„Project 2025“ - Wie Konservative 100 Jahre rückgängig machen wollen
Ein Standpunkt von Anke Behrend.
Viele werden sich in den vergangenen Monaten und Jahren gefragt haben, was denn eigentlich das Problem sei, an Konservatismus und Liberalismus. Diese Leute haben doch vernünftige Ansichten, berufen sich auf die Wirklichkeit und den gesunden Menschenverstand. Sie sagen, was viele hören wollen. Und sehen wir nicht selbst täglich in den Schlagzeilen und unserem Umfeld, wie die Städte und Gemeinden verwahrlosen? Wie der Staat nicht mehr funktioniert, die Medien, die Bahn? Die etablierten Parteien scheinen handlungsunfähig. Sie ergehen sich in Gezänk und „Kampf gegen Rechts“.
Doch dieses Rechts geriert sich als Stimme der Vernunft und der schweigenden Mehrheit. Einer Mehrheit, die einfach nur das heimelige Deutschland wiederhaben möchte, das sie vielleicht aus den 1990er Jahren in Erinnerung hat. Die aktuelle Situation ist vielerorts desolat und Schuldige schnell ausgemacht: die angeblich „linke“ Politik von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen mit ihrer Zuwanderungspolitik, Wokeness, die Energiewende und der Abfall vom christlichen Glauben als dem Bollwerk des Abendlandes gegen die Horden, aus welcher Himmelsrichtung sie auch kommen mögen.
Kriege, eine nicht aufgearbeitete Pandemie, radikalisierte politische Ränder, eine erodierende Mitte und „woke“ Politiker destabilisieren das Sicherheitsgefüge und den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Um Letzteren bemühen sich Konservative und Libertäre natürlich auch nicht, im Gegenteil, denn sie sind schließlich die Opposition. Doch welche Pläne diese anständigen Biedermänner wirklich haben, darauf gibt das US-amerikanische „Project 2025“ (1) einen düsteren Ausblick. Entwickelt wurde das „Project 2025“ von der 1973 gegründeten rechten US-Denkfabrik Heritage Foundation (2), die sich unter anderem für den „Krieg gegen den Terror“ stark gemacht hat (3). Finanziert wird dieser Plan zur Rück-Transformation unter anderem von der DeVos Family Foundation, ExxonMobil, der Walton Family Foundation und vielen anderen konservativen Gruppen und Einzelpersonen. Auf der Liste der Unterstützer finden sich über 100 Vorfeldorganisationen, darunter Abtreibungsgegner wie Americans United for Life, die biblisch orientierte American Family Association und das marktradikale Heartland Institut, das in seinen Anfangsjahren finanziert von Philipp Morris den Zusammenhang zwischen Passivrauchen und Lungenkrebs in Frage stellte sowie die Krankenversicherung Obamacare als eine der schlimmsten Regulierungen im Gesundheitswesen bezeichnete (4). Auch natalistische Bewegungen zur Erhöhung der Geburtenrate und politisch instrumentalisierter Kinderschutz finden sich im Umfeld des „Project 2025“. Die direkte Einflussnahme auf Sexualmoral, Geschlechterverhältnis und die persönliche Lebensgestaltung scheint eines der Hauptanliegen des Projektes und seiner Unterstützer zu sein. (5) (6) Was haben diese Leute vor?
„Unser Ziel ist es, eine Armee von abgestimmten, überprüften, ausgebildeten und vorbereiteten Konservativen zusammenzustellen, die ab dem ersten Tag daran arbeiten, den Verwaltungsstaat zu demontieren.“
Heißt es in der Präambel des „Project 2025“ (7). Der jetzige Präsident der Heritage Foundation, Kevin Roberts, beschreibt es im rechtskonservativen Medium Real America’s Voice folgendermaßen:
„Wir sind im Prozess der zweiten amerikanischen Revolution, die unblutig bleiben wird, wenn die Linke es zulässt.“ (8)
Tatsächlich geht es um nichts Geringeres als einen reaktionären Rückbau demokratischer, freiheitlicher, egalitärer und sozialer Errungenschaften und die Entmachtung der als „links“ geframten Demokraten:
„Wir wollen damit ein seit 100 Jahren laufendes Projekt der Progressiven rückgängig machen, den Verwaltungsstaat.“ (9)
Zu diesem Zweck sollen unmittelbar nach einem konservativen Wahlsieg mehrere Zehntausend Staatsbedienstete durch ideologisch gleichgesinnte Loyalisten ausgewechselt werden. Somit würde Lobbyismus praktisch zur Staatsraison. Auch die unabhängige Justiz würde nach den konservativen Plänen dem direkten Zugriff des Präsidenten unterstellt werden. Auf einer Wahlkampfveranstaltung in South Dakota beschreibt Donald Trump es wie folgt:
