Das World Economic Forum fantasiert über eine dystopische „Schulform“, in der es keine Tafelkreide, keine Kreativität und auch kein physisches Miteinander mehr gibt.
Ein Standpunkt von Willy Meyer.
Hinweis zum Beitrag: Der vorliegende Text erschien zuerst im „Rubikon – Magazin für die kritische Masse“, in dessen Beirat unter anderem Daniele Ganser und Hans-Joachim Maaz aktiv sind. Da die Veröffentlichung unter freier Lizenz (Creative Commons) erfolgte, übernimmt apolut diesen Text in der Zweitverwertung und weist explizit darauf hin, dass auch der Rubikon auf Spenden angewiesen ist und Unterstützung braucht. Wir brauchen viele alternative Medien!
Es war als vorübergehende Notlösung angekündigt gewesen, soll nun aber dauerhaft als neue Form des „Learnings“ etabliert werden: Schulen ohne persönlich anwesende Schüler und Lehrer. Diese sollen nur noch körperlos präsent sein: digital. Gerade das „Begreifen“ im wörtlichen Sinn, das Lernen durch sinnliche Erfahrung, wird so gänzlich unmöglich gemacht. Das Übermaß von den Unterricht stützender Künstlicher Intelligenz macht die Entwicklung von natürlicher Intelligenz eher schwerer. Auch die Kreativität kommt zu kurz, wenn sich der Mensch der Maschine anpassen soll anstatt umgekehrt. Aber wer kann so etwas wollen? Während in den Schulen Schüler und Lehrer gerade um einen Neubeginn unter dem Motto „Weiter so“ ringen, zaubern im Hintergrund die vermeintlichen Führer und Eliten der Welt unversehens neue Bildungskonzepte aus dem Hut, die allen Widrigkeiten gewachsen sein und Schule und Lernen zukunftsfähig machen sollen. Die Zukunft, die hier gemeint ist, ist allerdings so dystopisch, dass man sie besser verhindern sollte, anstatt sich ihr dienstbeflissen anzupassen.
Schulen sind die Labore unserer Zukunft, denn hier bündeln sich die Energien des Wandels. Ein anschauliches Beispiel bieten da physikalische Kräfte und deren Auswirkungen auf das menschliche Miteinander. So ist gemeinhin bekannt, dass das regelmäßige Lüften ein zentrales Element im Kampf gegen die weiterhin grassierende Pandemie darstelle. Alle zwanzig Minuten gilt es, möglichst viele Fenster der Unterrichtsräume aufzureißen, damit die virentragenden Aerosole entweichen können. Unterstützt wird diese simple Reinigungsmaßnahme seit einiger Zeit durch abertausende Luftfilter, die zumeist im Doppelpack im Klassenraum vor sich hin brummen (1).
Plötzlich jedoch wirft auch der schreckliche Ukrainekonflikt seine Schatten auf unsere Lehranstalten, heißt es doch nun, gemeinsam und solidarisch Energie zu sparen. Darum dürfen die Luftfilter mit einem Mal schweigen. Das gewöhnliche Lüften, so die Experten, stelle einen genügenden Schutz der einzuatmenden Luft dar. Letztere allerdings, so steht zu befürchten, wird sukzessive kühler durch die Fenster hineinwehen, zumal Bundesländer wie Brandenburg der maximalen Raumhöchsttemperatur im Rahmen des deutschen Boykotts russischer fossiler Energieträger bei 20 Grad Celsius einen Riegel vorgeschoben haben (2).
Überraschende Synergieeffekte
Was im Sommer noch den Anschein eines erfrischend anregenden Lernklimas erweckt, könnte im Winter schnell jene andere, schulbehördlich festgesetzte Temperaturmarge ins Spiel bringen, nach welcher bei unter 16 Grad Celsius eine Beschulung nicht mehr möglich sein wird.
Die Lösung dieses physikalischen Dilemmas liegt hingegen längst auf der Hand, denn wohin kann Schule ausweichen, wenn ein Zusammenkommen in schulischen Räumlichkeiten, aus welchen Gründen auch immer, unmöglich ist? Da trifft man sich natürlich im digitalen Raum!
Sind nicht, pandemiebedingt, Schüler wie Lehrer geübt und vorbereitet auf diese segensreiche Alternative? Immerhin musste Unterricht über viele Monate auf diesem Wege stattfinden, sodass sich Schülerschaft wie Lehrkörper nicht nur daran gewöhnen konnten, sondern so mancher auch vermeinte, dem Notzustand förderliche Aspekte abgewinnen zu können.
