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Der Erziehungsstil der Bundesregierung | Von Laurent Stein

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Die Coronakrise gibt Anlass, das Handeln der Regierung in erziehungswissenschaftlicher Hinsicht zu analysieren.

Ein Standpunkt von Laurent Stein.

Hinweis zum Beitrag: Der vorliegende Text erschien zuerst im „Rubikon – Magazin für die kritische Masse“, in dessen Beirat unter anderem Daniele Ganser und Hans-Joachim Maaz aktiv sind. Da die Veröffentlichung unter freier Lizenz (Creative Commons) erfolgte, übernimmt apolut diesen Text in der Zweitverwertung und weist explizit darauf hin, dass auch der Rubikon auf Spenden angewiesen ist und Unterstützung braucht. Wir brauchen viele alternative Medien!

Manchmal hört man Eltern sagen, dass „die Zügel etwas angezogen werden müssen“, in der Hoffnung, einen aufsässigen Jugendlichen wieder zur Vernunft zu bringen. Wenn Eltern dies tun, weil sie sich das Beste für ihr Kind wünschen und die Gründe für ihre Entscheidung klar kommunizieren, spricht man von einem autoritativen Erziehungsstil, der auf eindeutige Regeln, aber auch emotionale Wärme baut. Doch auch Politiker wie Markus Söder waren sich während der Coronakrise nicht zu schade, mit ebendiesem Satz harte Einschränkungen in Bürgerrechten zu kommentieren. Ist das staatliche Handeln in der Krise ebenfalls von Wärme und Transparenz geprägt? Eine erziehungswissenschaftliche Analyse.

