Standpunkte

Die totale Haltung | Von Roberto J. De Lapuente

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Ein Standpunkt von Roberto J. De Lapuente.

Beim Kauf eines ÖPNV-Tickets wird man dieser Tage schon mal indoktriniert. »Stay with the Ukraine«, steht auf dem Automatendisplay. Dazu ist alles in Landesfarben der ehemaligen Sowjetrepublik gehalten. Wie kommt das, dass man jetzt immer, überall, laut, schrill und ohne gefragt zu werden, mit Bekenntnissen und »Haltung« bedrängt wird?

Neulich auf dem Weg zur U-Bahn traute ich meinen Augen kaum. Am Ticketautomaten flackerte die ukrainische Flagge über das Display. Darunter war zu lesen: »Stay with the Ukraine«. Ticketautomaten nehme ich eigentlich nur aus dem Augenwinkel wahr, denn ich habe eine Monatskarte, muss mir also nicht bei jeder Fahrt einen Fahrschein ziehen. Ich war schon in Gedanken dran vorbeigelaufen, blieb nach der Realisierung des Gesehenen kurz wie vom Donner gerührt stehen, ging zwei Schritte rückwärts und wagte nochmals einen Blick: Habe ich da tatsächlich richtig gesehen?

Oh ja, hatte ich. So ein Ticketkauf ist ja, beäugt man es mal ganz nüchtern und rein kaufmännisch, nichts anderes als eine Vertragssituation: Man erwirbt sich ein Stück Mobilität. Dass man dabei auch gleich noch mit politischen Statements bedrängt wird, ist in so einer Konstellation gar nicht vorgesehen. Was interessiert es mich denn auch, ob ein Mobilitätsunternehmen einen Krieg in Osteuropa ächtet oder nicht? Ist es Ausdruck beruflicher Kompetenz, wenn etwa mein Apotheker für Weltoffenheit wirbt? Kann man es als als Dienst am Kunden sehen, wenn der Rewe in der Nachbarschaft eine Regenbogenflagge auf die Eingangstore klebt? Eigentlich will ich beim Apotheker oder im Supermarkt ja was ganz anderes: Weltanschauung in Pillenform oder in dünnen Scheiben ist es jedenfalls nicht, was ich dort erstehen möchte.

Verkaufen mit Anstand

Im Laufe der letzten Jahre habe ich mehrfach darauf hingewiesen, dass der Anstand, das Gute, Wahre und Schöne, zu einer plumpen Marketingstrategie umfunktioniert wurde. Kaum wurde das  moralistische aufgeladene Klima auf die Straßen der freitäglichen Republik getragen, warben Unternehmen damit, unglaublich klimafreundliche, klimaschonende oder gar klimaneutrale Produkte im Angebot zu haben. Ob das nun stimmte oder nicht, war letztlich völlig egal: Vermutlich handelte es sich oft auch bloß um einen klaren Etikettenschwindel. Aber Werbeleute wissen ja, dass Kunden belogen werden wollen. Also gibt man ihnen, was sie begehren.

Dann kam Corona und wieder wurde daraus Marketing für Unternehmen aller Art. Erst »warben« sie noch zögerlich damit, ließen sich von der Öffentlichkeit loben, weil sie ihre Läden nicht etwa auf Geheiß der Politik schlossen, sondern weil sie selbst es auch für nötig hielten: Das las man an den Türen nicht weniger Geschäfte seinerzeit. Später repräsentierte man Hygienepläne für Angestellte und Kunden, bei denen man den Eindruck haben musste, dass es da nicht um Sinn und Sicherheit ging, sondern darum als möglichst bemüht, möglichst wertschätzend angesehen zu werden. Unternehmensverbände übten bestenfalls verhalten Kritik an den Maßnahmen, teils unterstützte man den Regierungskurs sogar.

Dass nun mit dem Krieg in der Ukraine der nächste Komplex bereitsteht, der sich als Werbe- oder Imagestrategie anbietet, verwundert daher nicht wirklich. Man muss die Ereignisse und die moralisch aufgeladenen Themen halt nehmen und deuten wie sie fallen. Marketing ist ja letztlich nie etwas anderes gewesen, man muss den Verbrauchern etwas bieten, was über die Ware oder Dienstleistung hinausgeht. Ein porentiefes Weiß beispielsweise oder die neidischen Blicke der Nachbarn waren früher solche Nebenprodukte, die das Gekaufte mit einem bestimmten Lebensgefühl aufluden. Solche Narrative nähren einen Glauben: Nämlich dass die objektiv vergilbte Bluse dennoch weiß ist, weil es doch ein Versprechen war.

