Ein Kommentar von Hermann Ploppa.
Vor nunmehr siebzig Jahren kam es in Ost-Berlin, in der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik, zu massenhaftem Aufruhr. Der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen. Die Bilder gingen um die Welt. Über Jahrzehnte wurde der 17. Juni als Feiertag begangen. Als so genannter Tag der Deutschen Einheit. Am 3. Oktober 1990 erfolgte dann die deutsche Wiedervereinigung. Seitdem wird der 3. Oktober als Tag der Deutschen Einheit gefeiert, und der 17. Juni ist wieder ein ganz normaler Arbeitstag.
Was war passiert an jenem denkwürdigen 17. Juni 1953?
Der Siebzehnte Juni erscheint vor unserem geistigen Auge in Form von dunklen Schwarz-Weiß-Filmen, gehüllt in finstere Qualmwolken. Gewaltige Menschenmassen rennen durch Ostberlin. Panzer rollen auf den Potsdamer Platz und drehen ab <1>. Wütende Bürger werfen den Panzern Steine hinterher. Am Tag vor dem Siebzehnten Juni, dem 16. Juni 1953, hatten Arbeiter bereits in Berlin gestreikt. Über das amerikanische Radio RIAS Berlin geht die ungeheure Botschaft von den Wilden Streiks durch die gesamte Deutsche Demokratische Republik <2>. In über 250 Städten der DDR kommt es zu spontanen Aktionen. Demonstrationen. Kundgebungen. Aber es kommt auch zur Erstürmung von Gebäuden von Stasi und Polizei. Aktenblätter fliegen zu Schnipseln zerlegt aus den eingeschlagenen Fenstern und verteilen sich chaotisch auf dem Straßenpflaster. In Halle entern die Protestierenden das Gefängnis und lassen die Häftlinge frei. Leute, die als Helferlein des Systems erkannt werden, bekommen eine gehörige Tracht Prügel. Die Wut einiger weniger Demonstranten droht dabei schon in offenes Lynching überzugehen. Parteigebäude gehen in Flammen auf. Dazu unüberhörbar der Ruf: „Spitzbart und Brille sind nicht des Volkes Wille!“
Der Mann, dem diese Rufe gellen, hat sich mit dem gesamten Politbüro in die sicheren Fittiche der sowjetischen Militärverwaltung begeben. Janz weit draußen – außerhalb von Berlin. Niemand von der Volkspolizei oder der Stasi kann die Sicherheit von Walter Ulbricht und den übrigen DDR-Hierarchen garantieren. Das Land ist für einige Stunden tatsächlich herrenlos. Es ist Zeit für die eigentlich bestimmenden Sowjets, das Heft jetzt sofort selber komplett in die Hand zu nehmen. Ab 13 Uhr an diesem 17. Juni 1953 wird der Ausnahmezustand mitsamt Kriegsrecht verhängt. Das heißt: wenn mehr als drei Leute zusammen stehen, ist das schon Bandenbildung und das kann hart bestraft werden. Wer sich jetzt noch offen auflehnt, der kann ganz legal erschossen werden.
Sofort ist Ruhe auf den Straßen und Plätzen. Jetzt kann man unbeobachtet die Leute von zuhause abholen und einsperren. Es sind im Vorgang des 17. Juni und in dessen Nachgang 31 Tote zu beklagen gewesen. Offiziell wurden 458 Verletzte gemeldet. Eine Anzahl von Leuten ist verschollen. Die Polizeiakten sprechen von 6.171 Verhaftungen. Davon werden etwa 1.300 Personen sofort der Stasi überstellt. Und wer ganz großes Pech hatte, wurde direkt an die sowjetische Militärverwaltung weitergereicht. Auf diese Weise verschwanden etwa zweihundertfünfzig DDR-Bürger. Wie auch immer: auf die allermeisten der im Zusammenhang mit dem 17. Juni festgenommenen Personen kam eine harte Zeit zu.
Bilder von diesem Aufstand gingen um die Welt. Diese Szenen wurden früher an Feiertagen immer und immer wieder im Fernsehen rauf- und runter geleiert. Vielleicht wurden sie noch mit schwülstiger Musik unterlegt. Die immer wiederkehrende Botschaft: die Stimme der Freiheit kann sich nur mit Steinwürfen gegen die garstigen Panzer der totalitären Unfreiheit zur Wehr setzen. Der erzböse Kommunismus. Und die lupenreine Weste des Westens.
Die DDR-Propaganda war auch nicht gerade begnadet: da wollen doch diese Schurken aus dem Ami-Land unsere im tiefsten Inneren zufriedenen werktätigen Arbeiter und Bauern unzufrieden machen. Die Ami-Spione erzählen ihnen so genannte „RIAS-Enten“. Soll heißen: der Ami-Sender RIAS erzählt allerlei Zeitungsenten über die Zustände in der DDR. Zudem kommen Provokateure aus Westberlin und stiften unsere Leute zur Konterrevolution an. Und schon 1952 haben diese amerikanischen Agenten von Flugzeugen aus Zigarrenkisten abgeworfen, voll mit Kartoffelkäfern. Daraufhin ist unsere sozialistische Ernte verdorben. Beide Seiten: das westliche Märchen vom Kampf gegen das sowjetische Böse schlechthin; oder das östliche Märchen von der diabolischen Perfektion westlicher Geheimdienste sind meilenweit von der Wirklichkeit entfernt.
