Standpunkte

Die Pflicht zum schlechten Gewissen | Von Roberto J. De Lapuente

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Ein Standpunkt von Roberto J. De Lapuente.

Aufgehetzt von der „Critical Race Theorie“, betrachten sich auch wohlhabende dunkelhäutige Menschen oft als Opfer sozial benachteiligter Weißer.

Die Benachteiligung von Menschen aufgrund ihres geringen Einkommens ist in der öffentlichen Debatte oft kein Thema. Dabei betrifft das Thema mehr Menschen und führt oft zu schmerzlicheren Erfahrungen als alle anderen Formen der Diskriminierung. Wer dunkelhäutig ist, wird nur manchmal von besonders dumpfen Zeitgenossen herabgewürdigt; wer arm ist, spürt seine Ausgrenzung dagegen täglich auf Schritt und Tritt. Der Kampf gegen Rassismus weist keinerlei Verständnis für die soziale Frage auf — im Gegenteil: Er vermischt sich oft mit offenem Klassismus. So werden Angehörige der „weißen“ Mehrheitsgesellschaft nicht selten dazu angehalten, wegen ihrer Verstrickung in „strukturellen Rassismus“ nur noch in gebückter Haltung durchs Leben zu gehen. Sie sollen „People of Color“ selbst dann bedauern, wenn diese sozial bessergestellt sind. Genau diese Annahme aber ist blanker Rassismus: die Suggestion nämlich, Menschen seien allein aufgrund ihrer Hautfarbe verschiedene Pflichten oder Schuldanteile zugewiesen. Den Autor regte ein persönliches Erlebnis zu diesen Betrachtungen an.

Wir saßen am Boden im ICE nach Frankfurt. Sonntagnachmittag: Überfüllung. Als die Zugbegleiterin uns dort sitzend kontrollierte, fragte ich sie, ob sie wüsste, dass die New York Times neulich auch schon über die Deutsche Bahn berichtet habe. Habe sie?, fragte sie. Ich bejahte und fragte nach, ob sie sich denken könne, warum — dann zeigte ich auf unsere Lage, im Schneidersitz herumlungernd zwischen den Waggons. Einen Anspruch auf einen Sitzplatz hätte ich nicht, erklärte die Schaffnerin — und ich erwiderte, dass das ja das Problem sei. Welch groteske Praxis, Züge zu überfüllen, indem man niemandem Sitzplätze zuweise. Vermutlich hat sie es nicht begriffen — Betriebsblindheit. Man erfuhr neulich, dass Bahnmitarbeiter todunglücklich in ihrem Job seien. Sie schämen sich sehr ihres Arbeitgebers. Und sie sind genervt. Nachvollziehbar — denn dauernd kriegen sie Proteste zu hören.

An jenem Sonntagnachmittag waren wir auf der Rückfahrt vom Manova-Autorentreffen. Mein Kompagnon und ich führten schneidersitzend politische Gespräche. Ätzten über die Zustände im Lande. Neben uns, mit uns auch am Boden kauernd: eine junge, dunkelhäutige Frau.

Man kam ins Gespräch. Sie fahre weiter als Frankfurt, auch wenn sie in Offenbach wohne, erklärte sie uns, Konstanz sei ihr Ziel, denn ursprünglich sei sie nämlich ein „Schwabenmädle“. Sie sei Studentin — und fand das, was wir trieben, Journalismus also, ganz interessant. Mein Kompagnon erklärte, dass er unter anderem Geschichte studiere. Das fand die junge Frau gut, denn sie sei halbschwarz, und Geschichte war da immer … ja was? Sie führte es gar nicht richtig aus.

Sankt Moritz sehen und feiern

Was war Geschichte denn nun? Konkret benannte sie es nicht, aber der Verweis auf ihre Hautfarbe, der ein wenig zwanghaft kam, als müsste sie darüber Rechenschaft ablegen, ließ wenig Interpretationen offen.

Deutsche Geschichte ist aus ihrer Warte heraus offenbar nicht wie die „Amazon Diversity Standards“ — es gibt keine Quoten für Minderheiten und verschiedene Ethnien.

Schwarze kommen in der deutschen Geschichte relativ selten vor. Vielleicht meinte sie aber auch, dass deutsche Geschichte rassistische Ereignisse aufweist und ihr das unangenehm ist, sie triggert, wie es heute fachgerecht heißt. Die Alternative: Wir sprechen nicht mehr darüber?

Unausgesprochen entschlossen wir uns, nicht näher auf diesen Hinweis auf ihre Hautfarbe einzugehen. Was soll man auch erwidern? Sie ist schwarz, wir sind weiß. Na und? Klar, die Frau war dunkelhäutig, das sah man schließlich — ich komme noch aus einer Zeit, da man erklärte, Farbenblindheit sei ein hohes Gut in dieser Frage. Heute gilt diese Einstellung als problematisch und noch schlimmer, ich komme gleich darauf zurück. Ein Verweis auf die Hautfarbe gilt mir daher immer als völlig unnötig.