Die Erziehung ist eines jener rar gesäten Themenfelder, die wohl nie aus der Zeit fallen werden. Sie ist geprägt von einem immerwährenden Streit um das, was sogenannte „richtige“ und „falsche“ Erziehung auszeichnet; ein Streit, der vermutlich so alt ist wie die Erziehung selbst. Dabei unterliegt das, was zu einer bestimmten Zeit als „richtiges“ oder „gelingendes“ Erziehen erachtet wird, einer dynamischen Wandlung in Abhängigkeit davon, auf welchem Punkt des Globus sich ein Mensch gerade aufhält und welche historisch-kulturellen Hintergründe dort bestehen. Das, was an einem bestimmten Ort als „falsch“ angesehen wird, mag sich andernorts als wissenschaftlich fundiert ― ergo „richtig“ ― herausstellen. Dies weist darauf hin, dass die Erziehung ― im Gegensatz etwa zu naturwissenschaftlichen Feldern ― ein historisch stark normativ geprägtes Feld war und noch immer ist. Weil also den Aussagen, die im Erziehungskontext getroffen werden, immer auch eine subjektive Interpretation zugrunde liegt, sind gleichsam die Schlüsse, die in diesem Text gezogen werden, nicht frei von Subjektivität. Das Ziel dieses Essays kann es daher nicht sein, Anspruch auf universelle Wahrheit zu erheben, sondern allenfalls einen kleinen Ausschnitt der Wahrheit möglichst gut begründet vorzubringen. Damit dieses Anliegen gelingt, sollen zunächst grundlegende Begrifflichkeiten und Konzepte geklärt werden, um dann in Bezug zum staatlichen Handeln während der Coronavirus-Pandemie gebracht zu werden. Anschließend wird der Versuch unternommen, Teilaspekte ebendieses Handelns vor einem erziehungswissenschaftlichen Hintergrund zu interpretieren. Den Anfang macht der Erziehungsbegriff selbst. Was ist Erziehung? Die Erziehungswissenschaften weisen ein ganzes Füllhorn an Definitionsansätzen zum Erziehungsbegriff auf. Diese lassen sich insbesondere dahingehend unterscheiden, ob sie eher normativer Natur sind ― also angeben möchten, wie Erziehung idealerweise beschaffen sein sollte ― oder eher deskriptiv ausfallen ― also nüchtern beschreibend. Ein Beispiel für Ersteres wäre etwa die Definition des Pädagogen Friedrich Fröbel (1782 bis 1852), welcher proklamierte, Erziehung sei „Vorbild und Liebe, sonst nichts“. Für Letzteres ließe sich demgegenüber die Begriffsbestimmung des zeitgenössischen Erziehungswissenschaftlers Jürgen Oelkers heranziehen, der Erziehung beschrieb als „den ständigen Versuch, Alltag mit Kindern zu deren Nutzen zu gestalten“ (1). Eine weitere, leider etwas sperrige Definition stammt von Wolfgang Brezinka (2). Zum Anliegen dieses Textes aber passt sie, weil sie sich nicht ausschließlich auf das Eltern-Kind-Verhältnis bezieht. Der deutsch-österreichische Erziehungswissenschaftler interpretierte Erziehung als „soziale Handlungen, durch die Menschen versuchen, das Gefüge der psychischen Dispositionen anderer Menschen in irgendeiner Hinsicht dauerhaft zu verbessern oder seine als wertvoll beurteilten Komponenten zu erhalten oder die Entstehung von Dispositionen, die als schlecht bewertet werden, zu verhüten“. Psychische Dispositionen sind in diesem Kontext zu verstehen als veränderliche, geistige Anlagen wie beispielsweise Überzeugungen oder Kompetenzen. Der Staat als Erziehender Wie oben bereits angedeutet, wird Erziehung üblicherweise in einem Kontext pädagogischer Einflussnahme auf Heranwachsende gedacht. Dass besagte Einflussnahme durchaus auch von Erwachsenen auf andere Erwachsene erfolgen kann, wird zwar, wie die Definition von Brezinka zeigt, nicht grundsätzlich ausgeschlossen, ist jedoch im Feld der Erziehungswissenschaften kein dominantes Thema. Kaum verwunderlich, schließlich ist diese Art von „Erziehung“, welche nach dem Ende der eigentlichen Erziehung stattfindet, deutlich subtiler und entsprechend weniger prägend als jene, die man im frühkindlichen Alter durchlebt. Folglich wird sie von den meisten Menschen zumeist auch nicht als solche wahrgenommen. In Anbetracht dessen mag es also zunächst kurios anmuten, wenn in der Überschrift dieses Abschnittes vom „Staat als Erziehenden“ die Rede ist. Nicht nur, weil „Staat“ ein abstrakter Begriff für ein hochkomplexes Gebilde ist, welches als solches ― wenn überhaupt ― nur sehr abstrakte Beziehungen führen und demzufolge in noch abstrakterer Weise erziehen kann, sondern eben gerade deswegen, weil ein Großteil dieser abstrakten Beziehungen zwischen erwachsenen Menschen stattfindet und sich demnach gerade mit jenem Bereich der Erziehung überlappt, der von den meisten Menschen gar nicht als wirkliche Erziehung wahrgenommen wird. Nichtsdestoweniger soll im Folgenden an der Vorstellung eines Staates, der auch erzieherisch tätig wird, festgehalten werden. Den Anlass dafür liefern die Grundeigenschaften, welche erzieherisches Handeln abbilden. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass mit Staat hier in besonderem Maße dessen personifizierte Form einer Staatsgewalt ― also Exekutive, Legislative und Judikative gemeint ist. Die vier Grundmerkmale von Erziehung Erziehung weist nach Dr. Sabine Walper, Forschungsdirektorin am Deutschen Jugendinstitut (DJI), vier konstituierende Merkmale auf (3). Zuvorderst wäre hier das Kompetenzgefälle zu nennen. Da gibt es auf der einen Seite den Erzieher und auf der anderen Seite den „Zögling“, den es zu erziehen gilt. Die Rollenverteilung ist klar. Erzieher und Zögling begegnen sich nicht auf Augenhöhe. Im Eltern-Kind-Kontext ist es selbstverständlich, dass den Eltern aufgrund ihrer Lebenserfahrung die Erziehungsverantwortung obliegt. Wenn die Mama ihrem Kind sagt: „Sei lieb zum Nachbarsmädchen“, dann deswegen, weil sie ― um es mit Brezinka auszudrücken ― besser als das Kind weiß, welche psychischen Dispositionen gemeinhin als entfaltenswert erachtet werden. Ein vergleichbares Kompetenzgefälle lässt sich auch im Verhältnis des einzelnen Bürgers zur Staatsgewalt beobachten. Nicht der Einwohner entscheidet über die Spielregeln eines Landes, sondern der Staat in seiner Ganzheit ― hierzulande repräsentiert durch die berühmten drei Säulen der Demokratie. Der Staatsbürger hat diese Spielregeln zu achten, da man ― der demokratischen Grundidee folgend ― davon ausgeht, dass die Mehrheit bessere Entscheidungen zum Wohle aller treffen wird als der Einzelne. Wenn der Staat also beispielsweise vorgibt, dass es eine Religionsfreiheit gibt, dann deshalb, weil sich die Gesellschaft in einem demokratischen Prozess darauf geeinigt hat, dass die psychische Disposition der Toleranz in Glaubensfragen als wichtig und erhaltenswert gelten soll. Daran knüpft sich das zweite Merkmal von Erziehung, nämlich ein intendiertes und methodisches Vorgehen, an. Intendiert, das bedeutet in diesem Fall, dass die Erziehung ein bestimmtes Ziel verfolgt. Oelkers würde sagen: „den Alltag der Kinder nach deren Nutzen zu gestalten“. Das methodische Vorgehen hingegen bezieht sich auf die Art und Weise, wie das gesetzte Ziel erreicht werden soll. Das Spektrum reicht vom fröbelschen Ansatz von „Liebe und Vorbild“ bis hin zu „Strenge und Zucht“. Auf die Methodik, welche der Übersicht halber in einzelne Erziehungsstile untergliedert werden kann, soll in den nachfolgenden Abschnitten noch vertiefend eingegangen werden. Offenkundig ist jedenfalls, dass auch dieses Erziehungsmerkmal sich auf das Verhältnis des Staates zum Bürger übertragen lässt. Denn auch der Staat verfolgt mit seinem Handeln gewisse Ziele und kann zu deren Durchsetzung auf einen prall gefüllten Methodenkoffer zurückgreifen. Die hierin enthaltenen Konzepte reichen vom absolutistischen Leitsatz „L’état, c’est moi!“ („Der Staat bin ich!“), der naturgemäß autoritäres Handeln nach sich zieht, bis hin zu strikt basisdemokratischen Problemlösungsansätzen. Auch das dritte und vierte Hauptmerkmal von Erziehung finden durchaus ihre Entsprechung in der Beziehung zwischen dem Staat und seinen Bürgern. Dass Erziehung „immer gebunden an Gegenstände und Themen“ (drittes Merkmal) ist, zeigt sich etwa in der Verkehrserziehung, bei der in erster Linie der Erzieher den Zu-Erziehenden in die Straßenverkehrsordnung einweist. Sogar der Erzieher selbst erfährt durch den Staat, die geltenden Verkehrsregeln und die Polizei zeitlebens eine subtile Form der „Erziehung“. Das vierte und letzte Merkmal besagt, dass Erziehung „immer eingebettet in Institutionen und einen gesellschaftlich-historisch-sozialen Zusammenhang ist“. Ein Beispiel hierfür wäre im Lehrer-Schüler-Kontext die Schule, während sich im Rahmen der Dyade von Staat und Bürger ― gleichwohl wieder in abstrakterer Weise ― beispielsweise die Gerichte anführen ließen. Erziehungsstile nach Diana Baumrind Um nun eine Aussage über den Erziehungsstil des Staates und hier insbesondere der Bundes- und Landesregierung in Zeiten der Coronavirus-Pandemie treffen zu können, ist es wichtig, die bereits oben thematisierten Methoden systematisch zu klassifizieren. Glücklicherweise haben sich zahlreiche Wissenschaftler dies bereits zur Aufgabe gemacht. Die geläufigste Klassifikation stammt aus dem Jahr 1967 und aus der Feder der US-amerikanischen Entwicklungspsychologin Diana Baumrind. Baumrind unterschied die drei Erziehungsdimensionen „permissiv“, „autoritär“ und „autoritativ“ (4). Diese Einteilung wurde im Jahr 1983 von den Forschern Elenor Maccoby und John A. Martin aufgegriffen und um eine vierte Dimension, den Typus „vernachlässigend“, erweitert (5).