Die tatsächliche Geschichte ist viel verwickelter. Und viel spannender. Sie handelt von real existierenden Menschen. Es geht um ein Zusammenspiel von Planlosigkeit und der Fähigkeit, aus dieser Planlosigkeit Kapital zu schlagen. Und dabei ein durchaus respektables Gesellschaftsexperiment für alle Zeiten an die Wand zu fahren. Und das nur, um die eigene Karriere zu retten. Die Karriere vom Spitzbart und Brille nämlich. Kurz und schlecht: Walter Ulbricht hat den Zustand herbeigeführt, auf den das Volk so zornig reagierte. Und derselbe Ulbricht steigt dann noch zum absoluten Alleinherrscher für anderthalb Jahrzehnte auf.
Es war nämlich für alle unverkennbar der Genosse Parteisekretär Walter Ulbricht, der die Forderung der Sowjets umsetzte, von den Arbeitern bei gleicher Entlohnung aus dem Stand zehn Prozent mehr Leistung abzuverlangen. In der damaligen Sprachregelung: die Arbeitsnorm um zehn Prozent zu erhöhen.
Das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei hatte die Karre in den Sand gefahren.
Spätestens nach dem Desaster vom 17. Juni hätten die Sowjets den Spitzbart mit Brille eigentlich aus dem Verkehr ziehen müssen. Schon aus ureigenstem Überlebensinteresse. Das passierte aber nicht.
Warum?
Um das zu verstehen, müssen wir in die Rückblende gehen. Stalin war im Jahre 1952 schon ziemlich abgeschlafft. Seine potentiellen Nachfolger scharrten bereits mit den Hufen. Die letzte spektakuläre Aktion des Generalissimus Stalin bestand 1952 darin, der Weltgemeinschaft die Preisgabe der DDR anzubieten. Die DDR könnte nach Stalins Vorstellungen in einem wiedervereinigten Gesamtdeutschland aufgehen. Dieses Gesamtdeutschland müsste nicht einmal dauerhaft auf ein eigenes Militär verzichten. Einzige Bedingung: Deutschland sollte politisch neutral sein und keinem Block angehören. Doch der Westen ignorierte das Angebot. Damit war diese eigentlich ganz sympathische Option sang- und klanglos von der Bildfläche verschwunden. Am 5. März 1953 war Väterchen Stalin dann an den Folgen eines Schlaganfalls verstorben.
Der Tod von Stalin hinterließ für mindestens drei Jahre ein gefährliches Machtvakuum in der Sowjetunion. Genau in diesem Machtvakuum ereigneten sich die Aufstände in der DDR.
Um die Nachfolge von Stalin bewarben sich fünf Herrschaften. Einer davon war Laurenti Beria. Ausgerechnet der frühere Geheimdienst- und Folterchef der Sowjetunion, Beria, kam nun mit dem Vorschlag, die Sowjetunion zu demokratisieren, die Beziehungen zum Westen zu entkrampfen, und die DDR entweder in der Bundesrepublik aufgehen zu lassen oder zumindest in eine bürgerliche Fassadendemokratie zurückzuverwandeln. Das konnten seine Rivalen im Politbüro der Kommunistischen Partei nun gar nicht nachvollziehen. Die Herren Bulganin, Molotow, Malenkow und Chruschtschow lauerten auf den richtigen Augenblick, um den verhassten Beria loszuwerden.
Ganz anders war die Stimmung dagegen im Politbüro der SED. Die Mehrheit der Politbüro-Mitglieder sympathisierte mit Beria, und hoffte, mit Berias Hilfe aus der von Ulbricht angerichteten Zwickmühle herauszukommen. Nach dem Debakel vom 17. Juni wurden die Messer gewetzt.
In der Nacht vom 7. auf den 8. Juli 1953 war es dann so weit: Politbüro-Mitglied Wilhelm Zaisser fackelte nicht lange und forderte die Ablösung Walter Ulbrichts. An Ulbrichts Stelle sollte ein Führungskollektiv treten. Der bisherige Chefredakteur des Neuen Deutschlands, Rudolf Herrnstadt, sollte zukünftig Erster Sekretär der SED sein. Für Zaissers Vorschlag stimmten im Politbüro Friedrich Ebert (der Sohn des früheren Reichspräsidenten gleichen Namens), Heinrich Rau und Elli Schmidt. Für Ulbricht stimmten lediglich Hermann Matern und ein gewisser Erich Honecker.
Nun begab es sich aber zu jener Zeit, dass der Hoffnungsträger Beria mittlerweile bei einer Sitzung des Zentralkomitees am 26. Juni auf offener Bühne verhaftet worden war und von da an im Gefängnis saß. Irgendwann wurde er auch hingerichtet. Das verbliebene Qartett Molotow, Malenkow, Bulganin und Chruschtschow zitierte für den 9. Juli ausgewählte Politbüro-Mitglieder der SED nach Moskau. Zu den Auserwählten zählte auch Walter Ulbricht.
