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Die USA müssen Bilanz ziehen und Europa sollte aufhören, zu träumen! | Von Wolfgang Effenberger

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Ein Kommentar von Wolfgang Effenberger.

Angesichts der katastrophalen militärischen Lage in der Ukraine, des Finanz-Desasters im US-Kongress und der brutalen Vorgänge im Gaza-Streifen tönte Anfang Dezember 2023 US-Admiral Christopher Grady, stellvertretender Vorsitzender der "Joint Chiefs of Staff", während einer Diskussion bei der in Washington ansässigen Denkfabrik "Atlantic Council", vollmundig: „Wir können das alles gleichzeitig tun: die Ukraine, Israel und Taiwan unterstützen.“(1)

Zur Bekräftigung dieses Paukenschlages zitierte Grady seinen Vorgesetzten, Verteidigungsminister Lloyd Austin: „Wir müssen in der Lage sein, gleichzeitig zu laufen und Kaugummi zu kauen.“(2)

Marineminister Carlos Del Toro hatte noch Anfang 2023 Sorge darüber geäußert, dass es eine "Herausforderung" sein könnte, die Truppen der USA und der Ukraine mit Waffen auszustatten, wenn die Verteidigungsindustrie nicht in der Lage ist, eine angemessene Produktion von Ausrüstung und Waffen aufrechtzuerhalten. Diese Aussage wurde später dahingehend korrigiert, dass er doch davon ausgehe, dass die Industrie mit der Produktion Schritt halten werde. Die derzeitige US-Militärelite scheint sich von der Realität immer mehr zu entfernen: Ist dieses vollmundige Imponiergehabe Wunschdenken oder bereits das „Rauschen im Blätterwald“?

Zwei widersprüchliche Artikel in der US-Militärzeitschrift „Stars and Stripes“

Während der Diskussion im Atlantic Council sprach Grady auch andere Themen an, mit denen das Militär derzeit konfrontiert ist - etwa die Zunahme der Angriffe auf die US-Streitkräfte im Nahen Osten und das Versäumnis des Kongresses, die Finanzierung für das Jahr 2024 zu verabschieden. Wenn die Gesetzgeber keine neuen Mittel bewilligen würde, gehe dem Pentagon am 2. Februar das Geld aus. Also doch nur partieller Realitätsverlust?

Weiter sprach Grady die von Präsident Joe Biden beantragten zusätzlichen Mittel in Höhe von rund 105 Milliarden Dollar an, mit denen die Hilfe für die Ukraine und für Israel fortgesetzt und wichtige Investitionen in die Verteidigungsindustrie getätigt werden könnten.

„Unsere Präsenz, zusammen mit unseren internationalen Verbündeten und Partnern, wird sehr wichtig sein“, sagte Grady.  Der Nahe Osten sei ein gefährlicher Ort.(3) Da wird man dem General uneingeschränkt zustimmen müssen. Dabei verwies er auf die seit Mitte Oktober 2023 erfolgten mindestens 76 separaten Angriffe auf amerikanische Stützpunkte im Irak und in Syrien. Bei keinem der Angriffe wurden Angehörige der US-Streitkräfte ernsthaft verletzt, aber das Pentagon ließ verlauten, dass sie alle mit Unterstützung und manchmal auch mit finanzieller Förderung durch die iranische Regierung durchgeführt wurden. Hier sollten alle roten Alarmlämpchen aufleuchten.

Der Iran - seit der Revolution von 1979 ein rotes Tuch für die USA - steht seit dem Terroranschlag von 2001 auf der „Schwarzen Liste“ der CIA. Bereits am 20. September 2001 hatte US-General Wesley Clark im Pentagon durch Zufall erfahren, dass in den nächsten fünf Jahren sieben Länder militärisch angegriffen werden sollten: Irak, Syrien, Libanon, Libyen, Somalia, Sudan und der Iran.(4) 2014 (Win in a Complex World 2020-2040) und 2022 (Nationale Sicherheitsstrategie) wurde der Iran neben Nordkorea, Russland und China in den US-Strategiepapieren erwähnt. Das US-Militär soll in diesen beiden Dekaden die von diesen Ländern ausgehende Bedrohung "abbauen".

