Ein Kommentar von Friedemann Willemer.
In meinem Beitrag „Die verfassungskonforme Revolution“ habe ich Artikel 146 GG als „Nadelöhr“ zur Demokratie bezeichnet und zur Verwirklichung des Verfassungsauftrages von Artikel 146 GG aufgerufen. Die Geschichte und die Bedeutung von Artikel 146 GG möchte ich nachfolgend näher beschreiben, um bewusst zu machen, welche Chance uns Artikel 146 GG eröffnet, das totalitäre repräsentative Parteiensystem zu überwinden.
1. Das grundgesetzliche Provisorium
Das Grundgesetz basiert auf den sogenannten Frankfurter Dokumenten, hier Dokument I genannt. Diese übergaben die Militärgouverneure der amerikanischen, der britischen und der französischen Zone Nachkriegsdeutschlands den Ministerpräsidenten der Länder der Westzonen am 1. Juli 1948.
Das Dokument I enthielt detaillierte inhaltliche Vorgaben zur Gestaltung der Verfassung. Das Dokument I sah vor, dass die Annahme der Verfassung durch Volksabstimmungen in den Ländern erfolgen solle. Die Ministerpräsidenten lehnten eine Volksabstimmung in den Westzonen ab, da mit einer Verfassungsgebung im Westen die deutsche Teilung zementiert würde. Deshalb sollte der provisorische Charakter der zu erlassenden Verfassung betont werden.
Auf der Grundlage des Dokumentes I haben zunächst der Herrenchiemseer Konvent und der parlamentarische Rat aus 65 Parlamentariern der Landtage der beteiligten westlichen Länder das Grundgesetz nach mehrfachen Interventionen der alliierten Machthaber konzipiert und mit den Alliierten am 25. April 1949 über den Verfassungsentwurf Einigung erzielt. Nachdem das Grundgesetz vom Parlamentarischen Rat am 6. und 8. Mai 1949 verabschiedet worden war, billigten die Militärgouverneure am 19. Mai 1949 den vom Parlamentarischen Rat verabschiedeten Verfassungsentwurf. Danach nahmen die Landtage in den Ländern der drei Westzonen, ausgenommen Bayern, das Grundgesetz gemäß Artikel 144 an.
Der Einwand der Ministerpräsidenten, die Verfassung dürfe nur einen provisorischen Charakter haben, damit die deutsche Teilung nicht zementiert würde, führte in der Präambel der ursprünglichen Fassung von 1949 zu dem Hinweis, dass das Grundgesetz dem staatlichen Leben nur für eine Übergangszeit eine neue Ordnung geben solle. Entsprechend lautete Artikel 146 Grundgesetz, alte Fassung:
Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.
Artikel 146, alte Fassung, dokumentierte neben der Präambel alter Fassung, dass mit dem Grundgesetz lediglich eine Übergangsverfassung geschaffen werden solle, die nach Überwindung der deutschen Teilung durch eine vom deutschen Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt neue gesamtdeutsche Verfassung abgelöst werden soll.
2. Die Missachtung des Verfassungsauftrages
Nach der Wiedervereinigung hat der Deutsche Bundestag den Verfassungsauftrag des Grundgesetzes jedoch nicht umgesetzt, sondern den Akt zur Aktivierung der verfassungsgebenden bzw. verfassungsablösenden Gewalt des deutschen Volkes auf unbestimmte Zeit vertagt.
Die Verweigerung der Aktivierung der verfassungsgebenden Gewalt des deutschen Volkes durch den Deutschen Bundestag mit Verabschiedung des Einigungsvertrages vom 31. August 1990 ist ein eklatanter Verstoß gegen Artikel 79 Abs. 3 Grundgesetz. Artikel 79 Abs. 3 schützt die unberührbaren Grundsätze des Grundgesetzes vor Eingriffen durch die verfassten Gewalten – Parlament, Regierung, Gerichtsbarkeit. Außerdem ist der Deutsche Bundestag mit Artikel 20 Abs. 3 Grundgesetz ausdrücklich an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden.
Kernelement der verfassungsmäßigen Ordnung ist Artikel 20 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz, wonach alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Dies bedingt in der ersten Stufe einer Staatsgründung, dass das Volk seine verfassungsgebende Gewalt ausübt.
Artikel 146, alte Fassung, sollte dies nach Vollendung der Einheit Deutschlands gewährleisten. Der verfassungsgebende Akt durch das Volk ist die Geburtsstunde eines demokratischen Gemeinwesens und darf nicht in das Belieben der verfassten Organe gestellt werden, wie es mit der Änderung des Artikels 146 Grundgesetz geschehen ist. Damit hat sich der Deutsche Bundestag nicht nur über den provisorischen Charakter des Grundgesetzes laut Präambel und das Gebot der Volksabstimmung nach Vollendung der Einheit Deutschlands, sondern auch über die durch Artikel 79 Abs. 3 Grundgesetz als für unberührbar erklärte verfassungsgebende Gewalt des deutschen Volkes hinweggesetzt. Indem der Deutsche Bundestag eine Verfassungsabstimmung verhinderte, entmündigte er das deutsche Volk. Denn nunmehr entscheidet der Deutsche Bundestag nach seinem Belieben, ob der Souverän seine verfassungsgebende Gewalt ausüben darf. Damit wird das unantastbare Demokratieprinzip des Grundgesetzes außer Kraft gesetzt.
3. Die Lebenslüge des Grundgesetzes
Das Grundgesetz ist also mit einem erheblichen Makel, einer Täuschung, behaftet, wenn in der Präambel des Grundgesetzes sowohl der alten wie auch der neuen Fassung behauptet wird, dass sich das deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt das Grundgesetz gegeben habe.
