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«Der dressierte Nachwuchs» – Warum die heutige Jugend nicht aufbegehrt, sondern auf Linie ist

«Der dressierte Nachwuchs» – Warum die heutige Jugend nicht aufbegehrt, sondern auf Linie ist


Ein Rezension von Eugen Zentner.

Seit der Corona-Krise hat sich eine breite außerparlamentarische Opposition gebildet, eine bunte Bewegung aus kritischen Geistern, die das politische System und Regierungsentscheidungen kritisieren, die aufbegehren, sich vernetzen und nach Wegen suchen, wie sich die vielen Missstände der Gegenwart beseitigen ließen. Wer sich in diesen Kreisen bewegt, stellt verwundert fest: Wo sind die Jungen? Ob Demonstrationen, Vorträge oder Diskussionsrunden – die Teilnehmer gehören größtenteils den älteren Semestern an. Die Vertreter der Generationen Y und Z muss man hingegen mit der Lupe suchen.

Was ist mit den Jungen bloß los? Diese Frage wurde auch oftmals dem Medienwissenschaftler Michael Meyen bei seinen Vorträgen gestellt, weshalb er sich entschlossen hat, dieses Thema in einem schmalen Büchlein zu verarbeiten und ein paar Antworten zu liefern. Die erste findet sich bereits in dem Titel: «Der dressierte Nachwuchs». Was ein wenig überhöht und überspitzt klingt, hat einen tiefen Kern.

„Wer die kommenden Generationen für sich gewinnen will, der muss in die Kindergärten gehen, in die Schulen und Universitäten“,

schreibt Meyen. Diese Erkenntnis ist nicht neu, aber noch immer wahr. Der französische Philosophische Louis Althusser hat ganze Bücher geschrieben, um zu zeigen, inwiefern jene Erziehungseinrichtungen als ideologische Staatsapparate fungieren.

Die Techniken haben sich freilich verändert und ja, auch verbessert, wie Meyen in seinem Buch zeigt. Er tut es in einem konzisen, fast schon protokollarischen Stil, anekdotenhaft und mit Erklärungsansätzen aus der eigenen Lebenswelt. Meyen bringt sich immer wieder selbst ein und berichtet aus seinem Universitätsalltag, aus seinen Erfahrungen bei Vortragsreisen und aus Gesprächen mit Menschen, die sich über den Zustand der Jugend genauso wundern wie er. Dass diese heute eine andere ist als früher, dass sie eine gezähmte und dressierte ist, veranschaulicht der Medienwissenschaftler zunächst durch Vergleiche, indem er häufig in die 1960er Jahre zurückgeht oder die Zeit des sogenannten Vormärz in Erinnerung ruft, als sich überwiegend junge Erwachsene in den politischen Revolutionssturm warfen.

Im analogen Raum wagt der Nachwuchs heute nicht mehr den Schritt nach draußen. Stattdessen versteckt er sich vor dem Smartphone oder anderen digitalen Geräten, die ihnen den Weg in die Öffentlichkeit weisen. Wer die Jugend einfangen wolle, schreibt Meyen, müsse dafür sorgen, dass ihre Idole nicht auf „komische Gedanken“ kommen und die „Bühnen besitzen, auf denen all das passiert“. Hier schimmert ein weiteres Mal sein Kernthema durch. Wie fast alle seine Bücher dreht sich auch dieses um Medien und deren Wirkung, um deren Instrumentalisierung durch Eliten und um Definitionsmacht.

