesucher klar sein, wer der Sieger in diesem tödlichen Duell sein wird. Der Films aber bricht aus dieser stereotypen Dramaturgie aus.

Im Verlaufe des tödlichen Kampfes kommt es nämlich zu folgendem ungewöhnlichen Plot: Der Hunter unterliegt dem Replikanten und wird von diesem schließlich über eine Dachbrüstung in die Tiefe gehalten – aber da fasst ihn der Androide plötzlich wieder fester am Handgelenk und zieht ihn in großer Anstrengung nach oben, rettet ihm also das Leben – während er selbst kurz danach sein Leben aushaucht. Sein Gesicht bildet im Augenblick des Todes Rinnsale aus für einen nun stark einsetzenden Regen. Im Sterbenden liefert diese sanft anmutende Fließbewegung des Wassers letzte Zeugnisse eines Willens zum Leben – und nicht eines zum bloßen Überleben in Siegerposen.

Er erinnert sich dann auch mit ersterbender Stimme an Fluchten durch das in Feuer und Kälte gestählte Weltall, voll des Schauders, aber auch voll der Intensität, die noch paradox gesteigert wird im Bewusstsein des unerbittlichen Endes des Androiden inmitten der unendlichen kosmischen Räume. Einfach genial diese Szene! Man könnte hier noch einmal fragen: Warum widersetzt sich der Replikant der üblichen Dramaturgie des Sterbens, so wie wir sie kennen? Und warum spielt Ridley Scott, der Regisseur, dieses Spiel mit: Dasjenige Wesen das nach seiner Vergangenheit und dem Sinn seiner Existenz sucht, also nach dem Mysterium des Lebens, das ehrt dieses Leben so sehr, dass er es schützt – selbst das seines Feindes?

Hier erleben wir das Gegenteil von jenem moralischen Heroismus, mit dem wir allzu gern unsere Erzählungen schmücken, um einen Sieger und einen Besiegten fixieren zu können. Hier offenbart vielmehr ein Wesen, von dem wir nicht wissen, wie sehr es dem Menschen gleicht, seine tiefe Einsicht in das menschliche Dasein. Und das führt in die letzten Schichten dieses außergewöhnlichen Films. Die letzte überlebende Replikantin, die Scott nicht zufällig in Habitus und Farben der großen Hollywoodzeit kleidet und mit bräunlichen vergilbten Fotos umgibt, sucht sich eine biografische Geschichte anzudichten, um so ihre Identität als menschliches Wesen zu beweisen.

»Warum nur?«, mögen wir als auf bloßen Nutzen uns beschränkende Zuschauer verblüfft fragen. Eine Vermutung: Die vier Replikanten zeigen uns Züge von Humanität auf, die wir längst in unserer abendländischen Subjektzentrierung eingebüßt haben. Dazu zählt unsere Fähigkeit zur Erinnerung. Sie ermöglicht uns, ohne Hintergedanken in das Geheimnis des Lebens einzutauchen. Ach; wie weit droht uns der immer noch anhaltende Coronawahn von diesem anthropologischen Visionen zu entfernen?

»Ja – und dann kam auch noch Corona dazu«

Der Satz hat inzwischen Flügel im Alltag bekommen. Dass Corona lediglich zu etwas Krisenhaftem »dazu« kommt, kündigt so etwas wie Entwarnung an. Unser Leben scheint sich nach zweieinhalb Jahren Virusfixierung wieder aufs Normale eingependelt zu haben und verliert dadurch seinen großen Schrecken, aber zugleich schwindet auch die Befürchtung (oder Erwartung), dass die »Coronablase« platzen könnte, wenn sich in nächster Zeit herausstellen sollte, dass alles nicht so schlimm und vieles ein Fake war.

Viel wichtiger als die Wahrheitsfrage erscheint für einen Großteil der Menschen folgende Aussicht: In einer gewissen schwer darstellbaren Wurschtelei wird das Leben irgendwie weitergehen und eine gewisse Befriedung über das Ausgestandene sich breitmachen. Man wird dafür sorgen, dass die über mehr als zwei Jahre eingenommene Haltung und Identität keinen Schaden erleidet. Was bliebe sonst von einem noch übrig? Es wird aber auch keinen wirklichen Wahrheitssiegeszug von uns Maßnahmenkritikern und Demokratieverteidigern seit 28. März 2020 geben können. Nicht einmal ein neues 1968 steht zu erwarten.

