Standpunkte

Der Mann ohne Eigenschaften | Von Anke Behrend

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Das literarische Schaffen des Bundespräsidenten

Ein Standpunkt von Anke Behrend. 

Zwischen all seinen vielen Terminen hat Frank-Walter Steinmeier, seines Zeichens zwölfter Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, die Zeit gefunden, sein nunmehr fünftes Buch zu verfassen oder verfassen zu lassen. Für 14 Euro erhält man ein buchstäblich dünnes Büchlein mit dem schlichten Titel „Wir“, Unterzeile „Ein eindringliches Plädoyer des Bundespräsidenten für mehr Zusammenhalt und für den Mut, zu handeln“. Für Interessierte, die ihre 14 Euro lieber in zwei Döner investieren, ist das Buch auf der Webseite des Bundespräsidenten kostenlos als pdf verfügbar (1).

Wer von Frank-Walter Steinmeier nun ein intellektuell brillantes Werk voller Ideen und staatsmännischem Ehrgeiz, eine aufrüttelnde, bahnbrechende und mutmachende Motivationsschrift erwartet hat, könnte enttäuscht werden. Vielleicht werden nur wenige in Steinmeiers „Wir“ ein Buch erkennen, welches, wie die Augsburger Allgemeine befindet, eine „verblüffende Wucht“ entwickelt (2). Selbst dann nicht, wenn man es im Zehnerpack an den Kopf geworfen bekäme.

Erwartungsgemäß besteht „Wir“ aus einer Kanonade aus Plattitüden, Gemeinplätzen und Phrasen, wie man sie in jeder Steinmeier’schen Weihnachtsansprache zu hören bekommt. Selbstverständlichkeiten, Kalendersprüche, Mahnungen und Allerweltsweisheiten quälen den Leser durch die vergangenen Jahrzehnte deutscher Krisengeschichte. Dabei trieft aus jeder Seite die abgestandene, belanglose Attitüde sozialdemokratischer Rechtschaffenheit – selbstgewiss und ohne Konsequenzen wie ein evangelischer Kirchentag.

Ausgewalzt auf 142 Seiten der Hardcover-Version finden sich vier Kapitel über Steinmeiers „Wir“, in denen er versucht, eine, nämlich unsere, gemeinsame Wir-Identität dingfest zu machen. Und so sinniert er gleich auf der ersten Seite, wer „Wir“ überhaupt sind und wer sich anmaßt, über dieses „Wir“ zu entscheiden. Denn, und das thematisiert er nicht, wo immer ein „Wir“ konstruiert wird, entsteht zwangsläufig auch ein „Ihr“, eine Out Group. Diejenigen, die nicht dazugehören, die nicht mitmachen wollen, sollen oder dürfen. Die man bestenfalls gewähren lässt, beliebig abstempeln und ausgrenzen kann. Er selbst, Steinmeier, hat dies in den vergangenen Jahren ausgiebig praktiziert mit Aufrufen an die „Vernünftigen“. Den „Unvernünftigen“ werden sie in unguter Erinnerung geblieben sein.

Auf Seite neun schreibt Steinmeier: „Wir haben vor 75 Jahren das Grundgesetz beschlossen und es zum Herzstück unserer Verfassung gemacht. Wir haben uns vor 35 Jahren von der SED-Diktatur befreit.“

Aber nichts davon waren tatsächlich „Wir“. Es waren die Mütter und Väter des Grundgesetzes (3) und die Deutschen in der DDR. Sie allein haben das Recht mit einem „Wir“ die friedliche Revolution für sich zu reklamieren. Sie waren es die 1989 auf den Straßen für Demokratie demonstrierten, indes die Bundesbürger satt in ihren Fernsehsesseln zuschauten.

Im Ersten Kapitel klappert der Autor alle aktuellen Krisennarrative ab. Zu Corona liest man vom „Schock, einer Seuche ausgeliefert gewesen zu sein“. Der eine oder andere wird es anders in Erinnerung haben, wird sich dem Staat, einer übergriffigen Politik und aufgehetzten Mitbürgern, Nachbarn und Kollegen ausgeliefert gesehen haben.

„Eine ehrliche Aufarbeitung dieser Zeit steht noch aus.“, schreibt Steinmeier auf Seite 16. Eine diesbezügliche Forderung war bisher von ihm nicht laut zu vernehmen.

Korrekt konstatiert Steinmeier: „In der Klimapolitik begegnet uns erneut ein Muster, wie wir es wohl von der Corona-Pandemie als auch von dem russischen Angriffskrieg kennen.“ Die Ursachen seien verzweigt und schwer zu fassen. Aber folgenreiche Maßnahmen müssten ergriffen werden. Und später: „Es liegt doch auf der Hand, dass Extremisten daraus Kapital schlagen, wenn die Demokraten sich einer gemeinsamen Lösung verweigern.“

Steinmeiers „Wir“ sind also die Demokraten, die vereint gegen „Die“ Extremisten stehen müssen. Völlig korrekt beschrieben ist die Erregungsspirale aus Verrohung der Sprache und dem Verschieben der Grenzen des Sagbaren. Doch in den Krisenjahren war es Frank-Walter Steinmeier gerade nicht, der sich moderierend gegen Verrohung, Ausgrenzung und den tiefen Riss in der Gesellschaft positioniert hat.

