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Die fiesen Attacken penetranter Tage

Die fiesen Attacken penetranter Tage


Ein Meinungsbeitrag von Dirk C. Fleck.

Es gibt gute, normale und penetrante Tage. An guten Tagen gewinnen wir 9,80 Euro im Lotto, treffen die Frau unseres Lebens oder sprechen gelassen unsere Kündigung aus. Gute Tage sind selten, wie man weiß. An normalen Tagen fahren die Busse pünktlich, sind die Kollegen erträglich, klemmt der Reißverschluss nicht. Normale Tage sind so normal, dass wir uns kaum etwas anderes vorstellen können. Gäbe es da nicht die penetranten Tage.

Man erkennt sie nicht auf Anhieb, auch an ihnen scheint gelegentlich die Sonne. Wenn uns der Briefträger anstatt des erwarteten Schecks einen Bußgeldbescheid aushändigt, sind wir noch lange nicht bereit, dies als Indiz einer ungeheuren Kette von kleinen fiesen Attacken zu werten, die uns zwölf Stunden später mürbe gekocht haben werden. Warum grüßt mein Gemüsehändler mich nicht, obwohl er doch sonst so beflissen um Freundlichkeit bemüht ist? Warum labert der Verrückte mit der Bierdose in der Hand ausgerechnet mich in der U-Bahn voll? Wieso gibt es beim Bäcker heute keine Crossies? Und warum hat der Schuster geschlossen, als ich meine Stiefel zur Reparatur bringen will?

Okay, hab verstanden, dies ist ein penetranter Tag. In einer Stunde bin ich mit meinem Verleger verabredet, wir treffen uns bei ihm zu Hause etwas außerhalb Hamburgs. Es geht um das Cover meines neuen Buches. Ich will es HEROES nennen, er besteht auf HELDEN. Helden, das klingt nach Soldatenfriedhof. Heute soll endgültig entschieden werden, was auf den Umschlag kommt. Wo zum Teufel habe ich nur den Zettel mit der Adresse des Mannes? Auf dem Küchentisch! Noch wäre Zeit umzukehren. Zwecklos, den Wohnungsschlüssel habe ich meinem Besuch ausgehändigt und der ist beim Zahnarzt. Ruf ihn an. Womit denn? Das Handy liegt … in der Küche, auf dem Zettel mit der Adresse. Aus den Heroes drohen nun tatsächlich Helden zu werden.

Ich muss mich beruhigen und schlendere in den Park am Isekai. Dort hat das Gartenbauamt die Hundewiese eingezäunt, das erste Mal seit Jahren. Dadurch können die Blumen frei sprießen, ohne niedergetrampelt und angepisst zu werden. Ich setze mich auf eine Bank und sehe zu, wie sich Mohn- und Kornblumen im Wind wiegen, dem ich mich nach einer Weile ebenfalls hingebe. Schön. Dazu das fröhliche Gezwitscher der Vögel in den Bäumen, was will man mehr … Moment, das Geräusch kenne ich doch. Es kommt näher und zerreißt mir fast das Trommelfell. Hinter dem Maschendrahtzaun zieht ein Mähdrescher seine Bahn und verwandelt die Wiese in ein Schlachtfeld. Der Duft der geköpften Blumen vermischt sich mit den Abgasen, die über dem Boden wabern. Mir wird übel, ich muss gehen. Ist ein penetranter Tag, hatte ich vergessen.

Jedenfalls ist mein Besuch zurück, sodass ich in die Wohnung komme. In meinem E-Mail-Ordner befindet sich ein Schreiben meines Verlegers. Ich lasse die Mail ungeöffnet. Erst am Abend, Stunden später, schau ich rein. Und was lese ich?:

„Wir bleiben bei HEROES. Ich geh dann zum Weinen in den Keller und sag allen, die fragen, dass du mich mit vorgehaltener Waffel (mit Schokoüberzug und Puderzucker) dazu gezwungen hast.“

So kann aus einem penetranten Tag ganz schnell ein guter Tag werden. Was eine Wiese voller Mohn- und Kornblumen doch alles anzurichten vermag, wenn es sie nicht mehr gibt…

Aus Dankbarkeit beginne ich mit einem weiteren Porträt meiner fünfzig Heroes. Wenn ich den Anfang habe, fällt die Fortsetzung am nächsten Tag leicht. Wen nehme ich? Emma Goldmann (1869 - 1940), die Frau mit der wildesten Biographie, von der ich je gehört habe. Anarchistin, Agitatorin, Frauenrechtlerin, Friedensaktivistin. Ist Sigmund Freud, Peter Kropotkin, Ernest Hemingway und Lenin begegnet. Hat sich gegen die Wehrpflicht eingesetzt und für die Rechte der Arbeiter, Frauen und Kinder gekämpft. Und für die freie Liebe!

„Als hätte man einen Riesenquirl in ihr Leben gehalten,“ tippe ich, „so etwa ließen sich die einundsiebzig Jahre der Emma Goldman beschreiben. Hin und her geschleudert zwischen dem eigenen Gerechtigkeitssinn und den festgebackenen Verwerfungen ihrer Zeit. Ein Leben voller Verzweiflung über die Beharrlichkeit einer falsch konditionierten Gesellschaft. Angetrieben von einer unbändigen Sehnsucht nach Toleranz, Verständnis und Liebe unter den Menschen. Emma Goldman ließ sich in ihrem unermüdlichen Kampf für eine bessere Gesellschaft auch nicht durch die bitteren Zwischenbilanzen entmutigen, die sie immer wieder hat ziehen müssen. Wie diese zum Beispiel:

„Selbst ohne Ehrgeiz und Initiative haßt die kompakte Mehrheit nichts so sehr wie Neuerungen. Sie hat dem Neuerer, dem Pionier einer neuen Wahrheit immer Widerstand geleistet, ihn verurteilt und verfolgt.“

Gefällt mir. Morgen geht es weiter im Text. Morgen wird ein guter Tag, das fühle ich …

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Dirk C. Fleck ist ein deutscher Journalist und Buchautor. Er wurde zweimal mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis ausgezeichnet. Sein Roman “Go! Die Ökodiktatur” ist eine beklemmend dystoptische Zukunftsvision.

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle: LedyX / Shutterstock.com


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