Aber die erwartbar trivialisierte Nacharbeitung des Coronageschehens wird auch nicht wirklich ausreichen für ein »Narrativ«, womit man das Phänomen C. abschließen könnte; eher wohl liegt vor uns eine Zeit der versprengten Fragmentenaufarbeitung, die man sich erlaubt auf dem Niveau von Mauschelei, Umlagerung, Abschwächung, Verschwiegenheit und Verdrängung – darin eingeschlossen Untersuchungsausschüsse, die zu nichts führen werden. Der sich darin andeutende Wandel in der Einstellung erscheint aber gar nicht so außergewöhnlich, siedelt man sie an innerhalb der Geschichte der Moderne. Ins Herz und in die Genese dieser Moderne führt uns ohnehin kein eindeutiges Urteil, wie so oft in philosophischen Diskursen behauptet.

Es stimmt weder die Rede, dass die moderne Subjektivität seit der frühen Aufklärung eine Vernunft in Freiheit auf den Weg gebracht habe, noch dass dieser Aufstieg der Subjektivität allein auf Selbstermächtigung und Unterdrückung beruhe.

Eine vor etwa 500 Jahren begonnene Neuzeit geht in all ihrer Ambivalenz, Unstimmigkeit, Ungleichzeitigkeit und Disparität als kollektiver Unterstrom durch uns alle hindurch. Durch unsere Seelen unsere Vernunft, unsere Hoffnungen, Motive, Mentalitäten und durch die für unsere Gegenwart so typischen Milieus. Das enthebt die Täter nicht vor ihrer Verantwortung, aber die Opfer auch nicht vor der Dringlichkeit, Widerstand gegen den Irrsinn zu leisten. Nie war Widerstand so wichtig. Gerade der Widerstand, der sich mit dem Leben verbindet, dem gelebten und zugleich endlichen Leben.

Eine erste Vermutung: Endlichkeit und Unendlichkeit, zwei Säulen der Mentalitätsgeschichte, werden in der Moderne neu justiert. In Coronazeiten greifen sie sogar in die Statik und Dynamik unseres Lebens ein.

Die kulturelle Tradition lieferte einst zahlreiche Zeugnisse dafür, wie der symbolische Austausch zwischen Leben und Tod in früheren Gesellschaften funktionierte und Wendepunkte in der Geschichte markierte. Auffällig ist, dass im aktuellen Coronanarrativ Leben und Tod neu definiert wurden – diesmal allerdings in einer paradoxen Schieflage: Der Tod wird als Todesdrohung eingesetzt und gleichzeitig in die Kette der Argumente für die drastische Maßnahmenpolitik eingefügt.

Die Voraussetzung dafür liefert eine Verfügungs-, Panik- und Empörungskultur. Andererseits sucht die coronafixierte Gesellschaft, den Tod auszusondern oder zeitlich hinaus- und fortzuschieben als »Abwesenheit von Leben« einzudämmen und vornehmlich biokratisch zu besetzen. Während der Tod so den kollektiven Blicken entschwindet, setzt sich für das menschliche Dasein dieses Prinzip durch: Leben wird ausschließlich definiert als unbedingter Auftrag für eine absolute Lebenserhaltung.

Was bei dieser Einschränkung auf der Strecke bleibt, ist der menschheitsgeschichtlich so wichtige Austausch zwischen Leben und Tod und dadurch konkret eine Vielfältigkeit des menschlichen Daseins, die sich, seit es Geschichte gibt, anhand der Koordinaten Endlichkeit und Unendlichkeit auswies. Wir erleben nun in der späten Moderne, wie sich dieses Verhältnis nicht nur am Todespol selbst dramatisch zuspitzt: Das tiefgreifende Bewusstsein unserer individuellen Endlichkeit trifft in merkwürdiger Dissonanz auf das Phänomen einer säkularen Unendlichkeit einer Welt, die uns weder braucht noch die uns etwas verheißt, die immer weiterläuft, während wir als Individuen nach recht kurzer Lebenszeit aus dem Gesamtgeschehen herausgeschleudert werden.

Das schien kein größeres Problem darzustellen, solange die christliche Heilsgeschichte diese Koordinaten vorgab. Da wurde uns eine Topografie aus Erdental, Himmel und Hölle angeboten und die individuelle Endlichkeit abgemildert durch die Aussicht auf eine Unendlichkeit, die weiter zum Endpunkt »Ewigkeit« führte. So etwas wie Ewigkeit geht uns heute kaum mehr von den Lippen – und wenn, dann im Move eines lähmenden »Immerzu, Immerzu«, eines blinden Weitermachens. Dafür aber erscheint uns Zeit in unserer Erfahrung als unfassbar und geradezu unheimlich und undurchdringlich.