Das nette, zwanglose Gespräch erfuhr einen dezenten Bruch. Vermutlich aber nur für uns — im Nachgang erfuhr ich jedoch, dass meine Begleitung es genauso empfand. Wir hatten nun den Eindruck, dass die junge Dame sich irgendwie diskriminiert fühlte von deutscher Geschichte. Später wollte sie, wie aus dem Nichts, von uns auch noch wissen, was wir von der AfD hielten. Eine Antwort blieben wir schuldig, denn wir fuhren gerade in Fulda ein, mussten unseren unorthodoxen Sitzplatz für die Aus- und Zusteigenden räumen, fanden glücklicherweise ein reguläres Plätzchen und verabschiedeten uns also von unserer charmanten Unterhalterin. Bevor wir Fulda erreichten, fragte sie uns allerdings noch, ob wir ab und an in St. Moritz seien.

Das sei nicht unsere Gehaltsklasse, erwiderten wir. Sie nickte, gab uns recht — faselte etwas von 15.000 Euro Monatseinkommen, das man haben müsse. Sie sei dort aber gelegentlich. Wir erfuhren, dass sie in Frankfurt Architektur studiert, ihr Vater habe ihr recht schnell und unkompliziert eine Wohnung in Offenbach organisiert. Der sei ein preußischer Adliger, sie habe aber keinen Titel vorzuweisen. Während sie so erzählte, dachte ich an die deutsche Geschichte und wie sich die junge Frau ganz offenbar unwohl in ihrer Gegenwart fühlte. Weil sie halbschwarz sei, habe ihr die Geschichte immer zugesetzt.

Es war keine zehn Minuten her, da rieb sie uns diffuse Diskriminierungsgefühle unter die Nase — und nun zeigte sich, dass sie Teil der „High Society“ war.

Ausgrenzung als Lifestyle

Sie bewegt sich ganz offenbar in Kreisen und Gegenden, die mir nicht offenstehen. Ihr Vater besorgte ihr in Windeseile eine Wohnung, weil Töchterchen studiert — wenn ich heute eine Wohnung benötigte, wäre nicht daran zu denken, „mal eben schnell“ etwas anzumieten. Eile am Wohnungsmarkt kann man sich bloß leisten, wenn Geld gar keine Rolle spielt.

Dennoch bin ich — weiß, nicht mehr ganz jung und männlich — das Problem für viele im Lande. Der Verursacher allen Leides auf Erden. Vertreter des Patriachats und gesellschaftlich bessergestellt, weil ich keinen strukturellen Rassismus im Alltag erfahren muss.

So will es die Theorie — die „Critical Race Theory“ (CRT) nämlich, die mittlerweile zu einer Art von Staatsbetrachtung geworden ist. Auch darauf komme ich gleich noch zu sprechen. Die junge Frau hat mir diese Unterstellungen freilich nicht gemacht — sie wurde auch überhaupt nicht persönlich. Das Gespräch blieb zwar ab dem besagten Moment verhalten, aber dennoch sehr freundlich. Doch all das stand im Raum. Wir saßen zusammen auf dem Boden eines Schnellzuges der Deutschen Bahn. Gründeten eine Schicksalsgemeinschaft auf Grundlage des sukzessiven deutschen Staatsversagens. Dennoch trennten uns offenbar Welten in der Wahrnehmung.

Für sie war es bedeutend, die eigene Hautfarbe nochmals zu betonen und den Diskriminierungsstatus herauszukehren. Und das ungeachtet der Tatsache, dass sie innerhalb der deutschen Gesellschaft zu den offenbar Bessergestellten gehörte. Was meint Ausgrenzung denn hier? St. Moritz grenzt mich und die Mehrheit der Gesellschaft aus — das sehen die meisten aber nicht.

Die größte Diskriminierung innerhalb unserer Gesellschaft vollzieht sich nach Maßgabe des Einkommens. Thematisiert wird das eher selten, wenn es überhaupt erkannt wird.

Aber eine junge Frau aus besserem Hause fühlt sich — vermutlich inspiriert durch den Zeitgeist — dazu bemüßigt, ihre Diskriminierung anzuzeigen oder wenigstens anzudeuten. Man hat den Eindruck, dass man etwaige vorhandenen oder auch nicht vorhandenen Ausgrenzungserfahrungen zu einem Produkt des Lifestyles gemacht hat.