Grafik Erziehungsstile
Erziehungsstile nach Maccoby und Martin (1983).

Entscheidend für die Klassifikation eines bestimmten Erziehungsstils sind dabei die zwei Basisdimensionen Wärme (beziehungsweise Zuwendung) und Kontrolle. So zeichnet sich etwa der permissive Erziehungsstil durch wenig Regeln und hohe Zuwendung aus, während der vernachlässigende Stil zwar auch mit wenig Regeln, dafür aber mit einer kalten Indifferenz gegenüber dem Zu-Erziehenden daherkommt. Da jedoch wohl niemand auf die Idee kommen würde, die vergangenen anderthalb Jahre mit dem Attribut „regelarm“ zu versehen, können sowohl der permissive als auch der vernachlässigende Erziehungsstil im Falle des Staates ausgeschlossen werden. Bleiben zur Einordnung also noch die Kategorien autoritär und autoritativ. Autoritäre versus autoritative Erziehung Autoritäre Erziehung zeichnet sich nach Baumrind durch hohe Kontrolle und niedrige Zuwendung aus. Sie galt früher als normal und ist noch heute in manchen Kulturkreisen weit verbreitet. Geprägt ist sie von einer stark hierarchischen Ordnung, bei der an der Spitze die Erziehenden stehen, die die Regeln vorgeben.

Erklärungen und Begründen bleiben gemeinhin aus, ebenso werden Widerspruch und Hinterfragen nicht geduldet. Fehlverhalten im Umgang mit den Regeln wird scharf sanktioniert. Bei richtigem Verhalten kann es vorkommen, dass ein Lob ausgesprochen wird.