Was sich hier durch die physikalischen Gegebenheiten von Temperatur und Raum auf simpelsten Rechenwegen vorausahnen lässt — also „gemeinsam frieren für die Gesundheit“ plus „gemeinsam frieren für den Frieden“ ergibt digitalen Fernunterricht —, für das wird an anderer Stelle seit langem eine pseudo-erziehungswissenschaftliche Grundlage herbeigeschrieben, die da heißt: Education 4.0 (3).
Die Education 4.0 Alliance
Die Vordenker der globalen Eliten um Klaus Schwab und das Weltwirtschaftsforum (WEF) widmeten anlässlich ihrer diesjährigen Zusammenkunft vom 22. bis 26. Mai in Davos ihre Aufmerksamkeit gleich mehrfach dem Themenkomplex Bildung und Erziehung, so in „Growing up in the Pandemic“ und auch in „Restating the Economic Case for Education“. In den Verlautbarungen der „Education 4.0 Alliance“ tritt die gedankliche Stoßrichtung recht unverblümt zutage, gelte es doch erstens, sich über die in Bildung und Erziehung zu vermittelnden Schlüsselfertigkeiten zu verständigen und die zentrale Bedeutung derselben durch ein öffentliches Narrativ zu transportieren; zweitens seien öffentlich-private Partnerschaften zu fördern, die diese Erziehungsziele 4.0 entwickelten; und drittens müssten Anreize und Belohnungen für die Übernahme jener Ziele in die Bildungssysteme geschaffen werden.
Abgesehen von der an sich schon unerhörten Verschiebung der Hoheit über die jeweils nationale Bildungspolitik von Nationalstaaten hin zu öffentlich-privaten Partnerschaften, was für die WEF-Pläne stets von zentraler Bedeutung ist (4), stellt sich die entscheidende Frage, um welche Bildungsziele es da gehen könnte.
Ein dystopischer Blick voraus
Einen Blick darauf ermöglicht der WEF Beitrag „What will education look like in twenty years“ (5) aus dem Jahre 2021, welcher auf die vier wesentlichen Zielvorgaben eines OECD Handbuchs hinweist (6):
Einmal soll formaler Bildung mehr Raum gegeben werden — siehe auch die neuen Hamburger Bildungspläne (7) —; dann geht es darum, Bildung auszulagern, um den sukzessiven Zusammenbruch der Schulsysteme aufzufangen, wobei der Digitaltechnologie eine entscheidende Rolle zukommt; drittens sollen Schulen in sogenannte Lernzentren („Learning Hubs“) verwandelt werden, wo Diversität und Herumexperimentieren („Diversity and Experimentation“) zur Norm geworden sind; und schließlich verschiebt sich Lernen in einen „Learn-as-you-go“-Modus, es soll überall und zu jeder Zeit stattfinden, Bildungsgrenzen verschmelzen in dem Maße, in welchem die Gesellschaft sich insgesamt „der Macht der Maschine“ unterwirft.
In welchem Ausmaß die Digitalisierung Bildung und Schule verändern solle, verdeutlichte das WEF schon 2019 mit seiner Schrift „DQ-Digital Intelligence. DQ Global Standards Report 2019“ (8). In dieser Schrift werden acht digitale Bürgerkompetenzen formuliert, mit denen jedes Kind ausgestattet sein müsse, insbesondere eine „digitale Bürgeridentität“, eine „digitale Empathie“ sowie „Cybersicherheitsmanagement“.
Lernen in VR und mit KI
Lehrbücher, Hefte und Stifte seien ein Auslaufmodell, da die Virtuelle Realität (VR) und der Klimawandel ganz neue Maßstäbe für Schule und Lernen setzten (9). Die neue Spitzentechnologie böte den Schülern völlig neue Unterstützungsmöglichkeiten an, indem sie aus ihren Körpern Informationen ablese, ihren Gesichtsausdruck deuten könne, sogar nervliche Signale erkenne. Schule könne mit Mark Zuckerbergs kollektivem und virtuellem Raum „Metaverse“ gekoppelt werden. Die Vorteile lägen auf der Hand, da Lehrern wie Schülern hier ein standardisiertes, reproduzierbares Lernumfeld geboten werde, welches zudem „Gamification“ — auf Deutsch in etwa „Spielifizierung“ —, Bewertungsraster und die Interaktion per Avatar in seiner Software enthalte, wodurch Peer-Interaktionen ebenso ermöglicht werden wie aktives Lernen, Spaß und Leistungsfeedback.
