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Das Vorbild | Von Ulrike Guérot

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Boris Vian sang nach dem Zweiten Weltkrieg ein Loblied auf den Deserteur, in dem er diesen vom Stigma befreite, ein feiger Fahnenflüchtling zu sein.

Ein Kommentar von Ulrike Guérot.Das zweite Lied, das Ulrike Guérot unbedingt bei den Friedenssongs dabeihaben wollte, ist „Le Déserteur“ von Boris Vian. Dieses Chanson ist ein französisches Kultlied aus dem Jahr 1954, in dem der Schriftsteller mit einfachen Worten die Gräuel des Krieges beschreibt. Viele berühmte Sänger haben es interpretiert, zum Beispiel auch Joan Baez, die hier mit einem anderen Friedenssong vertreten ist. Es ist jenes Lied, mit dem das hölzerne Schweigen der Nachkriegsgeneration in Frankreich über das absurde Kriegsgeschehen im Zweiten Weltkrieg durchbrochen wurde. Ein Text zur Aktion Friedensnoten.Als das Chanson zum ersten Mal im französischen Radio gesendet wurde, war Paul Faber, ein Mitglied des französischen Rundfunkrats im Departement Seine, so schockiert, dass er dessen Zensur verlangte. Boris Vian hat ihm mit einem offenen Brief geantwortet. Das Lied blieb bis zum Ende des Algerienkriegs 1962 in französischen Radiostationen verboten. Dies ist genau 60 Jahre her. So fragil also ist die europäische Friedenserzählung, dass über Deserteure — damals ebenso wie heute im Ukrainekrieg — nicht geredet werden darf: Derzeit sterben rund 1.000 ukrainische Soldaten täglich, in einigen Bataillonen hat Desertation längst eingesetzt ob der militärischen Sinnlosigkeit dieses Krieges, die jedem Beobachter ins Auge springt, aber statt einen sofortigen Waffenstillstand und Verhandlungen zu fordern, wurde monatelang nur über schwere Waffen diskutiert, und jetzt sieht es so aus, als würde die NATO sogar bald aktiv ins Kriegsgeschehen eingreifen. Noch dazu hat die britische Außenministerin verlauten lassen, sie hätte kein Problem, den „Nuclear Button“ zu drücken. Anstatt alle europäischen Straßen mit einer Friedensbewegung zu fluten, wie damals, 2003, anlässlich des amerikanischen Einmarsches in Irak, sind die meisten Europäer heute stolz auf ihre ukrainischen Buttons am Revers. „Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin“, war der Sponti-Spruch der Grünen in den 1980er-Jahren. Kennt Annalena Baerbock den überhaupt? Boris Vians Lied ist ein Loblied auf den Deserteur, auf den einen Mutigen, der den kriegerischen Unsinn, das sinnlose Schießen oder Töten einfach nicht mitmacht. Der sich nicht propagandistisch aufladen lässt mit Parolen, für die sich angeblich in den Krieg zu ziehen lohne.

Vian dreht den Begriff des Deserteurs um: Aus dem Feigling, der sich aus dem Schützengraben stiehlt, wird ein Held, wird jemand, der begriffen hat, dass Kriege immer nur Interessen dienen, niemals aber Menschen, und jenseits von Interessen im Zweifel nur der Waffenindustrie.

Sein Text besticht genau dadurch, dass er eine Brücke von den Kriegsparolen zu den Menschen schlägt, denen durch den Krieg größtes Leid zuteil wird. Er besingt, wie er seinen Vater und seine Brüder hat ziehen und nicht wiederkommen sehen: J’ai vu partir mon père, J’ai vu partir mes frères, wie er seine Kinder hat weinen sehen: J’ai vu pleurer mes enfants, wie seine Mutter so gelitten hat, dass sie im Grab verschwunden ist: Ma mère a tant souffert qu’elle est dedans sa tombe. Er beschreibt in schlichten Worten das ganze Elend des Krieges, das immer die einfachen Leute abbekommen — nicht die Regierenden oder die Generäle. Deswegen steht die eindrücklichste Liedzeile gleich zu Beginn, wo er sich an den Präsidenten direkt wendet: Monsieur le Président (….) Je ne suis pas sur terre Pour tuer des pauvres gens Herr Präsident, ich bin nicht auf Erden, um unschuldige Menschen zu töten. (…) S’il faut donner son sang Allez donner le vôtre Vous êtes bon apôtre Monsieur le Président! Wenn man schon sein Blut geben soll, dann geben Sie doch Ihr eigenes, Sie sind dafür der gute Apostel, Herr Präsident! Boris Vian singt das Lied langsam und ganz unaufgeregt. Es sollte heute in allen Radiostationen laufen. Annalena Baerbock, Ralf Fücks oder Frau Strack-Zimmermann und viele andere, die sich seit Monaten in einer Art Kriegsrausch befinden, sollten es besonders oft hören!

Boris Vian „Le déserteur“+++ Danke an Rubikon für das Recht zur Veröffentlichung. +++ Dieser Beitrag erschien am 22. Oktober 2022 im Rubikon – Magazin für die kritische Masse +++

Bildquelle: Gergitek Gergi tavan/shutterstock


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