„Wenn ich gewinne und jemand greift mich an, dann rufe ich den Generalstaatsanwalt an und sage, pass auf, klag den an. Auch wenn er nichts verbrochen hat. Ich sage, klag ihn an wegen irgendwas. Du wirst schon was finden.“ (10)
Obschon Donald Trump sich kürzlich vom „Project 2025“ distanzierte, sind über 140 Personen aus seinem Umfeld daran beteiligt. (11) (12) Das „Project 2025“ ist also keineswegs der harmlose und gebotene Versuch, den einen oder anderen kulturellen Exzess zu zähmen. Es ist der radikale Plan, die Uhren zurückzudrehen und jeden, der nicht in das enge Weltbild passt, zu reglementieren und zu bevormunden. Diese Konservativen sind keine braven Spießbürger, sondern die Architekten eines neuen, finsteren Mittelalters. Sie sehnen sich zurück nach einer Zeit der eindeutigen Geschlechterrollen als die „Dr. Oetker“-Mutti sich noch fragte, was sie anziehen und was sie kochen soll. Als Fußball noch Männersache war und man unverhohlen im Fernsehen schwadronieren durfte, dass Frauen zum Autofahren nicht geeignet seien. Diese Konservativen wollen nicht nur saubere Straßen und pünktliche Züge. Sie wollen ihre gestrigen, patriarchalen Werte für alle verbindlich machen. Die Traditionen, die sie meinen, sind das hierarchische Lebensmodell des 19. Jahrhunderts, eine ausdrücklich patriarchale Familienordnung und eine sozialdarwinistische Gesellschaftsstruktur. Unter dem lieblich überzuckerten Idyll „traditionelle Familie“ verbirgt sich ihr rigides Lebensmodell:
„Familien aus verheirateter Mutter, Vater und ihren Kindern sind die Grundlage einer gesunden Gesellschaft.“ „Arbeitende Väter sind wesentlich für die Entwicklung ihrer Kinder, aber eine Krise der Vaterlosigkeit ruiniert die Zukunft unserer Kinder.“
Was klingt wie aus einem Pamphlet des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda findet sich im über 900 Seiten starken „Project 2025“ auf Seite 483. (13)Und um hier ganz klar zu sein: Wer eine traditionelle patriarchale Familienform für sich wählen möchte, muss das in einer freien Gesellschaft dürfen – aber niemand sollte es müssen. Andere Lebens- und Familienformen lehnen die Konservativen ab. Die Rechte von Homosexuellen und Transpersonen sollen rückabgewickelt werden. Aber auch hier muss in einer freien Gesellschaft gelten, dass jeder seine Lebensform frei wählen kann und der Staat sich nicht einmischt, indem er einseitig Lebensmodelle und Entfaltung der Persönlichkeit fördert oder erschwert, solange sie nicht zu Lasten Dritter gehen. (14) Überdies sind im „Project 2025“ soziale Umbauten und Einschnitte vorgesehen, die vor allem die unteren Schichten benachteiligen. Die ohnehin für viele prekäre Gesundheitsversorgung und ebenso Arbeitnehmerrechte sollen beschnitten werden. Umverteilung von unten nach oben, wie sie in den Coronajahren bereits massiv geschehen ist, wird die geplante Folge sein. (15) Das Bildungssystem soll die rückwärts gewandte Ideologie schon an die Kleinsten herantragen (16). Und ja, Gleiches passiert aktuell mit der Gender- und Klima-Ideologie der vermeintlich progressiven Seite, was es kein bisschen besser macht. Eine wesentliche Rolle beim Umbau spielt die Religion. Christlich fundamentale, evangelikale Positionen sollen gestärkt werden. Einige dieser Fundamentalisten sind allerdings genauso gefährlich und fanatisch wie die Extremisten, die sie zu bekämpfen vorgeben. Ihr „Project 2025“ ist kein Rettungsboot. Es ist ein Kriegsschiff, bereit, jede Errungenschaft der Aufklärung und der Moderne zu versenken. Sie sind die Taliban in Nadelstreifen, die Ayatollahs mit Bibeln in der Hand. (17) (18)Schon jetzt lehnen in den USA etwa 40 Prozent der Bevölkerung die Evolutionstheorie ab. Das ergaben laut einer Studie von 2022 Umfragedaten von mehr als 6 Millionen Erwachsenen in den USA, die zwischen 1990 und 2009 eine High School besucht hatten. Lehrpläne mit unwissenschaftlichen Inhalten sind nicht harmlos (19) (20). Sie korrumpieren langfristig das Urteilsvermögen und machen anfällig für krude Ideologien, Hass und Gewalt gegen Andersdenkende und Andersgläubige. All das mag dem aufmerksamen Publikum nur allzu bekannt vorkommen aus einigen Medien im deutschsprachigen Raum. Tendenziöse Propaganda, Stammtischparolen und Ressentiments, Frauenverachtung, libertäre