Schule im klassischen Sinne, das ahnen wir spätestens jetzt, hat ausgedient angesichts der scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten, die Künstliche Intelligenz und Virtuelle Realität moderner Bildung bieten.
Da nutzen am Ende auch all die Fortbildungsanreize nichts, die das WEF Lehrern und anderen Lernenden in Aussicht stellt (10). Allein, was kann an sich träge Bildungssysteme, die auch noch notorisch klamm sind, dazu bringen, solch herkulische Anstrengungen auf sich zu nehmen, um die gewünschte Veränderung herbeizuführen?
Auch hier ist ein kausaler Zusammenhang rasch herbeigeführt, betrachtet das WEF doch die immer noch andauernde sogenannte Corona-Pandemie als das disruptive Element par excellence der jüngsten Geschichte, dem ein besserer Neuaufbau („build back better“, (11)) zu folgen habe. In diesem Sachzwang sieht das WEF natürlich auch Schule und Bildung, die sich mit gesteigerter systemischer Flexibilität und Reaktionsfähigkeit vor kommenden Verwerfungen schützen sollen.
Cui bono oder: Wem nützt es?
Würden die Veröffentlichungen des WEF nicht stets auf die zu erwartenden Teilhaber-Gewinne — „Stakeholder“ — und den antizipierten ökonomischen Vorteil des dargestellten Umbaus des Erziehungswesens zurückkommen (12), wäre man tatsächlich versucht zu glauben, Wohl und Nutzen aller Kinder und Jugendlichen im schulfähigen Alter lägen dem WEF am Herzen.
Lifelong Learning at its best:
Ohne Schule, ohne Klassenzimmer, dafür isoliert vor dem eigenen Rechner mit einer Metaverse-Maske auf dem Kopf „entdecken“ die jungen Menschen die Welt des Wissens vermittels ihres Avatars, während eine unsichtbare Hand sie durch einen Parcours von Aufgaben und Informationen führt, gleichzeitig im Feedback ihrer Reaktionen und Emotionen die nächsten Lernschritte für sie zurechtlegt und am Ende ihren Kompetenzzugewinn misst.
Freies, selbstbestimmtes Lernen und kreative Selbstentfaltung hingegen stehen nicht auf dem Lehrplan des Metaverse. Dafür würden Schule und Unterricht mit KI und VR zu einer weiteren tragenden Säule der Vierten Industriellen Revolution, die das WEF für uns alle heraufziehen sieht (13).
Und was sollte schon schiefgehen, wenn sich Philanthropen solchen Schlages um unsere Jugend kümmern? Oder könnten die Avatare im Universum des Metaverse auch frieren?
Quellen und Anmerkungen:
(1): https://www.hamburg.de/coronavirus/schulen/#15048902_15048930
(2): https://www.bz-berlin.de/brandenburg/plaene-von-ernst-unterrichtsverbot-ab-16-grad-in-brandenburg (3): https://www.weforum.org/projects/education-4-0 (4): https://www.weforum.org/projects/reskilling-revolution-platform (5): https://www.weforum.org/agenda/2021/01/future-of-education-4-scenarios (6): https://www.oecd-ilibrary.org/education/back-to-the-future-s-of-education_178ef527-en (7): https://www.hamburg.de/bsb/pressemitteilungen/16017886/2022-03-24-bsb-entwuerfe-fuer-neue-bildungsplaene/ (8): https://www.dqinstitute.org/wp-content/uploads/2019/03/DQGlobalStandardsReport2019.pdf (9): https://www.weforum.org/agenda/2022/05/the-future-of-education-is-in-experiential-learning-and-vr (10): https://www.wam.ae/en/details/1395303051345 (11): https://es.weforum.org/reports/building-back-better-an-action-plan-for-the-media-entertainment-and-culture-industry (12): https://www.weforum.org/reports/catalysing-education-4-0-investing-in-the-future-of-learning-for-a-human-centric-recovery (13): https://www.weforum.org/focus/fourth-industrial-revolution
+++ Dank an den Autor und den Rubikon für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags. +++ Dieser Beitrag erschien zuerst am 08.09.2022 im Rubikon - Magazin für die kritische Masse. +++ Bildquelle: shutterstock / Tverdokhlib
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