Die Ukraine-Flagge verspricht auch etwas: Sie fahren hier mit einem öffentlichen Nahverkehr durch ihre Großstadt, der moralisch einwandfrei ist und der Haltung zeigt. Bitte genießen Sie die Fahrt mit moralisch reinem Gewissen und steigen Sie nicht auf das Auto um. Noch was schwingt mit: Wir wissen, dass wir technisch schlecht aufgestellt sind, alte Züge anbieten, zu oft ausfallen, zu spät kommen und dass die Abteile dreckig sind. Aber wir bieten Ihnen was anderes an: Anstand.

Haltung ist Marketing

Gemeinhin wird heute ein anderes Wort für Anstand verwendet. Vermutlich auch, weil Anstand sich nach Großvater anhört. Und nach Knigge. Wer heute Anstand meint, sagt ganz oft Haltung. Den Begriff habe ich oben bereits als Synonym für den Anstand verwendet. Aber wenn man es recht betrachtet, sind Haltung und Anstand nicht dasselbe. Denn wer mit einer Haltung durchs Leben geht, muss gar nicht sittlich sein, wie es der Anstand vorgibt. Ein Milliardär etwa, der endlos Geld in Medien und Politik pumpt, um so die Gesellschaft vor der ihn grauenden Idee abzubringen, hohe Vermögen hoch zu besteuern: Der zeigt ja auch Haltung. Zumal, wenn er dann auch noch öffentlich auftritt und seine Vorstellungen vom schlanken Staat vertritt. Anständig ist er deswegen noch lange nicht. Eher im Gegenteil.

Dennoch – oder gerade deswegen? – hat sich die Haltung zum Modewort der letzten Jahre entwickelt. Journalisten weisen nicht etwa ihre berufsspezifische Professionalität aus, wenn sie etwas Positives über sich erzählen wollen. Nein, sie sagen, dass sie eine Haltung hätten. Claas Relotius‘ Artikel waren ja auch so beliebt, weil sie eine Haltung verinnerlichten. Die Branche war sich einig, dass seine Texte nicht sonderlich beschwingt geschrieben waren: Aber er vermittelte ein Weltbild. Und das hielt man für extrem wichtig. Journalistischer Anstand ist etwas ganz anderes als Haltungsjournalismus. Er hat was mit recherchierter Sauberkeit, Objektivität, Chronistenpflicht und unbestechlicher Beobachtungsgabe zu tun – übrigens auch mit Distanz zur Macht.

Haltung hat sich aber gemausert. Sie hat als Pseudoanstand in alle Ecken und Winkel der Gesellschaft hineingewirkt. Und die Marketingabteilungen haben schnell erkannt, dass man mit ihr punkten kann, ohne gleich dem Anstand verfallen zu müssen. Denn wer mit Anstand wirbt, der lügt in den meisten Fällen dreist – wer Haltung vermittelt, der sagt vielleicht nicht unbedingt die Wahrheit. Muss er auch nicht, denn Haltung hat auch mit Realitäten und dem, was man gemeinhin als wahr erachtet, nichts zu tun. Sie ist ein Gefühl, ein Lifestyle. Und letzterer wurde immer schon von der Werbeindustrie ausgeschlachtet.

In gewisser Weise ist Haltung eine ziemlich alte Werbemasche. Die Frage war ja stets: Wie hältst du es mit weißer Wäsche und strahlenden Gardinen? Oder: Wie hältst du es mit dem Sitz deiner Haare? Oder auch: Wie hältst du es mit dem Protzen? Wenn du es mit dem Aufschneiden hältst, dann kauf dir einen SUV und deine Nachbarn werden dir neidvoll nachschauen, wenn du aus Suburbia hinaus in die Welt fährst.

Ist Marketing Haltung?

Was soll denn schon dagegen einzuwenden sein, wenn man jetzt mit wichtigen, auch vernünftigen Themen wirbt? Schließlich sind wir alle Konsumenten, wir leben in einer kommerzialisierten Welt, in der wir nur als Käufer und Kunden wirkliche Freiheit erleben – jedenfalls dann, wenn wir sie uns auch finanziell leisten können. Wenn der homo consumens dort mit politischen oder gesellschaftlichen Themen abgeholt wird, profitiert am Ende doch jeder. Bei Linksliberalen gilt seit einigen Jahren: Der kritische Verbraucher macht den Markt besser, gerechter und fairer. Vorher hat man in diesem Milieu noch hinterfragt, ob Konsum alleine glücklich machen kann. Diese Frage beantwortet man heute nicht direkt mit Ja, man hat schließlich seinen Stolz – man umschifft eine etwaige peinliche Antwort einfach mit dem kritischen Verbraucher, der vielleicht nicht glücklich ist, aber als Käufer mit Haltung die Welt verändert.

Das ist natürlich ausgemachter Unsinn, denn Verbraucher sind im Regelfall dann kritische Konsumenten, wenn sie sich das auch leisten können. Leute mit kleinem Einkommen sind nicht kritisch, bei denen wird es höchstens kritisch – wenn am Ende des Lohns noch zu viel Monat übrig ist nämlich. Es ist blanker Snobismus, so zu tun, als sei es für jeden möglich, kritisch zu konsumieren. Außerdem ist es ein fataler Irrglaube, wenn man denkt, die hohlen Parolen der Werbung würden irgendwie einen offenen Diskursraum ersetzen. Nur weil jemand einen klimaschonenden Fernseher kauft, wird Klimaschutz hat nicht zum zentralen Kaufargument.

