Die erneuten und bislang massivsten Raketenschläge gegen die ukrainische Stromversorgung in den letzten Tagen stützen die Annahme, dass Russland mit dieser Aktion Verhandlungen erzwingen will.
Ein Kommentar von Bernd Murawski.
Die ersten Raketenangriffe auf das ukrainische Elektrizitätsnetz am 10. Oktober wurden noch allgemein als Vergeltung für den Bombenanschlag interpretiert, der zwei Tage vorher auf die Krimbrücke verübt wurde. Betroffen waren vor allem Umspannwerke mit einer Spannung bis zu 250 kV, die innerhalb weniger Tage repariert werden konnten. Ein weiteres Angriffsziel war das Hauptquartier des ukrainischen Geheimdienstes SBU im Zentrum von Kiew. Vermutlich wegen der harschen Reaktionen auf die hierdurch verursachten Todesfälle richtete die russische Armee fortan ihre Lenkflugkörper- und Drohnenangriffe nahezu ausschließlich auf militärische Einrichtungen und Objekte der Stromversorgung. Kollateralschäden wurden in der Folge weitgehend vermieden, und wenn überhaupt meist durch die ukrainische Luftabwehr verursacht.
Fortgesetzter Beschuss ukrainischer Stromanlagen
Der Beschuss ukrainischer Elektrizitäts- und Umspannwerke wurde bis zum heutigen Zeitpunkt mit wechselnder Intensität fortgesetzt. Bereits vor [etwa] einer Woche gaben Kiewer Behörden bekannt, dass 40 Prozent der Anlagen zerstört waren, wobei sich Reparaturarbeiten immer schwieriger gestalten. Planmäßige Stromabschaltungen wurden in allen Landesteilen zur täglichen Praxis, um zumindest eine partielle Versorgung von Privathaushalten, Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen zu gewährleisten.
Trotz westlicher Unkenrufe, der russischen Armee würden bald die Raketen ausgehen, weshalb vermehrt Drohnen zum Einsatz kämen, erfolgten am 15. November die bislang schwersten Angriffe auf die Stromversorgung, bei denen 30 Objekte beschädigt wurden. Die russische Seite betont zwar, dass das primäre Ziel die Zerstörung der militärischen Infrastruktur sei, worunter der Schienentransport von Rüstungsgütern fällt, der zu 90 Prozent mit elektrischen Zügen bestritten wird. Der Ausfall lebenswichtiger Infrastrukturen wie etwa der Wasserversorgung lässt indes keinen Zweifel, dass ebenso die Zivilbevölkerung betroffen ist.
Rückblickend lässt sich feststellen, dass der Anschlag auf die Krimbrücke und der Beschuss ziviler Objekte auf dem „alten“ wie dem „neuen“ Staatsgebiet Russlands eher ein Vorwand als ein Auslöser für die aktuellen russischen Raketenangriffe waren. Der Kreml konnte mit einer moderaten Reaktion des Westens rechnen, da Vergeltungsaktionen bereits in der Vergangenheit zum Zweck der Gesichtswahrung akzeptiert wurden. Erinnert sei etwa an den Militärschlag Teherans nach der Ermordung des iranischen Diplomaten Quassem Soleimani im Januar 2020, den die USA mit Fassung hinnahmen. Als Russland die Angriffe fortsetzte und das Ziel einer schrittweisen Zerstörung der ukrainischen Strominfrastruktur evident wurde, hatte sich bereits ein Gewöhnungsprozess eingestellt, sodass die Kritik auf einem niedrigen Level verblieb.
Während bis vor kurzem vornehmlich Umspannwerke für die lokale Versorgung attackiert wurden, richteten sich die jüngsten Schläge ebenso gegen das 750-kV-Hochspannungsnetz. Dies ist insofern bedeutsam, als einerseits dessen Transformatoren schwer zu ersetzen sind und andererseits Verbindungen zwischen den Teilnetzen sowie zum westlichen Ausland unterbrochen werden, die sich nur mühsam und zeitaufwändig reparieren lassen. Ziel der russischen Angriffe ist offensichtlich nicht allein, die Lage an der militärischen Front zu beeinflussen, sondern auch die Wirtschaft zu destabilisieren und das zivile Leben zu erschweren, um die Kiewer Führung zur Aufnahme von Verhandlungen zu zwingen.