Wer einen Krieg entfesseln will und in einer Demokratie dafür Rückendeckung sucht, braucht einen guten Grund für den Waffengang. Oder eine - so wie z.B. 1964 - gute Lüge. Der damalige US-Präsident Lyndon B. Johnson konnte im August 1964 den Kongress nur mit einem Argument überzeugen: Angriff auf amerikanische Streitkräfte. So patrouillierten amerikanische Kriegsschiffe im Golf von Tonkin vor der Küste Nordvietnams. Nach damaliger Version der US-Regierung griffen in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1964 nordvietnamesische  Patrouillenboote den amerikanischen Zerstörer Maddox an. Dieser befand sich in den nordvietnamesischen Küstengewässern auf einer elektronischen Funkaufklärungspatrouille (gem. Operationsplan 34A).(5) Hanoi bekannte sich umgehend zu der Tat und verwies darauf, dass sich der US-Zerstörer innerhalb der Zwölf-Meilen-Zone und somit in den Hoheitsgewässern Nordvietnams befunden habe. Die USA bestanden jedoch darauf, dass Nordvietnam nur eine Drei-Meilen-Zone als eigene Hoheitsgewässer beanspruchen dürfe, während sie für sich eine Zwölf-Meilen-Zone beanspruchen.

Während einer Sitzung am 4. August 1964 mit dem Mehrheitsführer des Kongresses erhielt Johnson die Nachricht, dass die beiden US-Zerstörer Maddox und Turner Joy im Golf von Tonkin unter Beschuss stünden. Obwohl Hanoi jegliche Angriffshandlungen bestritt, sprach sich Johnson ohne Überprüfung des Vorfalls mit den führenden Kongressmitgliedern ab und versprach, ihnen am nächsten Tag eine Resolution vorzulegen. Die Bombardierung Hanois wurde jedoch unmittelbar angeordnet.

Unter dem Eindruck dieses angeblichen Zwischenfalls und einer amerikanischen Rede des Präsidenten stimmten am nächsten Tag im Abgeordnetenhaus 416 zu 0 und im Senat 88 zu 2 Stimmen für die Tonkin-Resolution, die den Präsidenten ermächtigte, „alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um jeden bewaffneten Angriff auf die Truppen der Vereinigten Staaten zurückzuweisen und eine weitere Aggression zu verhindern“(6) - eine Blankovollmacht für alle militärischen Operationen in Bezug auf Vietnam.

Seit den 1980er Jahren ist erwiesen, dass am 4. August 1964 kein Torpedoangriff auf die US-Kriegsschiffe erfolgte.(7) Die Pentagon-Papiere (1971) und die Memoiren von Robert McNamara (1995) belegen, dass die US-Regierung die Vorfälle durch bewusste Falschdarstellung zur Durchsetzung ihres seit 1963 geplanten direkten Kriegseintritts benutzte.(8)

Es wäre leichtfertig anzunehmen, dass diese Praktiken der Vergangenheit angehören - sie dürften heute um ein Vielfaches nuancierter sein, wie die Anspielung von Admiral Grady vermuten lässt:

"Es handelt sich um eine Ausweitung des vielleicht größeren Konflikts zwischen Israel und der Hamas", sagte er über die Angriffe auf US-Truppen. "Da ist zweifellos eine iranische Hand im Spiel".(9)

Am 4. Dezember 2023 war ebenfalls in der US-Militärzeitschrift „Stars and Stripes“ ein aufrüttelnder Artikel über die Haushaltslage erschienen: "Den USA geht das Geld für die Ukraine aus, was den Kampf gegen Russland behindern könnte…“, warnt das Weiße Haus. Die Regierung Biden verlangte am 4. Dezember 2023 eindringlich vom Kongress, Dutzende von Milliarden Dollar an militärischer und wirtschaftlicher Unterstützung für die Ukraine zu bewilligen und erklärte warnend, dass Kiews Kriegsanstrengungen zur Verteidigung gegen die russische Invasion sonst zum Erliegen kommen könnten. Die Direktorin des "Office of Management and Budget", Shalanda Young, warnte in einem veröffentlichten Schreiben die führenden Politiker des Repräsentantenhauses und des Senats, dass den USA bis zum Ende dieses Jahres die Mittel für die Lieferung von Waffen und Ausrüstung an die Ukraine ausgehen würden.