Und jetzt kommt’s: die Sowjets diktierten ihren Vasallen, dass zwar die harte politische Repression bleiben müsse. Aber in der Wirtschaftspolitik müsse eine radikale Rolle rückwärts vollzogen werden. Das Ganze nannte sich „Neue Politik“.
Die Normerhöhung um zehn Prozent wurde bereits am 17. Juni zurückgenommen. Jetzt sollte auch noch der Ausbau der Schwerindustrie zurückgefahren werden zugunsten einer Verbesserung der Lebensqualität in der DDR. Die Sowjets beauftragten ausdrücklich den Mann damit, diese Politik umzusetzen, der sich bisher mit Händen und Füßen dagegen gewehrt hatte: Walter Ulbricht nämlich. Und jetzt ist Ulbricht auch wieder der gehorsame Vollstrecker der Politik Moskaus. Ulbricht kehrt nach Berlin zurück, gibt sich als autorisierter Vertreter jener Politik aus, die er eben noch bekämpft hatte – und entmachtet sofort jenes Politbüro-Mitglied, das die ganze Zeit genau diese Neue Politik gefordert hatte: nämlich Wilhelm Zaisser.
Die Motive der Moskauer Führung, mit Ulbricht ausgerechnet jenen Mann zum Krisenmanager zu machen, der diese Krise überhaupt nur auf die Spitze getrieben hat, bleiben ungeklärt. Für Ulbricht hat sich die langjährige Erfahrung im Zentrum der Macht in Moskau gelohnt. Ulbricht hatte die grausigen Schauprozesse erlebt und jede noch so abartige Wendung in Stalins Politik geschmeidig mit vollzogen. Er kannte und überlebte den Moskauer Intrigantenstadl. Er war dabei zum gefühllosen Bio-Roboter mutiert, der menschliche Bindungen nicht mehr einging. Und so hatte Ulbricht wohl auch geahnt, dass Beria scheitern würde. Und hatte Berias Vorgaben großräumig ignoriert. Und Ulbricht wusste schon vor Zaisser und Herrnstadt, von wo der neue Wind wehte. Am 2. Juni 1953 unterzeichnet nämlich Ulbricht zusammen mit dem Ministerpräsidenten der DDR, Otto Grotewohl, die Geheime Verschluss-Sache 210/53. Hier wird bereits vor dem 17. Juni der Beschluss zur Umwandlung der DDR in einen sozialistischen Musterstaat nicht nur zurückgenommen. Sozialismus wird geradezu verboten! Denn in der Verschluss-Sache heißt es:
„Die Herausgabe aller Bücher und Broschüren über die II. Partei-Konferenz und die Verwendung von Zitaten aus dem Referat, der Diskussion und dem Beschluss der II. Parteikonferenz in der Presse, in Zeitschriften, öffentlichen Versammlungen und Lektionen, Broschüren etc. ist ab sofort einzustellen.“
Das ist George Orwells Roman 1984 in Reinkultur. Eben noch hat man den Leuten eingehämmert, dass jetzt alles auf die Einrichtung des Sozialismus auszurichten sei. Und jetzt sagt man: alles Quatsch. Sozialismus ist verboten. Husch zurück zur Fassadendemokratie. Nun, im Endeffekt war jetzt die Suppe durch die vielen Köche total verdorben. Eine halbgare Fassadendemokratie existierte fortan mehr oder minder friedlich neben Ansätzen eines halbgaren Sozialismus. Zusammengehalten wurde dieses eingefrorene Machtpatt durch die harte Hand des Genossen Generalsekretärs Walter Ulbricht <3>. Das Ergebnis: ein Volk in Duldungsstarre und im Zustand innerer Kündigung. Eine permanente Verhinderung des Kollapses durch immer weitere Anlehnung an den kapitalistischen Westen. Und das bei gleichzeitig permanentem Abfluss qualifizierter DDR-Bürger in die Bundesrepublik. Bis auf die permanente Blutarmut dann im Jahre 1989 der Exitus folgte. Das dauerhafte Sterben der DDR begann bereits am 17. Juni 1953 <4>.
Quellen und Anmerkungen
<1> Eine inhaltlich sehr gute Dokumentation wurde 1990 im Auftrag der DDR-Filmgesellschaft DEFA erstellt: https://www.youtube.com/watch?v=NSiQsLaeP7A <2> https://epublications.marquette.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1711&context=dissertations_mu <3> „Thus we see how the uprising solidified the power structure in the GDR for decades to come.“ https://marcuse.faculty.history.ucsb.edu/classes/133p/133p99/jim1953.993.htm <4> Torsten Diedrich/Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Staatsgründung auf Raten? Zu den Auswirkungen des Volksaufstandes 1953 und des Mauerbaus 1961 auf Staat, Militär und Gesellschaft in der DDR. Berlin 2005.
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Bildquelle: Achim Wagner/ shutterstock
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