Um hier nur einen Aspekt hervorzuheben: Unser Dasein in der Welt bewegt sich häufig zwischen lähmender Zeitlosigkeit und hektischer Entfesselung der Zeit. Beschleunigung und starrer Stillstand bilden die ungesunden Pole unseres zersplitterten Zeitempfindens Das alles ist kein Nebenaspekt einer allgemeinen Psychologie, sondern führt in all der Fragmentierung uns einmal mehr mitten ins Zentrum unseren modernen Lebens.

Endlichkeit, Unendlichkeit und subjektives Zeitempfinden.

Ein paar Meditationen und Bilder

Rainer Maria Rilke hat in seiner Erzählung »Malte Lauritz Brigge« die neue Dissonanz des Zeitempfindens nicht zufällig anlässlich des Todes seines Großvaters geschildert. Er spürt als Kind, wie in der Todesstunde die Zeit geradezu ruckartig das Sterbezimmer durchdringt, aber einen Augenblick später verschwindet sie auch schon wieder und hinterlässt im Kind eine bedrohliche Leere, vielleicht auch das: Einen Schock, der keine ruhig dahingleitende Zeit mehr zulässt.  Das physikalisch ausgewiesene Gleichmaß der Zeit, wie der Physiker Newton sie zu Beginn der Neuzeit fasste, ist uns Modernen regelrecht entglitten, folgert Rilke.

Der Maler Vinzenz Van Gogh hingegen hat ein frühes Bild von den »Kartoffelessern« gezeichnet, die in ärmlichen Verhältnissen in einem engen Raum um einen Tisch sitzen. Wer den dunkelschattigen Raum, in dem nur eine Öllampe Licht spendet, sieht, wird erkennen, dass in so einem Ambiente Leben und Tod, damit auch Endlichkeit und Unendlichkeit, ganz nah zusammenrücken und sich durchdringen. Der Tod und die Endlichkeit durchwirken geradezu den dunklen Raum. Sie werden zu existentiellen Bestandteilen des Alltags. Panik und der Wille zur Verdrängung werden sich in diesem von Müdigkeit durchsetzten Milieu nicht einstellen, auch keine religiöse Aufheizung der Gefühle steht zu erwarten.Ein Coronaszenario wäre hier vollkommen ausgeschlossen.

Auch nicht da, wo in dem Kioshi-Kurosawa-Film »Die sieben Samurei« ein alter Müller der drohenden Gefahr durch ein feindliches Heer trotzt und gebeugt vor seinem Wasserrad hocken bleibt und seinem sicheren Tod entgegensieht. Nicht aus Heroismus und Sturheit verharrt er dort, sondern aus einer sein ganzes Leben prägenden Zeiterfahrung heraus, in der seine Arbeit, die ihn umgebende Natur und das drehende Rad als Zeichen einer sanften »Wiederkehr des Gleichen« ihn in eine Gelassenheit rücken lassen – eine Gelassenheit, die alle »Coronierten« heute gar nicht mehr verstünden. Wenn eines die letzten zwei Jahre Coronadiskurs ja bewiesen haben, dann, wie sehr die geschichtlich so reichhaltige Sprache des Lebens und des Sterbens zum Verschwinden gebracht wurde.

Das Dilemma in der Moderne

Der Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal prägte vor 400 Jahren einen Satz, der uns vor Augen führt, was für ihn Unendlichkeit alles bedeutet. Ich zitiere ihn: »Das ewige Schweigen der unendlichen Räume macht mich schaudern.« Mögen wir diesem Satz zunächst keine besondere Aufmerksamkeit schenken: Er wird verständlich aus einem historisch sich ankündigenden Umbruch der Welt des Glaubens und des Wissens. Mit Kopernikus und Galilei wurde der Kosmos entdeckt und damit eine vorher kaum vorstellbare Unendlichkeit des Raumes der Welt, in der selbst Gott als deus absconditus (abwesender Gott) zu verschwinden drohte – jener Herrscher mit der einst schön gerundeten Schöpfung mit heilsgeschichtlichen Konstanten, in denen die der Zeit enthobene Ewigkeit die zentrale Rolle eines Endzwecks spielte.