Sie fügte hinzu, „…dass den USA bereits das Geld ausgegangen sei, mit dem sie die ukrainische Wirtschaft gestützt hätten, und wenn die ukrainische Wirtschaft zusammenbricht, wird sie nicht in der Lage sein, weiter zu kämpfen, Punkt. … Wir haben kein Geld mehr - und fast keine Zeit mehr“(10)

Präsident Joe Biden hat sich um ein Hilfspaket in Höhe von fast 106 Milliarden Dollar für die Ukraine, Israel und andere Länder bemüht, das jedoch im US-Kongress auf wenig Gegenliebe stößt. Die Skepsis bezüglich des Umfangs der Hilfe für die Ukraine wächst, und selbst Republikaner, welche die Finanzierung unterstützen, bestehen auf Änderungen der Grenzpolitik zwischen den USA und Mexiko, um den Migrantenstrom zu stoppen, als Bedingung für die Hilfe.

Für die Unterstützung der Ukraine hat der Kongress bereits 111 Milliarden Dollar bereitgestellt, darunter 67 Milliarden Dollar für militärische Beschaffungen, 27 Milliarden Dollar für wirtschaftliche und zivile Hilfe und 10 Milliarden Dollar für humanitäre Hilfe. Shalanda Young schrieb, dass diese Mittel bis auf etwa 3 % der militärischen Mittel Mitte November bereits aufgebraucht waren. In der Zwischenzeit hat das von den Republikanern kontrollierte Repräsentantenhaus ein eigenständiges Hilfspaket für Israel im Kampf gegen die Hamas im Gazastreifen verabschiedet, während die Regierung Biden erklärte, sie habe in den letzten Wochen das Tempo einiger militärischer Hilfen für Kiew verlangsamt, um zu versuchen, die Lieferungen zu strecken, bis der Kongress mehr Mittel bewilligt.

"Wir haben kein Geld mehr, um die Ukraine in diesem Kampf zu unterstützen", schrieb Shalanda Young. "Das ist kein Problem für das nächste Jahr. Die Zeit, eine demokratische Ukraine im Kampf gegen die russische Aggression zu unterstützen, ist genau jetzt. Es ist Zeit für den Kongress, zu handeln."(11) Wie wird dieser Offenbarungseid in Kiew bzw. in Moskau wohl aufgenommen werden?

Am 4. Dezember 2023 wurde Shalanda Young auch vom Guardian - laut der Presseschau „Eurotopics“ die wichtigste britische Zeitung im linken Spektrum - wie folgt aus ihrem Brief an die Kongressabgeordneten zitiert:

"Ich möchte deutlich sagen: Ohne Maßnahmen des Kongresses werden uns bis zum Ende des Jahres die Mittel ausgehen, um mehr Waffen und Ausrüstung für die Ukraine zu beschaffen und Ausrüstung aus US-Militärbeständen bereitzustellen"(12).

Die Ukraine würde ohne eine weitere Finanzspritze aus den USA in ihrem Krieg gegen Russland bald an Boden verlieren. Diese Finanzspritze werde aber immer fraglicher, da sich etliche Republikaner gegen zusätzliche Hilfen für die Ukraine aussprechen. So kann sich der neue republikanische Sprecher des Repräsentantenhauses, Mike Johnson, bei seinen Verhandlungen mit dem Senat nur auf einem schmalen Grat bewegen. Johnson hatte nach der russischen Invasion im Februar 2022 zunächst die Ukraine unterstützt. Anfang Dezember sagte Johnson, er sei "…zuversichtlich und optimistisch, dass der Kongress sowohl die Hilfe für Israel als auch die für die Ukraine genehmigt“, schlug aber vor, dass die beiden Prioritäten nicht in einem Gesetzentwurf verbunden werden sollten. In seiner Antwort auf Youngs Brief wiederholte Johnson seine Forderung, dass jegliche Hilfe für die Ukraine an eine strengere Grenzpolitik gebunden sein müsse.

"Die Biden-Administration hat es versäumt, auf die berechtigten Bedenken meiner Konferenz hinsichtlich des Fehlens einer klaren Strategie in der Ukraine, eines Weges zur Lösung des Konflikts oder eines Plans zur angemessenen Gewährleistung der Rechenschaftspflicht für die von den amerikanischen Steuerzahlern geleistete Hilfe einzugehen"(13), so Johnson auf X, dem früheren Twitter.