Das Menschenbild, das diesem Erziehungsbild zugrunde liegt, lässt sich ― insbesondere für das Verhältnis von Mächtigen und den ihnen Unterworfenen ― aus dem Werk „Der Fürst“ des italienischen Staatsphilosophen Niccolò Machiavelli herauslesen. Dort begründet dieser die Anwendung eines solchen Stils unter anderem mit den folgenden Worten: „Die Geschichte belegt es durch viele Beispiele (…), daß alle Menschen schlecht sind und daß sie stets ihren bösen Neigungen folgen, sobald sie Gelegenheit dazu haben. Hieraus entsteht die Streitfrage, ob es besser sei, geliebt oder gefürchtet zu werden? Die Antwort lautet, man soll nach beidem trachten; da aber beides schwer zu vereinen ist, so ist es weit sicherer, gefürchtet als geliebt zu werden, sobald nur eines von beiden möglich ist. (…) Denn die Liebe hängt an einem Bande der Dankbarkeit, das, wie die Menschen leider sind, bei jeder Gelegenheit zerreißt, wo der Eigennutz im Spiel ist; die Furcht vor Strafe aber läßt niemals nach“ (6). Dieser doch sehr rigiden Methodik, die sich aus einer recht düsteren Interpretation menschlicher Wesenszüge speist, steht der autoritative Erziehungsstil gegenüber. Dieser unterscheidet sich vom autoritären Stil vor allem hinsichtlich des Maßes an Wärme, das an den Tag gelegt wird. Autoritativ Erziehende haben zwar, ebenso wie ihr autoritäres Pendant, hohe Ansprüche an die Zu-Erziehenden, weswegen klare Standards und festgelegte Grenzen die Regel sind, doch ist ihnen auch die Förderung von Autonomie ein besonderes Anliegen. Auf die Bedürfnisse des Gegenübers wird deshalb eingegangen, Wünsche und Meinungen werden ernstgenommen und diskutiert. Die Missachtung von Regeln zieht Konsequenzen nach sich, die transparent kommuniziert werden und verhältnismäßig sind. Ein respektvoller Umgang bildet die Basis des Miteinanders, wenngleich die Beteiligten sich im Klaren darüber sind, dass die Beziehung auf einer Hierarchie fußt. Der staatliche Erziehungsstil in der Pandemie Betrachtet man die vergangenen anderthalb Jahre aus der Perspektive eines Befürworters der Corona-Schutzmaßnahmen, so wird man vermutlich schnell zu dem Schluss gelangen, die Bundesregierung habe zwar durchaus eine gewisse Strenge an den Tag gelegt, doch sei diese Bestimmtheit in Anbetracht der Gefahrenlage angebracht, sprich verhältnismäßig, gewesen. Nach bestem Wissen und Gewissen wurden Instrumente wie R-Wert oder Inzidenzen geschaffen, die einen Überblick über das Infektionsgeschehen erlauben sollen und zugleich innerhalb eines geordneten Rahmens dem Bürger mehr oder weniger Autonomie zugestehen ― je nach Gefahrenpotenzial. Es wird und wurde versucht, auf möglichst alle Bedürfnisse und Wünsche einzugehen, etwa mit Überbrückungshilfen, Hygienekonzepten und klug durchdachten Öffnungsstrategien. Abweichende Meinungen wurden ernstgenommen, sofern sie nicht von geistig konfus auftretenden Querulanten ― mit und ohne Professorenwürde ― geäußert wurden. Insofern scheint die Einordnung des staatlichen Erziehungsstils während der Corona-Pandemie schnell erledigt ― die Antwort kann nur autoritativ lauten. Oder etwa nicht? Doch autoritär? Wer es wagt, den gesetzten Rahmen der R-Werte, Inzidenzen oder vielleicht ganz grundsätzlich der „epidemischen Lage nationaler Tragweite“ zu verlassen, wer auch wissenschaftliche Informationen zurate zieht, die dem entgegenstehen, dem erscheint das staatliche Krisenmanagement fortan in einem völlig anderen Licht. Der respektvolle, pluralistische Ton verblasst zusehends, je weiter man sich von diesem oft und gerne als „Konsens“ betitelten Denkgebäude entfernt. Plötzlich schlägt einem ein rauer Wind entgegen, der sich rasch zu einem öffentlichen „Shitstorm“ ausweitet und alles davonweht, was einst einen empathischen und verantwortungsvollen Eindruck erweckte: aus autoritativ wird autoritär. Die Frage lautet nun: Ist diese Sichtweise vollkommen weltfremd? Für viele Menschen schon. Die nachfolgenden drei Beispiele werden allerdings zeigen, dass die These, die Bundesregierung weise bei der Handhabung der Krise auch autoritäre Züge auf, nicht vollends von der Hand zu weisen sind. Erstes Beispiel: Die gezielte Unterdrückung von Dissens durch Ausgrenzung abweichender Meinungen Im April 2020, also noch auf dem Höhepunkt der ersten Welle, wandte sich ein Mitarbeiter des Bundesinnenministeriums (BMI) an ein interdisziplinäres Expertengremium, um ihn bei der Erstellung einer Schadensanalyse des aktuellen Lockdowns zu unterstützen. Sein Name lautet Stephan Kohn und er war zu diesem Zeitpunkt Mitglied der Katastrophenschutzabteilung des BMI. Das Ergebnis des Expertengremiums war ein 182-seitiger Bericht mit dem Titel: „Auswertungsbericht des Referats KM 4 (BMI) ― Coronakrise 2020 aus Sicht des Schutzes Kritischer Infrastrukturen. Auswertung der bisherigen Bewältigungsstrategie und Handlungsempfehlungen“ (7). Die Befunde darin waren alarmierend. Riesige Folgeschäden in unterschiedlichsten Gesellschaftsbereichen seien aufgrund des Lockdowns zu erwarten. Allein die medizinischen Folgen – verschobene Operationen, ausgesetzte Früherkennungen, unterbrochene Therapien und vieles mehr – waren frappierend. Daher forderte man Bund und Länder dazu auf, eine angemessene Gefahrenanalyse vorzunehmen, die auch aussagekräftige Daten zu den Kollateralschäden beinhalten sollte. Kohns Bericht stieß auf taube Ohren. Niemand im Innenministerium wollte von den Warnungen etwas hören. Obwohl Innenminister Horst Seehofer zu Amtsbeginn seine Mitarbeiter dazu animiert hatte, Eigeninitiative zu zeigen, wurde Kohn schnell zu verstehen gegeben, er solle