Das deutsche Volk ist zu keinem Zeitpunkt als verfassungsgebende Gewalt tätig geworden, sondern – das zeigt die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes – die Militärgouverneure der Siegermächte haben im Zusammenwirken mit 65 Parlamentariern der Landesparlamente dem deutschen Volk die Verfassung vorgeschrieben. Weder die Siegermächte noch die 65 Parlamentarier der Landesparlamente, noch die Landesvertretungen der elf Länder in den Westzonen besaßen im Ratifizierungsprozess verfassungsgebende Gewalt. Nach dem demokratischen Legitimationsbegriff des Grundgesetzes besitzt ausschließlich das Volk die verfassungsgebende Gewalt. Das Parlament ist lediglich eine an eine Verfassung gebundene Staatsgewalt. Die verfassungsgebende Gewalt räumt den verfassten Gewalten durch Verabschiedung der Verfassung erst den Spielraum ein, in dem sich Parlament, Regierung und Gerichtsbarkeit bewegen dürfen. Entsprechend verweist das Grundgesetz mit Artikel 79 III für Eingriffe in die Schutzgüter des Artikels 79 III auf die ausschließliche Zuständigkeit der verfassungsgebenden Gewalt. Artikel 79 III Grundgesetz bindet die verfassten Gewalten, nicht das deutsche Volk.
4. Die öffentliche Verfassungsdebatte
Die Verfassung ist die Grundlage eines Staates. Sie erfordert eine im öffentlichen Diskurs gereifte, bewusste politische Entscheidung auf breitester demokratischer Grundlage. Das Volk ist in eine spezifische öffentliche Verfassungsdebatte einzubeziehen, in der das Für und das Wider einzelner Bestimmungen der Verfassung erörtert werden. Erst nach diesem Prozess kann das Volk eine gereifte, bewusste politische Entscheidung treffen. Diese unerlässliche demokratische Legitimation erreicht man nicht durch Landtags- oder Bundestagswahlen.
Es ist festzustellen, dass das Grundgesetz ausschließlich auf Entscheidungen der verfassten Gewalten beruht, das heißt der Landtage im Rahmen des Ratifizierungsverfahrens 1949 und dem Beschluss der Volkskammer vom 3. Oktober 1990 über den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland. Das deutsche Volk hat weder durch die Beteiligung an den Landtagswahlen in den Westzonen noch an den Volkskammerwahlen vom 18. März 1990 das Grundgesetz legitimiert, denn dies kann nur durch eine bewusste politische Entscheidung des Volkes auf breitester demokratischer Grundlage erfolgen, die ausschließlich das Grundgesetz zum Gegenstand hat.
5. Die Befreiung von einer Täuschung
Eine Verfassung, die mit einer Täuschung beginnt, darf nicht die Verfassung des deutschen Volkes bleiben. Es ist deshalb unerlässlich, dass die verfassungsgebende Gewalt des deutschen Volkes durch ein entsprechendes Gesetz aktiviert wird.
Mit Änderung des Artikels 146 GG durch den Einigungsvertrag vom 31.08.1990 wurde die Option durch den deutschen Bundestag offengehalten, aus Anlass der Wiedervereinigung eine breit angelegte Verfassungsdebatte zu führen, die mit einer neuen Verfassung enden sollte. Dieser Auftrag wurde bis heute nicht umgesetzt. Eine Demokratie beginnt jedoch erst, nachdem sich der Souverän, das deutsche Volk, eine Verfassung gegeben hat.
6. Die Umsetzung des Verfassungsauftrages
Wir, der Souverän, sind verpflichtet, den Deutschen Bundestag zu zwingen, den Verfassungsauftrag von Artikel 146 GG endlich zu erfüllen. Der Deutsche Bundestag muss ein Gesetz zur Aktivierung des Artikels 146 GG unter Beachtung des Artikels 79 Abs. 1 und 2 Grundgesetz ausarbeiten und noch in diesem Jahr in den Bundestag einbringen.
Das Gesetz soll unter Beachtung von Artikel 20 Abs. 2 Satz 2 und Artikel 79 Abs. 1 und 2 Grundgesetz ein Verfahren gewährleisten, in dem das deutsche Volk als Träger der verfassungsgebenden Gewalt darüber entscheidet, ob das Grundgesetz als Verfassung der Bundesrepublik Deutschland beibehalten oder durch eine andere Verfassungsordnung abgelöst werden soll. Dabei soll das Gesetz sicherstellen:
- dass der Volksentscheid nicht zusammen mit einer Bundestagswahl oder einer anderen nationalen Abstimmung verbunden wird
- dass eine im öffentlichen Diskurs gereifte bewusste politische Entscheidung auf breitester demokratischer Grundlage gewährleistet ist, insbesondere durch Einbeziehung der öffentlich-rechtlichen Medien verbunden mit der Verpflichtung dieser Medien, allen Beiträgen zur Beibehaltung oder Ablösung des Grundgesetzes umfassende und gleichberechtigte Medienpräsenz einzuräumen,
- und dass die Abstimmung erst nach einer öffentlichen Debatte von mindestens einem Jahr durchgeführt wird, damit ein demokratischer Ablauf unter Beachtung der ständigen Rechtsprechung des BVerfG gewährleistet ist.
Beteiligen Sie sich mit Ihrer Unterschrift unter dem Link https://innn.it/Demokratieheilen und zeigen Sie Mut in einer scheinbar hoffnungslosen Situation.
„Damit das Mögliche entsteht, muss immer wieder das Unmögliche versucht werden“ (Hermann Hesse)
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bildquelle: Christin Klose / Shutterstock.com
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