Ein Meinungsbeitrag von Dirk C. Fleck.
Ein Tsunami der Zerstörung, den das Dauerbeben eines ungezügelten Kapitalismus ausgelöst hat, schickt sich an, das filigrane ökologische Netzwerk ebenso wie die sozialen Strukturen unserer globalen Zivilgesellschaft aus den Angeln zu heben. Diese Tatsache wird kaum noch geleugnet, weder von der Politik, noch von der Wirtschaft. Den Menschen aber wird suggeriert, dass „wir“ das schon wuppen werden. Dabei müsste jedem inzwischen klar sein, dass die Maßnahmen, die man uns als „ökologische Wende“ verkauft, nichts als Fakes sind, hinter denen der röchelnde Planet weiter zur Ader gelassen wird, um die Taschen seiner Peiniger zum Platzen zu bringen.
Aber ich will mich hier nicht noch einmal über die seelenlosen Zombies auslassen, die das Weltgeschehen bestimmen, das langweilt. Vielmehr möchte ich einen Text vorstellen, den ich eben in einem meiner Bücher gefunden habe. Das hat nichts mit Eitelkeit zu tun, sondern damit, dass ich in diesem Kapitel einige grundlegende Gedanken wiederentdeckt habe, die aber trotz der ihnen innewohnenden Logik nicht umsetzbar sind. Auf Tahiti, so erzähle ich es in meiner MAEVA-Trilogie, ist der Wandel zu einer sozio-ökologischen Gesellschaft bereits vollzogen. Aber das alte Gier-System liegt auf der Lauer und wartet nur auf seine Chance, sich zurückzuholen, was ihm genommen wurde. Was unbedingt nötig wäre, um einer solchen „Rückholaktion“ vorzubeugen, wäre ein allgemeiner Bewusstseinswandel, wie der Schamane Rauura in meiner Geschichte nicht müde wird zu betonen.
Wie soll das gehen in einer Gesellschaft, in der heute alle Erfahrungen geänderter Bewusstseinszustände automatisch als psychotisch bezeichnet und in den meisten Fällen mit unterdrückender Pharmakotherapie behandelt werden? Laut dem Psychotherapeuten Stanislav Grof haben wir die gesamte spirituelle Geschichte der Menschheit pathologisiert. Anyway, hören wir, was mein Schamane vorzuschlagen hat. Man wird doch noch träumen dürfen …
„Der Schamane Rauura hatte Tahitis Präsidenten Omai in sein Fare auf den Te Pari bestellt, jener unwegsamen Gebirgslandschaft im äußersten Osten Tahiti Itis, die einer zivilisierten Erschließung bis heute getrotzt hatte. Das Haus lag oberhalb einer verfallenen Tempelanlage der Arioi direkt an der Steilküste über dem Trou du Diable, dem „Teufelsloch“, aus dem sich das gurgelnde Geräusch der Brandung permanent bemerkbar machte. Im Zuge des sozio-ökologischen Wandels, der von Omai im Jahre 2022 auf Tahiti in Szene gesetzt worden war, hatte der mächtige Geheimbund der Arioi aufbegehrt. Der Bund begriff sich als „Hüter des Wissens“, als Bewahrer der Tradition. Er sah sich ganz im Sinne der Ahnen ausschließlich dem Kriegsgott Oro verpflichtet, wobei der Orden den Begriff Krieg nicht im herkömmlichen Sinne definierte. Mit Krieg war keine bewaffnete Auseinandersetzung gemeint, unter Krieg verstanden die Arioi eine spirituelle Abwehrschlacht gegen den zersetzenden Einfluss der Moderne. Rauura war ihr Ordensoberer und Präsident Omai ein ordinäres Mitglied.
Die Tür zur Hütte des Schamanen stand offen. Rauura lag mit geschlossenen Augen auf einer Bastmatte unter dem Pandanusdach, umrahmt von Schalen voller Früchte und Blumen. Omai hockte sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden und betrachtete das Gesicht des alten Mannes, der sichtlich nach Atem rang. Sein linkes Auge ruhte in einem tätowierten schwarzen Quadrat, während das rechte unterhalb eines solchen im Licht lag. Seine ganze Gestalt war mit den geheimnisvollen Symbolen der Arioi versehen, von der Stirn bis zu den Zehen. Die kunstvollen blau-schwarzen Ornamente erzählten die Lebensgeschichte des Meisters, wirkten aber jetzt wie ein dunkles Leichentuch, das man dem hageren Körper übergeworfen hatte. Rauura klopfte mit der Hand sanft auf den Boden und bedeutete Omai, ein wenig näher zu rücken.