Ideologie, Verherrlichung des Marktes und Ignoranz der negativen Folgen für Menschen und Umwelt – all das launig vorgetragen mit wohlfeilen Schmeicheleien, griffigen Alltagsweisheiten und immer dem erforderlichen Körnchen Wahrheit. All das ist wahrlich nichts Neues unter der Sonne. So ist auch dieses „Project 2025“ nichts neues, sondern eine Restaurationsbewegung (21), die unter dem Vorwand, die Auswüchse der Wokeness eindämmen zu wollen, das gesamte „linke“ Spektrum zu entsorgen beabsichtigt. Denn in diesen Kreisen leugnet man nicht nur die Evolution, sondern verschließt sich unter Berufung auf religiöse Dogmen auch dem Fortschritt der Zivilisationen. Stellt er doch die Tradition althergebrachter Macht- und Besitzverhältnisse in Frage. Selbstsabotage der Linken Die Rolle der „Progressiven“ in dieser Entwicklung ist kaum zu unterschätzen. Haben sie doch seit mehr als zwei Jahrzehnten ihre genuine Zielgruppe, die abhängig Beschäftigten, im Stich gelassen und sich einer anfangs legitimen Minderheitenpolitik zugewandt, die mittlerweile ihrerseits selbst quasireligiöse Züge angenommen hat. Die heutigen Vorstellungen über Geschlecht sind pseudowissenschaftlicher Kreationismus mit progressivem Anstrich. Allerdings muss man kein rechter Fundamentalist sein, um Ideen wie „Geschlechtswechsel“ mittels Pubertätsblockern als verantwortungslose Entgleisung abzulehnen. Postkoloniale Erbschuld-Konzepte scheinen direkt theologischen Dogmen entsprungen zu sein. Und die Cancel Culture gleicht nicht selten der mittelalterlichen Inquisition. Für postmoderne Linke mag es sich anfühlen wie ein Sieg, wenn überall auf Behörden und Konzernen die Pride-Flaggen wehen und mit der transgender Staatssekretärin Rachel Levine (22) die erste Transperson den Rang einer Vier-Sterne-Admiralin im US-Militär innehat. Faktisch jedoch haben diese Linken sich kaufen lassen. Sie haben die Toleranz der Bevölkerung überspannt, sie ins rechte Lager getrieben und sich selbst von einem Teil der Machteliten mit Fähnchen und Sternchen korrumpieren lassen.Kritisch bleiben! Free Speech, Aufarbeitung der Pandemie und die Ankündigung, den Ukrainekrieg zu beenden sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Republikaner, so sie denn die US-Präsidentschaftswahlen gewinnen, sehr konkrete Pläne für eine antidemokratische antimoderne Autokratie in der Schublade haben und ähnliche Bestrebungen in Europa bereits zu beobachten sind.
„Wenn einmal die Wendezeit gekommen ist, dann machen wir Deutschen keine halben Sachen, dann werden die Schutthalden der Moderne beseitigt." (Björn Höcke, AfD)
Bis jetzt konnte sich der Otto Rechtswähler noch damit herausreden, die Gutbürgerlichen würden doch nur der Wirklichkeit wieder zur Geltung verhelfen, das Abendland und unsere schönen Traditionen bewahren wollen. Doch angesichts der sehr konkreten Pläne der US-Konservativen sollte klar sein, wohin die Reise gehen könnte: In eine reaktionäre Autokratie. Ähnlichkeiten mit anderweitig religiös dominierten Diktaturen wären nicht zufällig. Ähnlichkeiten mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht sind hingegen völlig abwegig (24).
Quellen und Anmerkungen
(1) https://www.project2025.org/
(3) https://news.bbc.co.uk/2/hi/middle_east/2632845.stm
(4) https://lobbypedia.de/wiki/Heartland_Institute
(5) https://defeatproject2025.org/de/project-2025/whos-behind-it
(7) https://www.project2025.org/policy/
(9) https://youtu.be/fWEdJ_B28Bo?si=fBAqamVYo80TfEmc&t=59
(10) https://youtu.be/fWEdJ_B28Bo?si=kQuzzyr0D05dI79u&t=237
(12) https://edition.cnn.com/2024/07/11/politics/trump-allies-project-2025/index.html
(15) https://labornotes.org/blogs/2024/07/project-2025-eliminate-unions
(16) https://www.politico.com/news/magazine/2024/04/28/natalism-conference-austin-00150338
(17) https://www.domradio.de/artikel/radikale-us-politik-und-evangelikale-religion-verschmelzen
(21) https://de.wikipedia.org/wiki/Restauration_(Geschichte)
(22) https://www.womenshistory.org/education-resources/biographies/rachel-levine
(24) https://bsw-vg.de/wp-content/uploads/2024/01/BSW_Parteiprogramm.pdf
+++Wir danken der Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags. +++ Bildquelle: Anton Vierietin / shutterstock
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