Der italienische Literaturwissenschaftler Daniele Giglioli hat vor bald einem Jahrzehnt auf die Opferfalle hingewiesen, und zwar in seinem gleichnamigen Essay. Alles und jeder geriere sich in dieser Zeit als Opfer, erklärte er. Damit werde man aber handlungsunfähig, weil die Selbstwahrnehmung von Menschen, die sich als Opfer betrachten — oder auch tatsächlich Opfer sind —, eher zur Lähmung führe. Der Opferdiskurs erlaube ja geradezu nicht, dass man tätig wird — man will Wiedergutmachung, Beachtung, Gerechtigkeit: Andere müssen also etwas tun, etwas leisten. Selbst ist man zum Warten verdammt. Im Grunde ist das auch eine bequeme Haltung, denn man steht auf der richtigen Seite — und liefern müssen die anderen.

Die Critical Race Theory schafft Rassismus

Für die Critical Race Theory trifft diese Opferfalle durchaus zu — allein das so zu behaupten gilt als Frevel und wird grundsätzlich als rassistisch eingestuft. Wie sie Kritik an ihr grundsätzlich kriminalisiert. Entstanden ist diese Theorie in den Siebziger- und Achtzigerjahren. Eine Gruppe von Rechtswissenschaftlern arbeitete damals heraus, wie sehr der Rassebegriff und die systemische Macht im Zusammenhang stehen. Wesentlicher Baustein ist hierbei der sogenannte strukturelle Rassismus, der vermeintlich jeden in der Gesellschaft — gemeint war hier die US-Gesellschaft — begünstigt, der eine weiße Hautfarbe vorweist. Kritiker gaben recht früh zu bedenken, dass das eine extreme Vereinfachung ist, denn in den USA gibt es viele Weiße, die in großer Not leben — 2022 galten fast neun Prozent der Weißen als arm. Zugegeben: Bei den Schwarzen lag die Quote weit höher, nämlich bei 17 Prozent. Die Theorie aber, wonach die weiße Hautfarbe grundsätzlich begünstige, lässt sich mittels der Zahlen als grob vereinfachendes Gesellschaftsmodell enttarnen.

Dennoch hat sich die CRT nicht nur in den Vereinigten Staaten als Grundlage der identitätspolitischen Debatte etabliert, auch in Europa greift sie um sich. Und sie kehrt aufklärerische Konzepte und Haltungsweisen ins Gegenteil: So kriminalisiert sie geradezu den liberalen Impuls, Menschen farbenblind zu begegnen. Wer das tue, leugne die spezifischen Erfahrungen anderer Ethnien. Wenn ein Weißer die Hautfarbe des Gegenübers nicht sehen wolle, ignoriere er, wie dieser Mensch ausgegrenzt wird. Spricht hingegen ein Weißer seinen Gesprächspartner auf seine Hautfarbe an, so macht er sich ebenso verdächtig.

Die CRT erlaubt keine Situation, in der man als weißer Mensch richtig reagieren kann. Extreme Formen dieser Theorie sprechen davon, dass Weiße grundsätzlich mit einem schlechten Gewissen durch das Leben gehen sollten — die Journalistin und Autorin Alice Hasters betreibt dieses Geschäft in der Bundesrepublik.

Natürlich gibt es Rassismuserfahrungen schwarzer Menschen in der deutschen Gesellschaft. Daran ist überhaupt nicht zu zweifeln. Aber daraus abzuleiten, dass der weiße Mensch per se ein Feind ist, wie es die CRT tut, führt nicht nur zu weit — es ist invertierter Rassismus. Inwieweit die CRT von den Betrachtungen der Black Muslims unter Elijah Muhammad geprägt ist, müsste mal genauer herausgearbeitet werden. Für sie waren Weiße nämlich ganz reale Bestien, die nur dem Zweck dienten, die eigentlich besseren und fähigeren Menschen dunklerer Hautfarbe zu quälen.

Die CRT ist tief vorgedrungen in unseren Alltag. Wenn eine junge Frau in einem ICE anfängt, ihre Hautfarbe zum Gegenstand eines harmlosen Plausches zu machen, dann spürt man den Vormarsch dieser radikalen Ideologie unmittelbar — denn sie nimmt einen Platz ein im ganz banalen Alltag. Und sie vergiftet das Klima. Dass die CRT wiederum ausgerechnet von Leuten verbreitet wird, die gesellschaftlich nicht unten stehen, ist nun wahrlich kein Zufall. Denn sie ist ein akademisches Kunstprodukt, das eine Scheinrealität abbildet und von Grund auf eher ein akademisches Publikum erreichen sollte. Die soziale Frage bildet die CRT nicht ab. Im Gegenteil, sie befördert den Klassismus, weil sie reiche Schwarze zu Opfern armer Weißer erklärt und damit das soziale Gefälle ad absurdum führt.

+++ Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags. +++ Dieser Beitrag erschien zuerst am 14. August 2024 bei manowa.news +++ Bildquelle: MikeDotta / shutterstock


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