Mit Aussagen wie „Sie gefährden uns alle“ (4) schürte er selbst Hass auf Kritiker und Ungeimpfte und verschob die Grenzen des Sagbaren. Unter anderem 2022 beschwor er erneut das „Wir“ der Vernünftigen:

„Es gibt sie, die große Mehrheit der Vernünftigen in unserem Land, Menschen, die Verantwortung für andere zeigen! Millionen, das darf nicht vergessen werden, halten sich an die Auflagen.“ (5)

Und damit war ein weiteres Mal klargestellt, dass jede Kritik und Kritiker unerwünscht sind. Es folgt ein betulicher Streifzug durch die jüngere deutsche Geschichte. Auf Seite 65, so man es bis dahin geschafft hat, bekommt man den Satz zu lesen:

„In der DDR wurde demokratisches Pathos bald zur leeren Phrase.“

Nicht nur dort, möchte man mit dem Rotstift an den Rand kritzeln.

Das Grundgesetz formuliert die Freiheitsrechte, nach denen sich viele Menschen in Ostdeutschland sehnten. Freie Rede ohne Angst, Versammlungsfreiheit, Bewegungs- und Reisefreiheit, konstatiert der Autor zutreffend.

2020 durften diese Menschen dann erleben, wie viele dieser Rechte leichthin suspendiert wurden und ein übergriffiger Staat sich in Folge dessen unter dem Deckmantel des „Kampfes gegen Rechts“ unliebsamer Stimmen zu entledigen versucht, völlig unabhängig davon, ob sie überhaupt rechts sind. Aber:

„Das Besondere des Menschen, sein eigensinniges Denken, sein Fühlen und Wollen, kann sich entfalten, solange das Allgemeine des Menschenrechts für jeden geschützt bleibt.“

Allein für diesen Satz auf Seite 119 des Buches „Wir“ hat sich das Lesen gelohnt.

„Wer eine Sache überdreht, erreicht das Gegenteil des Gewünschten.“

Noch 20 Seiten, dann ist es geschafft.

„Bleiben wir auf den letzten Metern vernünftig und geduldig!“ (6)

Selbstbewusste Bürgerinnen und Bürger nehmen Bevormundung nicht klaglos hin, erfahren wir sodann auf Seite 123. Frank-Walter Steinmeier ist sich dessen bewusst. Es ist nicht sein Geschäft als Bundespräsident, sich in die aktuelle Politik zu mischen. Er ist ein „lebendiges Symbol“ des Staates, so steht es auf seiner Webseite. Seine Aufgaben umfassen verfassungsrechtliche Befugnisse, Reden, Ansprachen und Schirmherrschaften. Integrierend, moderierend und motivierend soll er auftreten (7).

Und so liest man hinter all der präsidialen Bräsigkeit von einem Mann, der um die Krisen weiß, politisch jedoch machtlos, nachgerade hilflos wirkt. Bestenfalls kann er appellieren und abgestandene Weisheiten verkünden. Einer seiner Vorgänger, Roman Herzog, der siebte Bundespräsident, wird einigen in Erinnerung geblieben sein mit seiner legendären „Ruck-Rede“ (8):

„Durch Deutschland muss ein Ruck gehen. Wir müssen Abschied nehmen von liebgewordenen Besitzständen.“

Der Ruck blieb aus, Abschied nehmen mussten wir trotzdem. Viele der von Herzog genannten Probleme ähneln den heutigen frappierend. Andere sind durch Aussitzen nicht gelöst, sondern verschlimmert worden. Und ebenso wie schon 1997 die Rede vom Ruck wird auch Steinmeiers quälend langweilige Suada „Wir“ keinen nachhaltigen Eindruck hinterlassen.

Es ist gut, „Wir“ sagen zu können und über „Uns“ nachzudenken. Aber „Wir“ sind nicht nur Frank-Walter Steinmeier und die Seinen. Auch die Demokratie gehört nicht seinem „Wir“, diesen oder jenen. Sie gehört allen in diesem Land, auch denen, die Frank-Walter Steinmeier mit seinem „Wir“ nicht gemeint hat.

Quellen und Anmerkungen

(1) https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Berichte/DE/Frank-Walter-Steinmeier/2024/04/240417-Buch-Wir.html

(2) https://www.augsburger-allgemeine.de/politik/bundespraesident-neues-buch-bundespraesident-steinmeier-und-das-wir-id70466221.html

(3) https://www.bpb.de/themen/nachkriegszeit/grundgesetz-und-parlamentarischer-rat/39043/die-muetter-und-vaeter-des-grundgesetzes/

(4) https://www.fr.de/politik/corona-virus-pandemie-impfung-frank-walter-steinmeier-bundespraesident-deutschland-news-91117159.html

(5) https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/newsletter-und-abos/bulletin/rede-von-bundespraesident-dr-frank-walter-steinmeier-2002382

(6) https://www.zeit.de/video/2020-12/6218011979001/frank-walter-steinmeier-bleiben-wir-auf-den-letzten-metern-vernuenftig-und-geduldig

(7) https://www.bundespraesident.de/DE/amt-und-aufgaben/amt-und-aufgaben_node.html

(8) https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1997/04/19970426_Rede.html

+++Wir danken der Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags. +++ Bildquelle: Miti74 / shutterstock


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