Hinweise für den russischen Strategiewandel
Eine wichtige Voraussetzung für die Umsetzung dieser Strategie war der Rückzug aus dem westlich des Dnjepr gelegenen Teil der Oblast Cherson, der nur wenige Tage vor dem jüngsten Angriff auf die Stromversorgung erfolgte. Davor verfügte die Ukraine mit der Sprengung des Kachowka-Damms über ein Gegendruckmittel, denn die Folgen für die russische Seite wären verheerend: Der Krim-Kanal wäre ausgetrocknet und die Kühlung des Atomkraftwerks Saporoschje gefährdet gewesen. Außerdem wären große Gebiete am unteren Dnjepr überschwemmt worden, was auch die Versorgung von Zivilisten und Militärs auf der Westseite des Flusses erschwert hätte. Mit dem Einzug der ukrainischen Armee in Cherson schwand das Interesse Kiews an der Zerstörung des Damms, da eine Überflutung der Stadt der Intention widersprechen würde, sich mit deren Einnahme zu brüsten.
Ein weiterer Hinweis für den Entschluss Moskaus, mittels der schrittweisen Lahmlegung der Stromversorgung eine Verhandlungslösung anzustreben, ist das zaghafte Vorrücken an der Donezker Front. Bereits lange vor dem russischen Rückzug aus der Oblast Charkow am 10. September gab es kaum Landgewinne. Ein Grund war das begrenzte Militäraufgebot, das keine größeren Operationen, etwa eine Einkesselung des Gegners, erlaubt hätte. Ferner erwiesen sich die Verteidigungsstellungen der ukrainischen Armee als recht massiv, was ihre Einnahme verlangsamte. Das wichtigste Motiv war vermutlich die Vermeidung ziviler Opfer und massiver Zerstörungen, wie es sie in Mariupol und an anderen Orten des Donbass gab. Dieses Interesse hat auch nach der Aufstockung der Militäreinheiten Bestand.
Würde eine Entscheidung auf dem Schlachtfeld angestrebt, dann dürfte es mehrere Monate dauern, bis die durch die Teilmobilmachung ausgehobenen Kräfte einsatzfähig sind. Angesichts des ukrainischen Widerstands wäre danach kaum mit schnellen Erfolgen zu rechnen. Die russische Militärführung dürfte zudem Operationen mit dem Risiko höherer Opferzahlen scheuen, damit der Kampfeswillen der frisch Einberufenen nicht geschwächt wird. Sollte es mithilfe der eigenen Artillerieüberlegenheit auch gelingen, die ukrainischen Verteidigungslinien zu durchbrechen, dürfte spätestens die Übernahme größerer Städte wie Slowjansk und Kramatorsk zu erheblichen personellen Verlusten führen. Vorstellungen, dass die russischen Einheiten sogar Charkow oder Odessa einnehmen könnten, erscheinen angesichts des bisherigen Verlaufs der Kämpfe illusorisch.
Mit dem Wandel der Strategie hin zu Attacken gegen die Strominfrastruktur vermeidet die russische Führung nicht nur größere Opfer und Zerstörungen, sondern drängt auch auf eine schnelle Entscheidung. Wie die Konferenz der G20 in Bali offenbarte, herrscht in den Staaten des globalen Südens allgemeiner Unmut über den bewaffneten Konflikt in der Ukraine. Da die Kriegsparteien unter Druck stehen, die Kampfhandlungen einzustellen und Friedensgespräche aufzunehmen, erscheint es wenig opportun, auf eine langfristige militärische Lösung zu setzen.