die Finger von der Sache lassen. Als der Bericht sich Anfang Mai seinen Weg in die Presse bahnte, gab das BMI eine Pressemitteilung heraus, in der man sich darauf kaprizierte, dass sei inakzeptabel sei, „wenn private Meinungsäußerungen und Gedankensammlungen unter Verwendung behördlicher Symbole (…) der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden“ (8). Der Inhalt des Berichts hingegen wurde nicht diskutiert. Vielmehr wurde Kohn vom Dienst suspendiert und erhielt Hausverbot im Bundestag. Heute, mehr als ein Jahr nach diesen Vorkommnissen, sind zahlreiche der Kollateralschäden, vor denen Kohn in seinem Bericht gewarnt hatte, wie zum Beispiel „Triage“-Situationen in Psychiatrien, Realität geworden. Ein ähnliches Schicksal ereilte auch Dr. Friedrich Pürner, ehemaliger Leiter des Gesundheitsamts Aichach-Friedberg in Bayern. Nachdem der schwäbische Amtsarzt sich kritisch zur Maskenpflicht an Schule und Kindergarten, zu Schulschließungen wegen positiver PCR-Tests und ganz grundsätzlich zur bayerischen Corona-Teststrategie geäußert hatte, wurde er seines bisherigen Amtes enthoben und an das Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit versetzt (9). Dieser Vorgang lässt vor allem eine Interpretation zu: Freie Meinungsäußerung ja, gerne, aber es muss schon die richtige Meinung sein. Sonst droht die Strafversetzung. Nicht die richtige Meinung hatte auch der Münchener Professor für Wirtschaftsethik Christoph Lütge. Dieser hatte immer wieder die strengen Corona-Lockdownregeln kritisiert und vor den Kollateralschäden gewarnt. Ihm zufolge seien die Maßnahmen „völlig unverhältnismäßig“, gerade in Anbetracht des Durchschnittsalters der sogenannten Corona-Toten. Andere Krankheiten gerieten aufgrund der einseitigen Fokussierung auf den Erreger SARS-CoV-2 aus dem Fokus. Darüber hinaus bemängelte er, dass die geforderten Inzidenzwerte im Winter schlicht nicht zu erreichen seien. Infolge dieser „skandalösen“ Aussagen beschloss das Kabinett unter Ministerpräsident Markus Söder, Lütge aus dem Bayerischen Ethikrat zu entlassen (10). Aus jenem Ethikrat also, der es sich laut eigener Aussage zur Aufgabe gemacht hat, die Landesregierung bei der Bewältigung der Folgen der Coronakrise möglichst umfassend und „interdisziplinär“ zu beraten. Ein Ethikrat, der „das freie Denken fortan unter den Gefälligkeitsvorbehalt eines Markus Söder stellt“ ― so ein Zitat des Journalisten Milosz Matuschek (11). Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht könnte man all die hier dargelegten Vorgänge auch folgendermaßen auf den Punkt bringen: Bestrafe einen ― erziehe hundert. Lernen am Modell. Zweites Beispiel: Intransparente, nicht zur Debatte stehende Begründungen Nur die wenigsten werden es der Bundesregierung angesichts der völlig undurchsichtigen Lage zu Beginn der Pandemie zum Vorwurf machen, dass sie mit einem Lockdown auf Nummer sicher gegangen ist. Die meisten Staaten handelten genauso und die Meldungen aus Bergamo und New York setzten die Regierenden unter Zugzwang. Doch schon bei den ersten Verlängerungen des Lockdowns im April 2020 begann das Narrativ des alternativlosen gesellschaftlichen Totalshutdowns erste Risse zu zeigen. Länder und Regionen ohne Lockdown, wie zum Beispiel Schweden oder South Dakota, waren ― entgegen dunkelsten Prognosen und Modellrechnungen ― ohne die erwartete Katastrophe durch die erste Welle gekommen. Unterdessen meldeten in Deutschland Ärzte und Kliniken Kurzarbeit für mehr als 400.000 Beschäftigte an (12). Dass auch hierzulande das von diversen Starvirologen prognostizierte Massensterben ausgeblieben war und in den Krankenhäusern Unterbelegung herrschte, wurde der Wirksamkeit des Lockdowns zugeschrieben. Eine öffentliche beziehungsweise öffentlich-rechtliche Debatte darüber, ob dies auch zutreffend war, blieb jedoch weitgehend aus. Die Stirnfalten, die sich inzwischen bei Teilen der Bevölkerung gebildet hatten, sollten sich im Zusammenhang mit der Verkündung des zweiten Lockdowns im Winter 2020 noch weiter vertiefen. In Bezugnahme auf die „7. Ad-hoc-Stellungnahme“ der nationalen Akademie der Wissenschaften ― kurz Leopoldina ― schloss sich die Bundesregierung dem Standpunkt an, dass es „aus wissenschaftlicher Sicht unbedingt notwendig sei, die Zahl der Neuinfektionen durch einen harten Lockdown drastisch zu verringern.“ Die sechs Wissenschaftler, die das Kanzleramt berieten und die die Stellungnahme mitverfasst hatten, bezeichneten diese als „deutliche und letzte Warnung der Wissenschaft“. Diese Warnung zu ignorieren würde bedeuten, sich gegen „die Wissenschaft“ zu stellen. Nun sollte man sich vergegenwärtigen, dass die Stellungnahme, von der hier die Rede ist, das Kunststück vollbringt, auf nur sieben (!) Seiten ― wobei auf zweien davon die Autoren aufgelistet sind ― den Standpunkt „der Wissenschaft“ darzulegen. Doch nicht nur vom Umfang her, sondern auch inhaltlich stellte sich diese der Bevölkerung als „Konsens“ verkaufte Lockdown-Empfehlung als recht dünn heraus. Die Zeitung Die Welt war die erste, die nur wenige Tage nach Erscheinen der Stellungnahme in dem Artikel „Das Leopoldina Desaster“ auf ein wackliges argumentatives Fundament hinwies (13). Schnell kristallisierte sich heraus, dass auch innerhalb der Leopoldina von einem wirklichen Konsens keineswegs die Rede sein konnte. Das Akademiemitglied Dr. Michael Esfeld, Professor für Wissenschaftsphilosophie an der Universität Lausanne, forderte in einem Schreiben den Präsidenten der Leopoldina zu einer Rücknahme der Stellungnahme auf. Esfeld sprach von einem „politischen Missbrauch von Wissenschaft“, wobei sich die beteiligten Wissenschaftler „von der Macht hätten verführen lassen“ (14). Darüber hinaus bemängelte er, dass die Regierung „vor allem jene Wissenschaftler zurate zieht, die bereit sind zu sagen, was die Regierung auch hören will.