US-Senator Chris Murphy aus Connecticut (ein mehrheitlich von Demokraten geführter Bundesstaat), erklärte am 4. Dezember 2023, dass sich die rechtsgerichteten Republikaner gegen zusätzliche Hilfen für die Ukraine ausgesprochen haben. Sie würden "…im Wesentlichen die Grenze schließen" wollen, um im Gegenzug mehr Mittel für die Ukraine bereitzustellen.

"Im Moment scheint es ziemlich klar zu sein, dass wir ziemlich große Kompromisse und Zugeständnisse machen müssen und die Republikaner nicht bereit sind, uns auch nur annähernd in der Mitte zu treffen"(14), so Murphy.

Einer der republikanischen Verhandlungsführer, Senator James Lankford aus Oklahoma, zeigte sich jedoch zuversichtlich, dass die Gesetzgeber letztlich einen Konsens finden werden.

"Wir arbeiten weiter daran, eine Lösung zu finden, die unsere nationale Sicherheit schützt, den Menschenhandel stoppt und die Kartelle daran hindert, die offensichtlichen Schlupflöcher in unserem Gesetz auszunutzen", sagte Lankford auf X. "Das ist das Ziel, wir werden weiter daran arbeiten, bis wir es richtig hinbekommen".(15)

Über die möglichen Folgen eines Scheiterns der Einigung bemerkte Shalanda Young:

„…der Verlust der finanziellen Unterstützung durch die USA würde die Ukraine auf dem Schlachtfeld in die Knie zwingen, was nicht nur die Errungenschaften der Ukraine gefährden, sondern auch die Wahrscheinlichkeit russischer militärischer Siege erhöhen würde"(16).

Ein solches Szenario könnte dazu führen, dass sich der Krieg zu einem umfassenderen regionalen Konflikt ausweitet, in den auch andere europäische Verbündete der Vereinigten Staaten verwickelt sind, warnte Young, und diese gefährliche Situation könnte US-Truppen im Ausland gefährden.

Dieses Szenario wurde schon am 28. Februar 2023 bei der Senatsanhörung zum Ukraine-Krieg angedacht:

Senator Rick Scott befragte den 3-Sterne-General Keith Kellogg: „Aber warum hat Deutschland nicht seinen Teil zur tödlichen Hilfe beigetragen?“

„Ich glaube“, so der General, „Deutschland spielt in Europa im Moment keine Rolle mehr“.

Anschließend schwärmt der General dem Senator vor:

„Wenn man einen strategischen Gegner besiegen kann und dabei keine US-Truppen einsetzt, ist man auf dem Gipfel der Professionalität, denn wenn man die Ukrainer siegen lässt, ist ein strategischer Gegner vom Tisch und wir können uns auf das konzentrieren, was wir gegen unseren Hauptgegner tun sollten, und das ist im Moment China…. Es ist China!!! Wenn wir dabei scheitern, müssen wir vielleicht einen weiteren europäischen Krieg führen, das wäre dann das dritte Mal“.(17) Nun, die USA scheitern gerade in der Ukraine!

Könnte nun laut General Keith Kellogg der dritte große europäische Krieg kommen? Die USA scheinen in einer Situation zu sein, in der als Ausweg nur noch der umfassende Krieg infrage kommt.

„Star Wars“ über der Pfalz

Die Vorbereitungen auf einen solchen Krieg gehen offensichtlich zügig voran. Mit einer militärischen Zeremonie wurde am 8. Dezember 2023 auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein (im Kreis Kaiserslautern) eine Space-Force-Abteilung aktiviert, die besonders den Weltraum über Europa und Afrika im Blick hat. Die drei Dutzend Spezialisten für den Kampf im Weltraum sollen laut Aufgabenbeschreibung „…mögliche Gegner abschrecken, auf Krisen reagieren und Bündnisse und Partnerschaften stärken“.(18)

Der letzte Punkt bezieht sich auf die Tatsache, dass inzwischen auch einige europäische Länder nach zivilen Projekten nun militärisch im Weltraum aktiv werden. Den USA geht es darum, die Zusammenarbeit mit verbündeten Staaten zu verbessern, gerade weil jedes Land seine Weltraumaktivitäten bisher streng geheim hielt. „Wenn man als Gast in einem anderen Land tätig ist, muss man ein paar Schritte mehr machen als zu Hause. Dann dauert die Koordination etwas länger“, wird der Befehlshaber für Weltraumoperationen, General Chance Saltzman, im November 2023 im „Air & Space Forces Magazine“ der US-Luftwaffe zitiert.