Pascal vollzieht mit dieser räumlich ausgewiesenen Unendlichkeit, die nicht nur den Raum, sondern auch die moderne Mathematik entfesselte, auf seine Weise die Wende zur Moderne. Wer von uns heute auf das Schockerlebnis Pascals schaut, wird dessen Gefühl des Schauders nicht unbedingt nachvollziehen können. Unendliche Räume und ein darin verschwindender Vater-Gott lassen auch keine Panik mehr in uns entstehen. Es wäre wohl eher das Gegenteil der Fall: Uns verschwindet ja gerade der Raum im digitalen Global Village, dem globalen Dorf – was uns womöglich mehr beunruhigen könnte, als dessen Entfesselung ins Unendliche – wie uns die Gemeinde der Science-Fiction-Fans bestätigt.

Geschichtlich festzuhalten bleibt diese Erkenntnis: Aus unterschiedlichen Gründen wurde vor 500 Jahren der mittelalterliche Weltbegriff in Frage gestellt. Endlichkeit und Unendlichkeit neu justiert. Das mag nach Ideengeschichte klingen, aber überformte die Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung und die moderne Individualisierung immer nachhaltiger.

Einem anthropologischen Realismus aber ist es zu verdanken, dass der Mensch diese Einsicht in seine Endlichkeit – natürlich dann ohne Gott – nur schwer verdaut, ist er doch ein intentionales metaphysisches Wesen, das den Tod als Endpunkt nicht akzeptieren kann, wenngleich er es praktisch tut und tun muss. Wenn also die Heilsgeschichte auserzählt scheint – und welcher Smartphone-Besitzer glaubt noch an derlei Versprechungen (Himmel) oder Drohungen (Hölle)  – dann können bei diesem Widerspruch zwischen der Einsicht ins Unabänderliche und dem Drang nach einem »Irgendwie weiter Existieren wollen« für ernsthafte Versuche nur Ersatzlösungen weiter helfen, Lösungen, die im Leben selbst gesucht werden müssen.

Um nur zwei Optionen hier anzudeuten, die aber für die laufende Diskussion wichtig sind: Wir können mit Nietzsche und Goethe, statt der zeitlich sich erstreckenden Endlichkeit den tiefen, ja abgründig intensiven Augenblick als Erlebnis der Unendlichkeit erfahren. Eine Art Poesie pur, die sich aus den Ketten der Zeit sprengt. Diese Erfahrung fordert uns indes einen hohen Phantasiebonus und Heroismus ab, der wenig zeitgemäß anmutet. Die Moderne ist nämlich immer noch steil auf Fortschritt und Optimierung ausgerichtet, was aber bezogen auf das menschliche Individuum am Tod ein jähes Ende findet. Nichts ist absurder als eine Geschichte, in der ein allgemeiner Fortschritt innerhalb einer unendlich scheinenden Weltzeit auf das Schicksal des sterblichen Individuums stößt.

Diese Gleichung will nicht wirklich aufgehen – schon gar nicht, wenn die heutige Gesellschaft ihre einstigen Vermittlungen durch nahe Naturerfahrung und symbolisch rituelle Formen des Austausches zwischen Leben und Tod aus dem Augen verloren hat. Es bliebe dann nur noch eins – und genau das geschieht heute, vermehrt den den letzten Jahren: Die alte Sehnsucht nach der Unendlichkeit des Daseins  über den Tod hinaus wird umgebogen und umgelagert, indem man durch waghalsige Strategien die Unendlichkeit durch eine Verschiebung des Todes ins schier Unendliche der Zukunft erprobt.

Gemäß dieser Dynamik setzt sich ein ehernes Diktat, auf das wir immer wieder stoßen, in Geltung:  Das Leben muss unbedingt verlängert werden; Lebenserhaltung stellt alles sonst, was am Leben gezählt hat, in den Schatten: Vielfalt, Wahrnehmung, Zufall und dazu Erzählbarkeit von Leben und der Welt werden eingefroren.  Wir sind auch hier im semantischen Umkreis von »Corona« gelandet. Der Hintergrund für dieses Phänomen ist zur Zeit geradezu hysterisch ausgeleuchtet und zugleich blind gerichtet gegen Alternativen.

Foucaults erschütternde These. Oder: Vom Individuum zum Patienten.

Ein zweiter Aspekt, der das jetzige Schauspiel in all seiner Absurdität aufzeigt, ist ein medizingeschichtlicher. Der Philosoph Michel Foucault suchte nachzuweisen, dass der moderne Mensch seine eigentlich ihm zugeschriebene Individualität nicht einem Selbstakt oder Selbstfindung verdankt, sondern in den Kellern der anatomischen Pathologie generiert wurde. Da wurde definiert, dass Leben nicht aus sich selbst, sondern von den funktionslos gewordenen Organen bestimmt wird. Leben besagt seither, dass wir es aus der Negation der Dysfunktionalität aus Tod und Krankheit gewinnen. Aus mehr sonst nicht!