“ Dr. Thomas Aigner, Professor für Geowissenschaften an der Universität Tübingen, erklärte infolge der genannten Stellungnahme gar seinen Austritt aus der Akademie. Sein Schreiben an den Präsidenten der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz endet mit dem Satz: „Ich kann es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, ein Teil dieser Art von Wissenschaft zu sein“. Für großes Aufsehen sorgte auch der Austritt von Dr. Stephan Luckhaus, Seniorprofessor für Mathematik an der Universität Leipzig und einstiger Senator für die Sektion Mathematik an der Leopoldina. In einem inzwischen hunderttausendfach aufgerufenen Video beschreibt er, wie es der Leopoldina gelang, die Verbreitung seiner Forschungsergebnisse zu unterbinden. Man hätte ihm zu verstehen gegeben, dass seine Artikel „im Widerspruch zur Stellungnahme der Gesellschaft für Virologie“ stünden, weswegen er sich für eine Publikation noch gedulden müsse. „Das gibt eine ungefähre Vorstellung davon, was sich hinter der Vokabel ‚Konsens‘ in der Wissenschaft verbirgt“, sagte Luckhaus und begründete seinen Austritt aus der Akademie damit, dass er scheinbar „kein Konsenstyp“ sei (15). Drittes Beispiel: Die Pathologisierung und gewaltsame Bekämpfung allen „Querdenkens“ Als am 1. und am 29. August 2020 Zehn-, vermutlich sogar Hunderttausende auf die Straße gingen, um ihrem Unmut gegenüber der Coronapolitik der Bundesregierung Ausdruck zu verleihen, sprach Bundeskanzlerin Angela Merkel von einem „Missbrauch der Not“. In einem Gespräch mit Studenten im Dezember 2020 fand sie dann noch klarere Worte und rief zum „Kampf gegen Verschwörungstheorien“ auf (16). Die Kritiker der Maßnahmen, von Teilen der Regierungspartei SPD gerne auch durch die Bank als „Covidioten“ betitelt, würden „in einer Welt ohne Fakten“ leben. „Seit der Aufklärung ist Europa den Weg gegangen, sich auf der Basis von Fakten sozusagen ein Weltbild zu verschaffen. Und wenn ein Weltbild plötzlich losgelöst oder antifaktisch ist, dann ist das natürlich mit unserer ganzen Art zu leben sehr schwer vereinbar“, sagte Merkel und fügte an: „Das übliche Argumentieren, das hilft da nicht, deshalb ist das für uns schon eine besondere Herausforderung. Das wird vielleicht auch eine Aufgabe für Psychologen sein." Wie zynisch diese Aussage ist, zeigt sich schon in Anbetracht dessen, mit welcher Art von „Fakten“ die Bundesregierung nur wenige Tage zuvor ihren zweiten Lockdown begründet hatte. Nun soll hier nicht bestritten werden, dass im Umfeld der Querdenkenbewegung und in den einschlägigen Telegram-Kanälen auch eine Menge mehr oder minder stark ausgeprägter Blödsinn verbreitet wird. Das ist aber noch lange kein Grund, allen Anwesenden der Corona-Demonstrationen pauschal Virenleugnung, politisch extreme Ansichten, Amoralität oder gar psychologische Erkrankungen anzudichten. Für eine sich auf Wissenschaftlichkeit stützende Kanzlerin erscheint dies bestenfalls bemerkenswert undifferenziert, schlimmstenfalls schlicht boshaft. Besonders bemerkenswert am Umgang mit den Corona-Protesten war auch das Maß, das im Vergleich zu anderen zeitnah stattfindenden Demonstrationen angelegt wurde. So wurden beispielsweise sowohl die Demonstration in Kassel am 24. Juli 2021 als auch die beiden Kundgebungen in Berlin am 1. und am 29. August 2021 mit der Begründung verboten, „bei dem zu erwartenden Teilnehmerkreis sei mit Verstößen gegen die geltende Infektionsschutzverordnung zu rechnen“. Von der Kontroverse um die Wirksam- und Notwendigkeit von Masken an der frischen Luft einmal abgesehen, musste dies den Teilnehmern der Veranstaltung aber vor allem aus einem anderen Grund wie blanker Hohn erscheinen: Eine Woche zuvor hatten beim Christopher Street Day Zehntausende ausgelassen, friedlich und größtenteils ohne sich an die geltenden Abstands- und Maskenverordnungen zu halten, demonstriert. Ähnliche Parallelen waren auch ein Jahr zuvor im Rahmen der „Black Lives Matter“-Proteste in Deutschland zu beobachten gewesen. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass in der Krise das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nur für jene gilt, die für die aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft „richtige Sache“ demonstrieren. Als sich dann trotz des Verbots am 1. August 2021 zahlreiche Bürger dennoch nicht vom Demonstrieren abhalten lassen wollten, kam es zu unschönen Bildern der Gewalt. Videos von wahllos um sich prügelnden Polizisten machten die Runde. Das Ausmaß der Brutalität war derart, dass sich sogar der UN-Sonderberichterstatter für Folter, Nils Melzer, dazu veranlasst sah, dahingehende Ermittlungen einzuleiten (17). Die Kritiker der Corona-Maßnahmen ― pubertierende Jugendliche? Stellt man sich nun die Kritiker der Corona-Maßnahmen einmal als aufmüpfig und chronisch oppositionell vor ― Richard David Precht würde sagen, wie „Kinder, die sich völlig unverschuldet zu Stubenarrest verdonnert sehen“ (18) ―, so erscheint der Umgang mit diesen „Pubertierenden“ aus erzieherischer Sicht doch in hohem Maße befremdlich. Welcher Pädagoge würde heute ernsthaft argumentieren, dass Ausgrenzung, Herabwürdigung und ein Nicht-Hinterfragen-Dürfen von Regeln die Mittel der Wahl sind, um vermeintlich verhaltensauffällige Jugendliche wieder zur Raison zu bringen? Sind dies nicht vielmehr, wie weiter oben