  • Momentan konzentrieren sich die US-Weltraumstreitkräfte auf Israel und Gaza sowie auf mögliche iranische Angriffe gegen US-Truppen. Mittelfristig soll der Fokus aber auf die Regionen Südost-Pazifik und Europa gelegt werden. Für den Indo-pazifischen Raum wurde im Vorjahr ein Kommando (USINDOPACOM) errichtet, das „U.S. Army Europe and Africa Command“ folgt jetzt. Von Oberst Max Lantz geführt, wird es die vierte Space Force-Komponente für ein regionales Kampftruppen-Kommando sein.
  • Es schließt sich das Space Forces Indo-Pacific Command (USPACEFOR-INDOPAC)  mit dem Hauptquartier in Hawaii an und ergänzt damit das US Space Forces Korea Command auf der Osan Air Base und das US Space Forces Central Command in Tampa (Florida). Seit 2019 gibt es die Weltraum-Streitkräfte als eigenständige militärische Komponente neben Heer, Luftwaffe, Navy, der Eliteeinheit Marines und der Küstenwache.
  • Insgesamt bilden diese sechs US-Teilstreitkräfte die bestausgestattete Militärmacht der Welt (Stand: 2022).(19)  Sie besteht aus ca. 1,4 Millionen aktiven Soldaten und knapp 860.000 Reservisten,(20) die im Kriegsfall um die paramilitärisch ausgerichtete Küstenwache (US Coast Guard) und die Nationalgarde ergänzt werden können.

Welt im Zerfall

Mitte November 2023 hatte die von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung geförderte Online-Zeitschrift  „Internationale Politik und Gesellschaft“ (IPG) (21) - bis 2011 als bilinguale Vierteljahresschrift erhältlich - den neugierig machenden Artikel "Welt im Zerfall"(22) veröffentlicht. Ziel der IPG ist es, den Blick zu schärfen für diese staatenübergreifenden Herausforderungen und Entwürfe zu entwickeln, die internationale Politik und Gesellschaft einer demokratischen und gerechten Gestaltung näher bringen. Die IPG versteht sich als eine offene Plattform für neue Erklärungen und Politikempfehlungen, für kritische Auseinandersetzungen, kontroverse Ideen und für Querdenken. Pluralismus, im intellektuellen wie im politischen Sinne, ist konstitutiv für das Selbstverständnis der IPG. Denn Einsicht, so das Gründungscredo der Zeitschrift, kann nicht gedeihen, wo man sich unter der Prämisse zusammenfindet, man hätte sie schon. Dieses Credo macht neugierig.

Der Artikel beginnt mit einem Paukenschlag:

„Afghanistan, Ukraine, und Nahost - Die bestehende globale Ordnung ist dabei, sich aufzulösen. Doch wie soll die Welt von morgen aussehen? Zuerst Afghanistan: Im August 2021 bricht plötzlich die Regierung zusammen und mit ihr 20 Jahre westliches ‚Nation-Building‘. Im Februar 2022 dann die Ukraine: Erstmals seit 1945 kommt es in Europa wieder zu einem großen konventionellen Krieg. Russland entfesselt eine Barbarei im Stil des 20. Jahrhunderts, verschärft durch einen Informationskrieg im Stil des 21. Jahrhunderts. Am 7. Oktober nun der brutale Angriff der Hamas und die todbringende Antwort Israels. Israels Einmarsch in den Gazastreifen droht nicht nur einen regionalen Krieg auszulösen, mit koordinierten Angriffen der iranischen Stellvertreter im Libanon, Jemen und Irak. Strategisch droht auch die Gefahr, dass die Macht der Vereinigten Staaten in der Region einbricht“.(23)