Meyen verdeutlicht so routiniert wie überzeugend, welche Medien der heutige Nachwuchs nutzt, wie er von ihnen geprägt und geformt wird – ja geformt werden soll. Dahinter steht ein Kalkül, so der Medienwissenschaftler, der das Ergebnis in Thesen wie dieser destilliert:

„Die Jugend von heute (…) wurde eingefangen mit einer Ideologie, die Herrschaftsverhältnisse verschleiert, das Band zu den Älteren kappt und die Aufmerksamkeit auf Felder lenkt, die niemandem wehtun, der über Macht und Ressourcen verfügt und deshalb etwas verlieren würde, wenn tatsächlich alle mitreden dürfen.“

Was in den letzten Jahren seitens der Lenker und Walter dafür getan wurde, kann Meyen nur andeuten, wie er selbst zugibt. Wer in den letzten Jahren nicht geschlafen hat, findet sich in seinen Aussagen bestätigt. Diejenigen, die über Macht und Ressourcen verfügen, schafften es, bei der Jugend die Illusion aufrecht zu erhalten, ‚links‘ zu sein und auf der Seite der Guten und des Fortschritts zu stehen. Nicht zufällig setzt sich heute der Nachwuchs eher für gendergerechte Sprache und Nachhaltigkeit ein, anstatt Kapitalismuskritik zu üben oder die Eigentumsfrage zu stellen. Minderheiten- und Umweltschutz sind jene Felder, auf die die Aufmerksamkeit der Adoleszenz gelenkt wird, um sie davon abzuhalten, an dem zu rühren, was die Macht der Eliten sichert.

Die eigentliche Dressurarbeit beschreibt Meyen als Abschaffung der Urteilskraft. Wie das vonstattengeht, breitet er in dem zentralen Kapitel über Schulen und Hochschulen aus. Zum Verlust der Mündigkeit, lautet eine These, hat unter anderem die Umstellung auf das Bachelorsystem im Zuge der Bologna-Reformen beigetragen. Heute endet jede Vorlesung mit einer Multiple-Choice-Klausur, selbst in den Geistes- und Sozialwissenschaften. „Da bleibt kein Raum für Streit oder gar Protest“, fasst Meyen die Auswirkungen zusammen: „Der ‚Lehrer‘ weiß, wo das Kreuz zu setzen ist, und belohnt die, die alles ‚richtig‘ machen. Wo früher um den Weg zur Erkenntnis gerungen wurde und wissenschaftliche Wahrheit ein Synonym für den aktuellen Stand des Irrtums war, wird den jungen Menschen heute Alternativlosigkeit beigebracht – Dinge auswendig lernen, nachbeten und dabei die Termine einhalten.“

Das eigenständige Denken geht auch deswegen zunehmend verloren, weil die Forschung politisiert wird, lautet eine weitere These. Nach zwei Jahrzehnten als Universitätsprofessor kennt Meyen die Mechanismen, deren Schmieröl noch immer Fördergelder sind: „Jeder zweite Euro, den staatliche Hochschulen für die Forschung ausgeben, wird von außen in das System gepumpt – auch von der Wirtschaft, das schon, vor allem aber von EU, Bund und Ländern.“ Das Prinzip ist bekannt: Wes Brot ich ess, des Lied ich sing. Die Ideen der Sponsoren setzen sich in den Köpfen der Entscheider von morgen und der Untertanen von heute fest.

Ein nicht weniger interessantes Kapitel beschäftigt sich damit, wie die herrschende Ideologie im Schulmaterial untergebracht wird. Meyen stützt sich hier auf die Aussagen eines ehemaligen Lehrers, der sich die Mühe gemacht hat, die heutigen Lehrbücher mit denen aus den vorherigen Jahrzehnten zu vergleichen. Das Ergebnis ist gravierend: Nicht nur, dass die Sprache verkümmert, auch die Realität wird verzerrt, unter anderem dort, wo es um die Nato geht oder prekäre Arbeitsverhältnisse. Obwohl sich Meyen für sein Thema nur 80 Seiten nimmt, bringt er darin viele Aspekte unter. Und so ist «Der dressierte Nachwuchs» ein bisschen von allem – Machtkritik, Medienanalyse und eine soziologische Studie über die Lebenswelt der jungen Generation.

Quellen und Anmerkungen

https://www.hintergrund.de/hintergrund-buchreihe-wissen-kompakt/ https://www.buchkomplizen.de/buecher/hintergrund-verlag/der-dressierte-nachwuchs.html   +++ Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags. +++ Bildquelle: Dabarti CGI / shutterstock


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