Verräterisch ist da schon allein die klinische Sprache: »Die Leber kommt zur Obduktion«, befindet da ein Richter in Weiß. Oder in dieser erschreckenden Diktion: »Wann können wir den Toten denn endlich abstellen?« Oder auch dies nach einer Reanimation: »Wir haben ihn wieder.« Derlei Sprachgebung lässt stimmig erscheinen, dass wir als Individuen heute fast ausschließlich als Patienten auftreten und uns auch so fühlen – eine paradoxe Selbstzuschreibung, denn dieses so erzeugte Individuum widerspricht im Status des Objektseins, gerade dieser Individualität aufs Schärfste.

Der Soziologe Dirk Becker, auf den wir später noch zu sprechen kommen, leitet daraus eine beunruhigende Vision ab, die bestechend scheint. Unter der Überschrift »Überwachte Gesundheit« notiert er: »Gesund ist man dann wenn man nicht krank ist. Über Krankheiten, die man hat oder nicht hat, entscheiden Beobachter.« Und weiter heißt es in lakonischer Abbreviatur: »Gesundheit ist in der nächsten Gesellschaft die Kontingenzformel schlechthin für menschliche Existenz. Niemand ist je wirklich gesund, sodass jeder Mensch Identitätsmerkmale frei Haus geliefert bekommt, die jedoch umso weniger zur Identität beitragen, je deutlicher sie als Krankheitsmerkmale definiert sind, die ganze Populationen kennzeichnen.« – Noch Fragen, was die Aktualität dieser Aussagen betrifft?

Dirk Becker markiert hier – übrigens ein Jahr vor dem Ausbruch der »Pandemie« schon den durch Corona eingetretenen Ist-Zustand. Identität, Individualität und Leben werden in einem großen Aufwasch in purem Objektivismus ineinandergefügt. Heraus kommt ein fragmentiertes und gleichzeitig auf Totalität und Ideologie zielendes Programm der Überwachung, die unser Leben nachhaltig konditioniert.

Ein ästhetisierender Einwand: Vom Wesen des Menschen.

Wer den Menschen in seinem tiefsten Wesen erkennen will, seine ihm durchaus bewusste Endlichkeit, sollte sich auf eines seiner Augen konzentrieren, am besten in der Perspektive einer handlichen Digitalkamera, die heute für interessierte Laien ohne allzu großen finanziellen Aufwand zu erwerben ist. Glücklicherweise kommt dieses Okular dem Auge sehr nahe und kann so auch seinen Fokus nur wenige Zoll unterhalb des oberen Beckenknochens auf das besagte Sehorgan richten. So etwas ging früher noch nicht.. So späht der Kameramann – und später auch wir – über eine blassrosa Wölbung unmittelbar in ein durchfurchtes, fast netzförmiges, leicht verdeckt vom Augenlid, in einer erschütternden Größe und zugleich Hilflosigkeit, die noch an kreatürlicher Wucht gewinnt, da im Auge zugleich eine flackernde Unruhe aufkommt, die durch die zuckenden Pupillen wahrzunehmen ist – ein Spiel aus Licht und Schatten.

Der die Kamera führende Fachmann ermüdet indessen wegen der ungünstigen Stellung, die er bei seiner Arbeit, der Aufnahme des Auges,  einnimmt. Er reißt schließlich gereizt die Kamera herum – und es ist genau dieser Augenblick, wo das Auge, das er zuvor im Fokus hatte, zum Augentier wird, wo durch die überrissene Bewegung der Kamera ein zuckendes Etwas – ja was nur? – in animalischer Verletzbarkeit sichtbar wird und sich dem Auge des Betrachters, demnach auch uns, die wir mehr sein wollen als Voyeure, ein Wesen offenbart, ein seiner Endlichkeit bewusstes Einzigartiges, vor dem sich alles Denken, Urteilen und Beabsichtigen achtungsvoll verneigen sollte. (Diese Passage erschien als Gedicht an Klaus Schwab in der Wochenzeitung Demokratischer Widerstand vom 8. Oktober 2020, Seite 15 [1]).

Quelle:

[1] https://demokratischerwiderstand.de

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle: Allexxandar/ shutterstock


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