Aus dem letzten Satz spricht durchaus Realitätssinn, während die vorhergehenden Feststellungen die Fakten verdrehen und im wohlmeinenden Sinn unter die Bezeichnung „Schönsprech“ fallen. In Afghanistan brach nicht die Regierung zusammen, sondern die USA flohen ungeordnet aus dem Land, genauso wie 1975 aus Saigon. Der Krieg dauerte von 2001 bis 2021, Afghanistan wurde ohne Kriegserklärung nur 27 Tage nach 9/11 angegriffen (unter den mutmaßlichen Attentätern von damals war übrigens kein einziger Afghane). Der völkerrechtswidrige Angriff seitens des Westens erfolgte, weil die Taliban angeblich Osama bin Laden, der dort um Asyl angesucht hatte, nicht schnell genug auslieferten. Dieser Krieg, der vorgab, gegen den Terror vorzugehen, terrorisierte das geschundene Land 20 Jahre lang und hinterließ nur verbrannte Erde. Insgesamt fielen dem Krieg schätzungsweise 176.000 Menschen zum Opfer, darunter 46.319 Zivilisten.(24) In den Jahren nach der Invasion von 2001 kehrten mehr als 5,7 Millionen Flüchtlinge nach Afghanistan zurück,(25) aber als die Taliban 2021 an die Macht zurückkehrten, gab es immer noch 2,6 Millionen Afghanische Flüchtlinge und weitere 4 Millionen Binnenvertriebene.(26)

Nach Angaben des US-Verteidigungsministeriums beliefen sich die Gesamtkosten für die USA zwischen 2001 und Ende Dezember 2019 auf 776,1 Mrd. US-Dollar.(27) Darin enthalten sind Wiederaufbaukosten von 137,9 Mrd. Dollar, wovon der größte Anteil mit über 80 Mrd. Dollar auf die Reorganisation der afghanischen Sicherheitskräfte entfällt.(28) Eine Studie der Brown University veranschlagt wiederum Gesamtkosten für das Verteidigungs- und Kriegsveteranenministerium von 2001 bis Ende September 2019 auf 975 Mrd. Dollar.(29) Die Universität schätzt auch, dass ohne die Ausgaben für die Kriege in Afghanistan, Pakistan und im Irak etwa 1,4 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze hätten geschaffen werden können.(30)

Auch die Aussage: „Erstmals seit 1945 kommt es in Europa wieder zu einem großen konventionellen Krieg“ ist falsch. Vom 24. März 1999 bis 10. Juni 1999 bombardierten NATO-Streitkräfte nach Vorgaben des US-Luftwaffen-Colonels Warden völkerrechtswidrig die Bundesrepublik Jugoslawien - nämlich ohne Kriegserklärung und ohne UN-Mandat. Die Priorität des Bombens galt zunächst der Führung und danach der zivilen Infrastruktur. Bis heute sind die dadurch hervorgerufenen katastrophalen Umweltschäden - v.a. auch durch den Einsatz von angereicherter Uran-Munition. Dies war der erste NATO-Kampfeinsatz und auch der erste Kampfeinsatz deutscher Truppen seit 1945.

Ältere unter uns werden sich noch an den Originalton des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder erinnern: „…heute Abend hat die NATO mit Luftschlägen gegen militärische Ziele in Jugoslawien begonnen. Wir führen keinen Krieg, aber wir sind aufgerufen, eine friedliche Lösung im Kosovo auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen“.(31) Er selbst habe als Kanzler im Jugoslawien-Krieg auch gegen das Völkerrecht verstoßen. „Da haben wir unsere Flugzeuge […] nach Serbien geschickt und die haben zusammen mit der NATO einen souveränen Staat gebombt - ohne dass es einen Sicherheitsratsbeschluss gegeben hätte…“(32), so Schröder. Seither mandatieren die USA ihre Interventionen - wie sie ihre völkerrechtswidrigen Angriffskriege nennen - selbst.

Nach dem - vom Westen orchestrierten - völkerrechtswidrigen Putsch in der Ukraine im Februar 2014 nahm die ukrainische Regierung am 2. Mai 2014 den militärischen Kampf gegen den Donbass auf, der die demokratisch nicht legitimierte Regierung in Kiew (die zur nötigen Absetzung des im Westen verhassten Präsidenten Janukowitsch erforderlichen 75% wurden in keiner Abstimmung erreicht) nicht anerkannte.