Druck auf die ukrainische Regierung
Bislang gibt es auf ukrainischer Seite keine Anzeichen für eine Bereitschaft zu ernsthaften Verhandlungen. Augenscheinlich glaubt die Kiewer Führung, der russische Rückzug aus einigen Gebieten beweise die Überlegenheit des eigenen Militärs. Dies mag für die Gegenwart zutreffen, da Russland im Rahmen seiner „militärischen Sonderoperation“ mit einem beschränkten Truppenkontingent agierte. Nach dem Einsatz der über die Teilmobilisierung gewonnenen Kräfte dürfte sich die Lage jedoch gravierend ändern. Trotz der Territorialgewinne der Ukraine besteht daher unter Militärexperten ein allgemeiner Konsens, dass es keinen Sieg der Ukraine auf dem Schlachtfeld geben wird.
Überdies wird häufig ignoriert, dass die ukrainischen Erfolge mit hohen Verlusten bezahlt wurden. Annahmen in Kiewer Regierungskreisen, dass die dezimierten Reihen wieder aufgefüllt und sogar bis zu einer Million Soldaten rekrutiert werden können, sind gemäß den Analysen von Insidern deutlich zu hoch gegriffen. Zwar gelang es bisher, ein hohes Maß an Opferbereitschaft aufrecht zu erhalten, was den russischen Gegner überrascht haben mag. Die Wirkung von Propaganda und Durchhalteparolen beruhte jedoch weitgehend darauf, dass die Zivilbevölkerung bis vor wenigen Wochen kaum von den Kämpfen an der Front betroffen war. Indes kann angenommen werden, dass für die Bürger eine „Schmerzgrenze“ erreicht wird, wenn die Stromversorgung teilweise oder ganz lahmgelegt ist.
Während Russland diesen Trumpf ausspielt, ist erstaunlich, dass es keinen lauten internationalen Aufschrei gibt. Zweifellos handelt es sich bei einem Beschuss von Elektrizitäts- und Umspannwerken um eine völkerrechtlich fragwürdige Praxis, da sie auf die Zerstörung von Lebensgrundlagen abzielt. Angesichts des herannahenden Winters ist eine humanitäre Katastrophe nicht auszuschließen. Desgleichen werden die Flüchtlingszahlen unweigerlich anschwellen, wenn die Grundversorgung nicht mehr gesichert ist.
Die relative Gelassenheit im Westen steht in deutlichem Kontrast zur Hysterie anlässlich des angeblichen Massakers von Butscha im Frühjahr. Als Erklärung dürfte der oben erwähnte Gewöhnungseffekt, der auf die ursprüngliche Annahme eines einmaligen russischen Vergeltungsschlags folgte, nicht ausreichen. Wie der Fall Butscha dem Zweck diente, die russisch-ukrainischen Verhandlungen in Istanbul zu sabotieren, so dürfte auch diesmal ein westliches Interesse zugrunde liegen: Die ukrainische Führung soll „zur Räson gebracht“ werden.
Zwar haben führende Repräsentanten des Westens wiederholt betont, dass Kiew selbst entscheiden soll, wann es zu Gesprächen mit Russland bereit ist. Dennoch wird latent Druck ausgeübt. Das „Zuckerbrot“ sind die versprochenen Milliarden für den Wiederaufbau und eine künftige EU-Mitgliedschaft, die „Peitsche“ die immer schrofferen Reaktionen auf Kiews Waffenwünsche und seine Versuche, die NATO militärisch in die Kriegshandlungen einzubinden. Als Minimum erwartet der Westen von der ukrainischen Führung Signale, dass sie dem internationalen Druck nach einer Aufnahme von Verhandlungen zumindest verbal nachgibt.
Hintergrund der westlichen Ungeduld ist zum einen der schwindende Rückhalt in der eigenen Bevölkerung. Angesichts von Inflation, Versorgungslücken und drohendem Arbeitsplatzverlust sinkt die Bereitschaft, den Argumenten von Politikern und Medien zu folgen. Zum anderen gibt es zunehmende Engpässe bei der Lieferung von Rüstungsgütern. Mancherorts haben sich die Arsenale so weit geleert, dass die Landesverteidigung nicht mehr gewährleistet ist. Angesichts der unterschiedlichen Belastungen in den Unterstützerstaaten der Ukraine nehmen deren Konflikte untereinander zu, sodass sich die Geschlossenheit der westlichen Gemeinschaft zunehmend als Schimäre erweist.