'Mein lieber Freund', sagte er mit brüchiger Stimme, 'danke, dass du gekommen bist'. Er öffnete die Augen, während gleichzeitig ein Lächeln um seine Lippen spielte. 'Meine Reise ist zu Ende, ich werde diesen herrlichen Ort verlassen und ins Reich unserer Ahnen zurückkehren.' Er versuchte sich aufzurichten. Omai legte ihm ein Kissen unter den Kopf. 'Du weißt', sagte Rauura, 'dass ich Schwierigkeiten hatte, mein Einverständnis dafür zu geben, unser Tahiti-Projekt ins Schaufenster der Welt zu stellen, wie es deine Schwester Maeva als Vorsitzende der URP* vorhat. Ich befürchtete, dass die zarten Pflänzchen eines neuen Bewusstseins, das sich auf Tahiti zu regen beginnt, von der Neugier einer defizitären Welt zertrampelt werden könnten. Ich wollte verhindern, dass wir wieder als exotische Wesen betrachtet werden, die den Schlüssel zur Glückseligkeit in Händen halten. Wir halten noch gar nichts in Händen, Omai, wir sind wie die Menschen dort draußen: orientierungslos und schwer geschädigt durch falsche Wertvorstellungen und jahrzehntelangen Konsumrausch.'
Der alte Mann ergriff Omais Hand und fuhr mit brüchiger Stimme fort: 'Zugegeben, der konsequente Einsatz umweltschonender Technik, die Land- und Bodenreform, die Grundversorgung jedes Einzelnen, das neue Geld- und Steuersystem, die Umstrukturierung des Parlaments, die Investitionen in Bildung und Gesundheit, das neue Verkehrswesen, die nachhaltige Landwirtschaft und die konsequent befolgten Gesetze der Baubiologie haben zu einer erheblichen Verbesserung unserer Lebensqualität geführt. Aber wie Du weißt, bedeuten bessere Lebensverhältnisse nicht unbedingt eine bessere Lebensführung. Um genau die geht es jedoch, wenn wir wirklichen Fortschritt erzielen wollen. Es reicht nicht, Energie aus künstlichen Seeschlangen zu gewinnen, die vor unseren Küsten in der Dünung schaukeln oder auf fruchtbarer Terra Preta Nahrungsmittel anzubauen – wir müssen wieder an die Wurzeln unserer Kultur.'
Längeres Sprechen fiel dem Schamanen schwer. 'Um an unser verschüttetes Wissen zu gelangen, brauchen wir ein Vehikel, eine Piroge', fuhr er flüsternd fort. 'Diese Piroge ist unsere spirituelle Praxis. Jeder einzelne von uns muss erkennen, dass er selbst die Saat des Friedens in sich trägt. Wir müssen uns gegenseitig nähren, wenn diese Saat aufgehen soll. Wir müssen miteinander lachen, beten und tanzen. Der Rhythmus unserer Tänze und der Klang unserer Gesänge – das allein öffnet die Pforte in eine neue Dimension und bringt unsere Herzen in Ordnung.' Rauura schloß erneut die Augen. 'Die Umwandlung der Herzen ist ein subtiler Vorgang', sagte er kaum vernehmbar, 'er braucht Zeit. Menschen werden sehr leicht rückfällig. Der alte hungrige Geist, der nichts anderes kennt als MEHR oder WENIGER, als DEIN und MEIN, gibt nicht so einfach auf. Erst wenn wir gelernt haben, jeden Moment in seiner Ganzheit zu sehen, stellen wir eine Schwingung her, die weit über Tahiti hinausgeht. Das war meine Position, deshalb habe ich Maevas Politik nicht gut heißen können ...'
Omai gab Rauura von dem Wasser zu trinken, das an dessen Kopfende in einem Krug bereitstand. Die kurze Rede hatte den Schamanen erschöpft. Er lag mit über der Brust verschränkten Armen regungslos da, als habe er seine endgültige Position gefunden. In Wirklichkeit tankte er seinen Energievorrat mit jedem Atemzug neu auf. 'Bitte deine Schwester, ihre politische Arbeit wieder aufzunehmen', begann er von neuem. 'Sie soll die Beziehungen der Arioi zu den Schamanen der Welt nutzen. Sie soll die Schamanen nach Tahiti einladen und sie um Unterstützung bitten. Die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, sind sehr verlockend. Und jetzt', sagte Rauura und ließ Omais Hand los, 'jetzt lass mich sterben. Ich bin müde...'
Omai wusste, das der Schamane von nun an nichts mehr sagen, nichts mehr essen und nichts mehr trinken würde. Sein Geist sah sich in der feinstofflichen Sphäre ihrer Ahnen schon einmal um. Er würde noch so lange auf dem Te Pari verweilen, bis der ausgedörrte Körper ihn endgültig freigab. Tahitis Präsident küsste Rauura auf die Stirn und schlich aus dem Haus.
*URP = United Regions of the Planet
Aus meinem Roman FEUER AM FUSS, dem letzten Band meiner MAEVA-Trilogie (Seite 57).
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Dirk C. Fleck ist ein deutscher Journalist und Buchautor. Er wurde zweimal mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis ausgezeichnet. Sein Roman “Go! Die Ökodiktatur” ist eine beklemmend dystoptische Zukunftsvision. 2023 erschien sein aktuelles Buch „HEROES. Mut, Rückgrat, Visionen“.
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Bildquelle: Maridav / Shutterstock.com
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