Das UN-Dokument (UNSC 2022/2015) - besser bekannt als "Minsk II" oder „Minsker Friedensabkommen“ - sah einen Maßnahmenkomplex zur friedlichen Lösung des seit Mai 2014 herrschenden Ukraine-Kriegs vor. Mit der deutsch-amerikanischen Erklärung vom 21. Juli 2021 keimte Hoffnung auf. Denn darin versicherten die USA und Deutschland Frieden in der Ukraine im Rahmen des von Deutschland und Frankreich geschaffenen sogenannten Normandie-Formats "Minsk II" für Frieden in der Ukraine zu sorgen.(33) Doch weder die Merkel- noch die Scholz-Regierung machten Anstalten, diesen Staatsvertrag zu erfüllen. Im Interview mit der Redaktion des Magazins "Die Zeit" gab die ehemalige Bundeskanzlerin Angelika Merkel am 7. Dezember 2022 zu:

„… das Minsker Abkommen 2014 war der Versuch, der Ukraine Zeit zu geben. Sie hat diese Zeit hat auch genutzt, um stärker zu werden, wie man heute sieht“.(34)

Einen Tag später bezeichnete der russische Präsident Wladimir Putin Merkels Worte als überraschend und enttäuschend. „Ich hatte trotzdem damit gerechnet, die anderen Teilnehmer [BRD, Frankreich, Anmerkung des Autors] seien aufrichtig. Aber sie haben uns auch betrogen, sie bezweckten, die Ukraine mit Waffen aufzupumpen und für Kriegshandlungen vorzu-bereiten.“(35) Auch der ehemalige französische Präsident François Hollande gab dies später gegenüber dem Online-Medium "The Kyiv Independent" offen und schamlos zu.“(36)

Doch zurück zum Artikel in der Zeitschrift  „Internationale Politik und Gesellschaft“ (IPG):

Damit „…die humanitären und universalistischen Prinzipien … welche 1945 das Fundament für die Gründung der Vereinten Nationen und 1948 für die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte lieferten“, wiederbelebt werden können, regt Benjamin Tallis von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik einen "Neo-Idealismus" an und verweist auf eine neue Generation führender Politikerinnen und Politiker wie Kaja Kallas, Sanna Marin und Wolodymyr Selenskyj, „…die diesen neuen Geist verkörpern“..(37) „Ich wünsche mir“, so Tallis, „eine regelbasierte Weltordnung, einen universellen Menschenrechtsbegriff und ein Völkerrecht, das den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt stellt. Doch mir ist bewusst, dass die bestehende Ordnung dabei ist, sich aufzulösen“(38).

Dieser Einsicht kann nicht widersprochen werden. Die „Regelbasierte Ordnung“ wurde von den USA nach dem 24. März 1999 (Angriff auf Restjugoslawien ohne UN-Mandat) als Ersatz von Atlantik-Charta und Völkerrecht ins Machtspiel gebracht. USA und Großbritannien setzten sich in der Folge mit ihrer Forderung durch, NATO-Militärinterventionen künftig auch ohne UN-Mandat durchzuführen (NATO-Strategie MC 400/2 1999).(39) Wenn man aktuell die flehentlichen Kriegs-Appelle bei CNN und BBC anhört, erweckt die  Massivität den Eindruck, dass etwas ins Wanken geraten ist, „…was mit dem Siegeszug der Nordstaaten 1865 im amerikanischen Bürgerkrieg seinen Anfang genommen hatte“, so der ehemalige Staatssekretär im Verteidigungsministerium Willy Wimmer im Gespräch mit dem Verfasser am 10. Dezember 2023. Der US-Bürgerkrieg (1861-1865) wurde von den Nordstaaten gegen die Südstaaten mit dem Ziel geführt, die Vorherrschaft des Südens und damit des immobilen Kapitals zu brechen und dem mobilen/spekulativen Kapital des Nordens zum Sieg zu verhelfen. Damit siegte auch der Interventionismus über den Isolationismus.