Chinesische Interessen im Hintergrund russischer Entscheidungen
Ebenso befindet sich Russland unter externem Druck, einen baldigen Ausstieg aus den Kampfhandlungen anzustreben. Moskaus Erwartungen, zusammen mit China ein alternatives globales Finanzsystem etablieren zu können, haben in den seit März stattfindenden Expertengesprächen zu keinem greifbaren Ergebnis geführt. Immer häufiger werden in Russland Vorwürfe artikuliert, dass China wie auch andere enge Partner nicht die erwartete wirtschaftliche Unterstützung und politische Rückendeckung leisten. Stattdessen drängen sie auf eine Verhandlungslösung im Ukrainekonflikt, weil sie einerseits negative Konsequenzen für ihre Volkswirtschaften befürchten und andererseits Angst vor einer Eskalation haben.
Während der Besuche von Olaf Scholz und Emmanuel Macron in Peking herrschte trotz mancher Spekulationen und sich widersprechender Verlautbarungen wohl Einigkeit darüber, dass die Konfliktparteien in Moskau und Kiew zu baldigen Verhandlungen über eine Beendigung der militärischen Aktivitäten gedrängt werden sollen. Während auf der europäischen Seite Wirtschaftsinteressen wie die Versorgung mit Erdgas und anderen Rohstoffen im Vordergrund stehen, möchte China die wirtschaftlichen und politischen Bindungen zu den führenden EU-Staaten erhalten.
Zwar profitiert Peking von der wachsenden Zusammenarbeit mit Moskau im Energiesektor, etwa durch den beschleunigten Bau neuer Erdgasleitungen. Ebenso kann China wegen der westlichen Sanktionen seine Exporte nach Russland steigern und dessen technologische Abhängigkeit erwirken. Gleichwohl war das Handelsvolumen mit der EU im letzten Jahr mit 828 Milliarden Dollar mehr als fünfmal so groß wie jenes mit Russland, das nur 147 Milliarden Dollar betrug. Damit China seinen langfristigen Plan umsetzen kann, den Warenaustausch mit Europa auf den sichereren und schnelleren Landweg zu verlagern, bedarf es eines stabilen politischen Umfelds. Die Routen über Russland und teilweise über die Ukraine sind aufgrund ihrer kürzeren Entfernung und der ausgebauten Infrastruktur dabei unverzichtbar.
Die wirtschaftlichen Verflechtungen mit den Europäern lassen es für China opportun erscheinen, an dem etablierten Wirtschafts- und Finanzsystem festzuhalten. Zwar dürften weiterhin Überlegungen in alternative Richtungen existieren, wie die Tatsache zeigt, dass die chinesische Zentralbank in letzter Zeit vermehrt US-Staatsanleihen abstößt und Gold kauft. Die an Paris und Berlin gerichteten Kooperationsbekundungen deuten jedoch darauf hin, dass Peking glaubt, die Europäer im Konflikt mit Washington in einer neutralen Position halten zu können. Zweifellos dürfte die chinesische Führung die Situation aufmerksam beobachten, um nicht den gleichen Fehler wie Russland zu begehen, das bei dem westlichen Griff auf die Ukraine regelrecht verschaukelt wurde.
Damit sind die russischen Bestrebungen, gemeinsam mit China eine parallele globale Finanzarchitektur außerhalb von Dollar, Euro und SWIFT zu errichten, auf die lange Bank geschoben. Der vermehrte Handel auf Basis nationaler Währungen ist nur ein schwacher Trost. Gelingt dem Kreml gegenwärtig schon nicht der Schritt zu der gewünschten multipolaren Ordnung im Wirtschafts- und Finanzsektor, dann könnte er zumindest hoffen, dass die schwerwiegendsten Sanktionen durch die Fürsprache Pekings im Zuge einer Friedensregelung rückgängig gemacht werden. Sollte sich die EU widerspenstig verhalten und überdies im Schulterschluss mit Washington auf Distanz zu China gehen, würde der russisch-chinesische Plan eines alternativen Finanzsystems auf die Tagesordnung zurückkehren.
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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags. +++ Bildquelle: shutterstock / kovop58
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