Haltung mag zum Marketing geworden sein – aber Marketing ist keine Haltung. Anstand schon gar nicht. Es geht letztlich nur um einen Anstrich. Greenwashing, Corona-Washing, Ukraine-Washing – die beiden letzten Begriffe verwendet keiner. Schade eigentlich. Wir wissen aus den Erfahrungen der letzten Monate, dass der Lack der Zivilisation sehr dünn ist. Er splittert schnell. Das Washing ist noch nicht mal ein Lack. Es ist eine wenige Mikrometer dünne Schicht von Politur. Ein Wisch – und alles verschmiert. Nachhaltig ist so ein Marketing nicht. Denn es ist hohl, arbeitet mit Slogans, verbreitet griffige Sätze ohne Wesenskern. Aber was ist am Klimawandel, an einer Pandemie oder einem Krieg ist Osteuropa mit drei Worten oder gar nur einem Schlagwort erklärbar?

Unternehmen, die sich im Fahrwasser von zeitgeschichtlichen Geschehnissen moralisch blitzeblank waschen, sind nicht plötzlich gut und anständig. Sie fischen nach Komplimenten, wollen Anerkennung. Ihre Haltung ist eine pure Imagekampagne. Oder wer glaubt wirklich, dass in der Vorstandsetage der Deutschen Bahn betroffene Menschenfreunde sitzen, weil vor Bahnhöfen die ukrainische Flagge gehisst wurde? Wer das glaubt, geht wohl davon aus, dass Kapitalismus ein anderes Wort für Humanismus ist. Wenn diese Art von Washing Sensibilisierung schaffen soll, sollte man sich Sorgen machen.

Der Totalitarismus des Haltungsmarketings

Womöglich ist es aber ungeschickt, diese Sorgen in den Konjunktiv zu setzen. Es gibt handfeste Gründe, warum man sich tatsächlich, hier und jetzt nämlich, sorgen sollte. Das Haltungsmarketing ist keine Randerscheinung mehr. Jedes Unternehmen zieht da mit: Von Supermärkten, Dienstleistern, Mobilunternehmen, Transportdiensten, Lieferservices, Metallbetrieben bis hin zu Onlineplattformen habe alle diese recht günstige Art des Werbens für sich entdeckt. Die Mitmache ist total – und ja, sie wirkt totalitär.

Aus der Imagekampagne der Unternehmen nährt sich der Eindruck des totalen Bekenntnisses, das man überall antrifft, in jeder Nische, jeder noch so unbeleuchteten Gasse. Man entkommt dem nicht mehr, wird eingeschworen und indoktriniert – und soll Schwüre ablegen und andere auf Linie bringen. Unpolitische Zeitgenossen gab es immer. Sie kümmerten sich nicht ob die zentralen Fragen des Zusammenlebens, nicht ums politische Zeitgeschehen. Auch das erlaubt eine Demokratie schließlich. Bis vor einigen Jahren konnte man sogar noch so unpolitisch in den Tag hineinleben. Der Einkauf war kein Staatsakt im wahrsten Sinne des Wortes. Er war noch die bloß Beschaffung von Dingen des Alltags. Heute ist so ein unpolitisches Dasein ja kaum noch denkbar. Keiner entkommt den Credos des Augenblicks. Jeder wird erreicht, berieselt und bearbeitet.

Dieses pervertierte Marketing mit der Haltung wirkt im Grunde so auf die gesamte Gesellschaft, wie ein zentralisiertes Propagandaministerium. Nur eben viel glatter und wesentlich polierter, denn niemand drückt die Propaganda gegen einen entgegen gerichteten Willen durch. Es geschieht freiwillig, vorauseilend und in der munteren Erwartung, dass das Mitmachen und Mitlaufen einen Mehrwert für alle erzeugt: Für die Unternehmern, die Konsumenten und am Ende sogar für den autoritären Feudalkapitalismus.

Diese Haltung, von der jetzt alle reden, ist also genauer betrachtet nichts als ein Totalitarismus der Krämerseelen – und der Influencer und Imagelinge in den Netzwerken. Er engt den Diskursraum ein und erobert alle gesellschaftlichen Räume, macht weitergehendes Denken schwieriger und zermürbt kritische Zeitgenossen. Ein autoritärer Staat stört diesen Totalitarismus nicht sonderlich, ist aber andererseits nicht unbedingt notwendig, wenn die Unternehmen »Staat machen«.

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Der zugehörige Originalbeitrag erschien zuerst am 11. April 2022 bei Neulandrebellen.

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Bildquelle: Vitamin444/ shutterstock


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