Quellen und Anmerkungen

Wolfgang Effenberger, Jahrgang 1946, erhielt als Pionierhauptmann bei der Bundeswehr tiefere Einblicke in das von den USA vorbereitete "atomare Gefechtsfeld" in Europa. Nach zwölfjähriger Dienstzeit studierte er in München Politikwissenschaft sowie Höheres Lehramt (Bauwesen/Mathematik) und unterrichtete bis 2000 an der Fachschule für Bautechnik. Seitdem publiziert er zur jüngeren deutschen Geschichte und zur US-Geopolitik. Zuletzt erschienen vom ihm

„Schwarzbuch EU & NATO“ (2020)

sowie "Die unterschätzte Macht" (2022)

1) https://www.stripes.com/theaters/us/2023-12-04/pentagon-military-aid-ukraine-taiwan-israel-12257717.html 2) Ebda. 3) Ebda. 4) Bereits am 7. Oktober 2001 - also nur 26 Tage nach den Terrorangriffen - flogen amerikanische und britische Bomber die erste Welle gegen strategische Ziele in Afghanistan 5) Wolfgang Effenberger/ Konrad Löw: Pax americana Die Geschichte einer Weltmacht von ihren angelsächsischen Wurzel bis heute. München 2004, S. 423f. 6) Pfetsch, Frank (Hrsg.): Konflikte seit 1945. Asien, Australien, Ozeanien. Freiburg 1991 7) https://www.spiegel.de/politik/ausland/vietnam-krieg-der-torpedo-angriff-den-es-nie-gab-a-384265.html 8) Lyndon B. Johnson and the Gulf of Tonkin incidents, in: Eric Alterman: When Presidents Lie, Penguin, 2004, S. 160–232 9) https://www.stripes.com/theaters/us/2023-12-04/pentagon-military-aid-ukraine-taiwan-israel-12257717.html 10) https://www.stripes.com/theaters/us/2023-12-04/white-house-aid-ukraine-12252730.html#:~:text=WASHINGTON%20—%20The%20Biden%20administration%20on,to%20a%20halt%20without%20it 11) Ebda. 12) https://www.theguardian.com/us-news/2023/dec/04/republicans-oppose-ukraine-funding-white-house 13) Ebda. 14) Ebda. 15) Ebda. 16) Ebda. 17) https://www.congress.gov/118/crec/2023/02/28/169/38/CREC-2023-02-28-dailydigest.pdf; https://www.youtube.com/watch?v=tmmPHvlbdwI 18) https://www.rheinpfalz.de/politik_artikel,-star-wars-über-der-pfalz-_arid,5586537.html 19) https://de.statista.com/statistik/daten/studie/36470/umfrage/die-groessten-armeen-weltweit-nach-aktiver-truppenstaerke/ 20) https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1086471/umfrage/militaerische-staerke-der-usa/ 21) https://www.ipg-journal.de/ 22) https://www.ipg-journal.de/regionen/global/artikel/welt-im-zerfall-7107/ 23) https://www.ipg-journal.de/regionen/global/artikel/welt-im-zerfall-7107/ 24) https://watson.brown.edu/costsofwar/figures/2021/human-and-budgetary-costs-date-us-war-afghanistan-2001-2022 25) https://web.archive.org/web/20120604063834/http://www.unhcr.org/cgi-bin/texis/vtx/page?page=49e486eb6 26) https://www.bbc.co.uk/news/world-asia-57767067 27) https://comptroller.defense.gov/Portals/45/documents/Section1090Reports/Section_1090_FY17_NDAA_Cost_of_Wars_to_Per_Taxpayer-February_2020.pdf 28) https://www.sigar.mil/pdf/quarterlyreports/2020-07-30qr.pdf 29) https://web.archive.org/web/20210523175432/https://www.thebalance.com/cost-of-afghanistan-war-timeline-economic-impact-4122493 30) https://watson.brown.edu/costsofwar/files/cow/imce/papers/2019/March%202019%20Job%20Opportunity%20Cost%20of%20War.pdf 31) https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/erklaerung-von-bundeskanzler-gerhard-schroeder-807814 32) https://www.wsws.org/de/articles/2014/03/14/schr-m14.html 33) https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/gemeinsame-erklaerung-usa-und-deutschland/2472074 34) https://www.tagesspiegel.de/politik/absolut-unerwartet-putin-zeigt-sich-enttauscht-von-merkel-wegen-ausserungen-zur-ukraine-9006844.html 35) https://www.fr.de/politik/von-putins-luegen-und-merkels-unwahrheiten-92037711.html 36) Ebda. 37) https://www.ipg-journal.de/regionen/global/artikel/welt-im-zerfall-7107/[1] 38) Ebda. 39) http://www.ag-friedensforschung.de/themen/NATO/strategie.html

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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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Bildquelle: CKA / Shutterstock.com


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