bereits dargelegt wurde, die Markenzeichen eines aus der Zeit gefallenen, autoritären Erziehungsstils? Vermutlich war es manch einem der handelnden Akteure nicht einmal bewusst, wie ihre Äußerungen in Teilen der Bevölkerung ankommen würden und dass sie sich unbewusst einen bestimmten Führungsstil zu eigen gemacht hatten. Dr. Lothar Wieler zum Beispiel hatte vermutlich nur Gutes im Sinn, als er voriges Jahr den berühmten Satz aussprach: „Diese Regeln (die AHA-Regeln) dürfen niemals hinterfragt werden“ (19). Bei anderen wiederum, etwa bei der Bundeskanzlerin, stellt sich die Frage, ob der an den Tag gelegte Kommunikationsstil nicht ganz bewusst so gewählt wurde. Schließlich ließ sie schon 1991 im Interview mit Günter Gaus durchblicken, dass sie, etwa bei Prozessen der Entscheidungsfindung, autoritäre Veranlagungen hege (20). Wiederum andere ließen in ihren Ausführungen keinerlei Zweifel hinsichtlich des verkörperten Führungsstils zu. So etwa Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl, der die Auffassung vertritt, Quarantäneverweigerer sollten schon beim ersten Verstoß „abgesondert“ ― konkret ― in geschlossene Krankenhäuser zwangseingewiesen werden (21). Bevor dieser Text aber den Eindruck einer Anklageschrift erweckt, soll an dieser Stelle die Bedeutung von Jens Spahns Äußerung im Bundestag ganz zu Beginn der Pandemie hervorgehoben werden. „Wir werden einander in ein paar Monaten wahrscheinlich viel zu verzeihen haben“, hieß es da aus dem Munde des Gesundheitsministers (22). Dies zeugt ― wenngleich der eine oder andere Immobilienerwerb eine andere Sprache spricht ― von einer demütigen Grundhaltung. Es wäre erfreulich, wenn eines hoffentlich nicht allzu fernen Tages, bei einer möglichen Aufarbeitung des Geschehens, alle Streithähne einen solchen Habitus an den Tag legen würden. Nur dann werden die aufgetretenen Wunden verheilen können und nur dann wird man auch behaupten können, dass die Krise Anlass für gesellschaftliches Wachstum gegeben hat. Dass die Gesellschaft gestärkt aus ihr hervorkam. Die Vorzüge des autoritativen Erziehungsstils Autoritativ erziehen, und mit gewissen Abstrichen auch autoritativ regieren, bedeutet für alle Beteiligten einen hohen Kraftaufwand. In den Erziehungswissenschaften ist hier oftmals vom Wandel „vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt“ die Rede. Etwas, das in der Theorie sicherlich besonders wohlklingend, in der Praxis jedoch gleichbedeutend ist mit einer nicht enden wollenden Geduldsprobe, nervenaufreibenden Diskussionen und vermutlich nicht selten mit dröhnenden Kopfschmerzen. Und da bekanntlich immer diejenigen mit den klügsten Erziehungstipps daherkommen, die selbst keine Kinder haben, soll an dieser Stelle noch ein weiteres Mal betont werden: Dies ist keine Anklageschrift. Ebenso wenig handelt es sich bei diesem Text um ein uneingeschränktes Plädoyer. Denn natürlich ist die strikte Anwendung des autoritativen Erziehungsstils in mancher Situation schlicht nicht umzusetzen. Dann etwa, wenn im Angesicht einer herannahenden Gefahr schnelles, entschlossenes und gemeinschaftliches Handeln nottut. Viele würden sagen: wie beim ersten Lockdown im März 2020. Die Führungspersönlichkeit der Zukunft wird sich allerdings nicht allein dadurch auszeichnen, ob sie, wenn es darauf ankommt, die nötige Strenge an den Tag legt, sondern auch dadurch, wie sie mit jenen regsamen Geistern umgeht, die sich nur mit großem Widerwillen den getroffenen Entscheidungen unterworfen haben. Denn wie bereits dargelegt wurde, zeichnet sich ein autoritatives Auftreten eben nicht nur durch ein hohes Maß an Kontrolle, sondern durch mindestens ebenso viel Wärme aus. Eine Wärme, die allen zukommen sollte ― auch den Aufsässigen. Vieles weist doch darauf hin, dass der anstrengende Weg geduldsamen Erklärens, Begründens und Verhandelns in der Situation zwar aufreibend sein mag, langfristig gesehen jedoch weitaus größere Erfolgsaussichten verspricht als indiskutable, nicht zu hinterfragende Befehle. Dies legen auch einige wissenschaftliche Arbeiten nahe, die im Zusammenhang mit autoritativer Erziehung durchgeführt wurden. So demonstrieren beispielsweise die vielzitierten Erkenntnisse von Laurence Steinberg (2001), erschienen im Journal of Research on Adolescence, dass Kinder, die autoritativ erzogen wurden, ein besseres Selbstwertgefühl, weniger Problemverhalten, eine geringere Neigung zu Depressionen, eine geringere Neigung zu Ängsten, bessere schulische Leistungen und positivere Beziehungen zu Gleichaltrigen aufweisen (23). Vieles davon Eigenschaften, die wahrlich nicht als Zustandsbeschreibung für unsere aktuelle Gesellschaft herhalten können. Da trifft es sich gut, dass gerade die Merkmale, welche kennzeichnend für den autoritativen Stil sind, Forschungsergebnissen von Rudolf H. Moos (1978) oder Micheal Rutter (1983) zufolge auch wirksame Lehrer, Schuldirektoren, Trainer und Organisationen auszeichnen (24, 25). Und streng genommen ist ja auch der Staat nichts anderes als eine Organisation. Vielleicht wäre es also eine Überlegung wert, bei der nächsten Krise etwas mehr „Autoritativität“ und dafür etwas weniger strikte „Autorität“ an den Tag zu legen. Ein Aspekt scheint dabei laut den Studienergebnissen von Steinberg von übergeordneter Bedeutung zu sein: Das Ausmaß, in dem Eltern Jugendlichen erlauben, eigene Meinungen und Überzeugungen auszubilden. Dies wird in der Forschung als „Gewährung psychologischer Autonomie“ bezeichnet. In der Juristerei gibt es dafür sogar einen eigenen Paragrafen: Den Paragraf 5 des Grundgesetzes. Quellen und Anmerkungen:

  1. Oelkers, Jürgen;, 2005: Kinder im Konsumzeitalter. In: Schmid, Wilhelm (Herausgeber): Leben und Lebenskunst am Beginn des 21. Jahrhunderts. München, Seite 97―132.
  2. Brezinka, Wolfgang; 2005: Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft. Ernst Reinhardt Verlag. München, Seite 95.
  3. Walper, Sabine; 2021: Erziehung: theoretische Grundlagen und aktuelle Forschungsergebnisse. Vorlesungsreihe allgemeine Pädagogik SS2021. LMU München. Seite 13.
  4. Baumrind, Diana; 1967: Child care practices anteceding three patterns of preschool behavior. In: Genetic Psychology Monographs. 75 (1). Seite 43 bis 88.
  5. Maccoby, Eleanor und Martin, John A.; 1983: Socialization in the context of the family. Parent child interaction. In: E. Mavis Hetherington, Hrsg. Handbook of child psychology 4: Socialization, personality, and social development. New York: John Wiley & Sons, Seite 39.
  6. Machiavelli, Niccolò; 1532: Der Fürst. Nikol Verlag. Hamburg. Seite 83 und folgende.
  7. Kohn, Stefan; 8. Mai 2020: Betreff: Ergebnisse der internen Evaluation des Corona Krisenmanagements KM 4 – 51000/29#2. Abgerufen am 10. September 2021 unter: https://behoerden.blog/wp-content/uploads/2020/05/Bericht-KM4-Corona-1_geschw%C3%A4rzt.pdf
  8. BMI-Pressemitteilung, 10. Mai 2020: Mitarbeiter des BMI verbreitet Privatmeinung zum Corona-Krisenmanagement. Abgerufen am 10. September 2021 unter: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2020/05/mitarbeiter-bmi-verbreitet-privatmeinung-corona-krisenmanagement.html
  9. Bayerischer Rundfunk, 2. März 2021: Aichach: Ex-Gesundheitsamts-Leiter Pürner klagt gegen Versetzung. Abgerufen am 10. September 2021 unter: https://www.br.de/nachrichten/bayern/aichach-ex-gesundheitsamts-leiter-puerner-klagt-gegen-versetzung,SQW4wpw
  10. Bayerischer Rundfunk, 11. Februar 2021: Ethikrat: Staatsregierung entlässt Lockdown-Kritiker Lütge. Abgerufen am 10. September 2021 unter: https://www.br.de/nachrichten/bayern/ethikrat-staatsregierung-entlaesst-lockdown-kritiker-luetge,SOjalPE
  11. Matuschek, Milozs; 15. Februar 2021: Eine Zensur findet statt ― aber nennen Sie es um Himmels Willen bitte nicht so! Abgerufen am 10. September 2021 unter: https://die-deutsche-wirtschaft.de/eine-zensur-findet-statt-milosz-matuschek/
  12. Ärzteblatt, 28. Juli 2020: Kliniken und Praxen meldeten Kurzarbeit für mehr als 400.000 Mitarbeiter an. Abgerufen am 11. September 2021 unter: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/115076/Kliniken-und-Praxen-meldeten-Kurzarbeit-fuer-mehr-als-400-000-Mitarbeiter-an
  13. Die Welt, 11. Dezember 2020: Angela Merkel und das Leopoldina-Desaster. Abgerufen am 15. September 2021 unter: https://www.welt.de/kultur/plus222264910/Angela-Merkel-und-das-Leopoldina-Desaster.html
  14. RT DE, 15. Februar 2021: „Von der Macht verführt“ ― Stellte sich die Leopoldina in den Dienst der Corona-„Propaganda“? Abgerufen am 11. September 2021 unter: https://de.rt.com/inland/113184-von-macht-verfuehrt-leopoldina-corona-propaganda/
  15. Dr. Stephan Luckhaus: Statement zum Leopoldina Austritt. Abgerufen am 11. September 2021 unter: https://www.youtube.com/watch?v=wkuGef3evb4
  16. ntv, 15. Dezember 2020: Merkel stellt sich klar gegen Corona-Leugner. Abgerufen am 15. September 2021 unter: https://www.n-tv.de/politik/Merkel-stellt-sich-klar-gegen-Corona-Leugner-article22237087.html
  17. Berliner Zeitung, 5. August 2021: Polizeigewalt in Berlin: UN-Sonderbeauftragter kündigt Intervention an. Abgerufen am 11. September 2021 unter: https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/polizeigewalt-in-berlin-un-sonderbeauftragter-kuendigt-intervention-an-li.175271?pid=true
  18. Precht, David Richard; (2021: Von der Pflicht. Goldmann Verlag. München. Seite 24.
  19. Lothar Wieler: „Diese Regeln dürfen niemals hinterfragt werden“. Abgerufen am 11. September 2021 unter: https://www.youtube.com/watch?v=HGZpv9iB-Qg
  20. Günter Gaus im Gespräch mit Angela Merkel, 1991. Abgerufen am 11. September 2021 unter: https://www.youtube.com/watch?v=YQBslPEZceI
  21. SWR-Aktuell, 8. November 2020: Innenminister Strobl verteidigt Idee der Quarantäne-Zwangseinweisung. Abgerufen am 11. September 2021 unter: https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/strobl-verteidigt-zwangseinweisung-100.html
  22. Jens Spahn; 22. April 2020: „Wir müssen verzeihen“. Abgerufen am 11. September 2021 unter: https://www.youtube.com/watch?v=sET5j1lQ_gY
  23. Steinberg, Laurence; 2001: We know some things: Parent-Adolescent Relationships in Retrospect and Prospect. In: Journal of Research on Adolescence. 11 (1). Seite 1 bis 19.
  24. Moos, Rudolf H. und Moos, Bernice S.; 1978: Classroom Social Climate and Student Absences and Grades. In: Journal of Educational Psychology. 70 (2). Seite 263 bis 269.
  25. Rutter, Michael; 1983, Developmental Neuropsychiatry, New York, USA: Guilford Pubn.

Literatur:

  • Langmayer, Alexandra N., 2014: Studie II: Erziehung und elterliche Übereinstimmung in Erziehung. Springer Verlag.
  • Frank, Gunter, 2021: Der Staatsvirus. Achgut Edition. Berlin. Seite 96 und folgende.

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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags. +++ Dieser Beitrag erschien zuerst am 09. Oktober 2021 im Rubikon – Magazin für die kritische Masse. +++

Bildquelle:

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Berlin,_Mitte,_Glinkastrasse,_Neubau_Bundesfamilienministerium.jpg


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