Eine freundliche Einladung zum Gespräch
Ein Meinungsbeitrag von Uli Gellermann.
Ulrike Guérot war Professorin an der Universität für Weiterbildung Krems und leitete dort das Departement Europapolitik und Demokratieforschung. Für das Wintersemester 2017/18 erhielt sie die Alfred-Grosser-Gastprofessur der Goethe-Universität Frankfurt. Seit September 2021 ist sie Professorin im Angestelltenverhältnis für Europapolitik und Co-Leiterin des Centre Ernst Robert Curtius (CERC) an der Universität Bonn. Der Norddeutsche Rundfunk berief sie noch im vergangenen September in die Jury seines Sachbuchpreises. Und plötzlich gilt das alles nicht mehr. Angeblich hat man jetzt entdeckt, dass sie sich „fremdes geistiges Eigentum zu eigen gemacht hat“. Über Jahre war sie ein Darling der Eliten. Bis sie eine von der Mehrheits-, Medien- und Regierungs-Meinung abweichende Meinung kund tat. Ausgerechnet darüber, was man in der Corona-Regime- und der Ukrainekrieg-Frage zu denken hatte. Schluss mit Darling. Auch darüber hat sie jetzt gemeinsam mit Matthias Burchardt ein Buch veröffentlicht.
Das Phänomen Guérot
„Das Phänomen Guérot“ ist kein klassisches Buch; es ist eher ein langes gründliches Gespräch zwischen den beiden Autoren, in das der Leser freundlich einbezogen wird. Ulrike Guérot hat einen Vorteil, der aus dem Nachteil kommt: Bis gestern gehörte sie noch „dazu“; ihr Sturz aus der Mehrheitsmeinung schärft ihren Blick auf die deutsche Gesellschaft. Auch Matthias Burchardt gehörte „dazu“. Als Akademischer Rat der Uni Köln und Autor des Westdeutschen Rundfunks galt er als Teil der Mehrheits-Kohorte, bis er sich kritisch mit der Bildungsreform in Deutschland auseinandersetzte und die unter PISA und „Bologna“ bekannten „Reformen“ eher als Deformationen wertete. Inzwischen darf ihn das Denunziationsportal „Wikipedia“ als „aktiv in der Querdenker-Szene“ verorten.
Freiwillige Gleichschaltung
Schon früh im Buch erinnert Frau Guérot, dass ein „leitmedialer Raum (...) die staatlichen Corona-Maßnahmen fast alle integral befürwortet habe.“ Und sie ergänzt diese Erkenntnis um die Feststellung einer „freiwilligen Gleichschaltung“ von Medien und und Funktions-Eliten. Dass diese „Freiwilligkeit“ Ergebnis einer Mischung von sozialem Druck und Opportunismus war, hätte sie ergänzen können und sollen. Matthias Burchardt rundet diese Position ab, wenn er „Medienleistungen“ ironisch als Vermeidung von „Irritationen der Bevölkerung“ einschätzt. Wie schon bei Guérot freut man sich über die Feststellung, vermisst aber die weitergehende Analyse: Wer leitet in wessen Interesse die „Vermeidung“?
Simulierte Demokratie
Wie schnell kritisches Hinterfragen an die Grenze des gesellschaftlich Erlaubten stößt, begreift Frau Guérot, wenn sie auf „LinkedIn“ gelöscht wird, weil sie den Begriff „simulierte Demokratie“ nutzte. Aber die Autorin bleibt auf der Spur, wenn sie zwar eine atomisierte Algorithmen-Gesellschaft konstatiert, die aber parallel eine Zentralisierung durch Konzerne wie Google, Microsoft oder Amazon erfährt. Jetzt sollten sich Vokabeln wie Besitzverhältnisse und Profit unbedingt aufdrängen. Aber das vorliegende Buch antwortet nicht gern, fragt lieber oder kommt auf einen sehr alten Herrschafts-Hund, wenn es „die Straße“ nicht gegen das Parlament gestellt sehen will. Denn „von der Straße regiert zu werden ist in der Geschichte meist eher unschön“. Ach, liebe Frau Guérot, erst als in der November-Revolution „die Straße“ gegen den Verrat der SPD und die Reichswehr verloren hatte, war die Zeit reif für die Nazis. Richtig „unschön“ wurde es, als sich die Hinterzimmer des Düsseldorfer Industrieclubs für Hitler entschieden hatten und mit der Finanzierung der SA durch Finck und Quandt die Straßen für die braunen Bataillone frei wurden.
Pharma-Industrie kommt nicht vor
Wenn nach gut der Hälfte der Seiten das Wort Pharma-Industrie nicht einmal vorkommt, stattdessen aber dieser Satz auftaucht: „Wir wissen also kognitiv, dass wir nur über Erfahrung lernen, aber gleichzeitig zu verkopft (sind), um das als Erkenntnis zuzulassen.“ Dann könnten die beiden Autoren-Köpfe langsam mal über Interessen reden, über Profite und Macht, über Obrigkeit und Impfen. Welchem Sinn ein längerer Ausflug in die Genderei dient, erklärt sich aus dem vorliegenden Text nicht. Auch wenn über „politische Repräsentanten“ geschrieben steht, die hätten „keine Inspiration wie wir eigentlich leben wollen.“ Da hätte man schon gern gewusst, wer denn in diesem Fall „wir“ sind. Die Einladung zum Gespräch ist herzlich und aufrichtig, aber die Einlader wissen nicht so recht, was sie mit den Gästen anfangen sollen.
Sozialismus der Herrschenden?
Vor drei Jahren trafen sie sich in Lockdown-Zeiten in einem Hinterzimmer: Coronaleugner nannte man sie, Schwurbler, Rechte. Der Wirt dachte ähnlich wie seine Hinterzimmer-Gäste. Einmal erwischte sie eine Polizeirazzia. Die Berufe wiesen sie als bürgerliche Leute aus. Die Menschen rund um den Tisch hatten gestern noch SPD gewählt, GRÜNE oder Linkspartei. Immer wieder wurde „Bella Ciao“ gesungen. Ein linkes Partisanenlied. Warum wurde es von „Rechten“ gesungen? Weil sie so fühlten: „Eines Morgens, in aller Frühe, trafen wir auf unseren Feind“. Das Land von gestern wird es nicht mehr geben. Wie das neue aussehen wird, ist unbekannt. Denn, wie auch im vorliegenden Buch zu lesen ist, der Widerstand aus den Corona-Tagen weiß nur ungenau, wer denn der Feind ist. Völlig abseitig wird in der Demokratiebewegung immer wieder vom „Sozialismus“ der Herrschenden geredet. Aus dieser ideologischen Schlampigkeit kann kaum ein Entwurf für das neue Land entstehen.
Das kann ein Anfang sein
Das letzte, das Nachwort im Buch, hat Gabriele Gysi: „Ulrike Guérot nimmt uns mit ins (...) immer neue Verstehen von Zusammenhängen.“ Nein. Leider nicht. Immerhin ist sie ein Beispiel an Risikobereitschaft als Voraussetzung für das Denken außerhalb der kleinen Medien-Gehege. Das kann ein Anfang sein.
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Dieser Beitrag wurde zuerst am 28.3.2023 auf dem Portal Rationalgalerie veröffentlicht. +++ Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags. +++ Bildquelle: apolut
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