Ein Meinungsbeitrag von Hans-Jürgen Mülln.
Am 22. September 2023 spendeten im kanadischen Parlament die Abgeordneten und nicht näher bekannte Honoratioren anlässlich des Selenskyj-Besuchs Jaroslaw Hunka, einem ehemaligen ukrainischen Mitglied der Waffen-SS-Division „Galizien“, einen rauschenden Applaus. Warum? Hunka „hatte als Angehöriger der Einheit am deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion teilgenommen – Kriegsverbrechen inklusive.“ (1) Dies allein wäre eigentlich Skandal genug. Der wird nur noch getoppt durch die anwesende deutsche Botschafterin Sabine Sparwasser, die unter dem grünen Kriegsverbrecher Joseph Fischer 1999 bis 2002 als Vizesprecherin des Auswärtigen Amts diente und der 98-jährigen ukrainischen SS-Mumie ebenfalls tüchtig zuklatschte. (2)
Die deutschen Propagandamedien klatschten zwar nicht mit, sie bewiesen aber einmal mehr ein Höchstmaß an beschämendem Indifferentismus. Deshalb befindet Florian Warweg von den „Nachdenkseiten“: „Wirklich bezeichnend in der ganzen Angelegenheit sind allerdings nicht die Reaktionen in Kanada, sondern die Art und Weise, wie dieser Vorfall in Deutschland bewertet und eingeordnet wurde. Dabei verschlägt es einem teilweise – ob der zur Schau getragenen Geschichtsvergessenheit und offenen Relativierung – die Sprache.“ (3)
In diesem Zusammenhang sticht ein wirklich bösartiger Artikel über die Ereignisse im kanadischen Parlament hervor, der auf dem vom deutschen Axel-Springer-Konzern übernommenen und verantworteten US-Portal Politico erschien. Seine Überschrift: „Der Kampf gegen die UdSSR hat einen nicht notwendigerweise zu einem Nazi gemacht“. Der Inhalt des Textes ist nicht nur empörend, sondern zugleich symptomatisch für den gegenwärtigen Zustand des „Wertewestens“ insbesondere Deutschlands, der von intellektueller und moralischer Verwahrlosung gekennzeichnet ist.
Entlastung eines ukrainischen Faschisten
Keir Giles, der britische Autor des Pamphlets, versucht nicht nur, den ukrainischen Faschisten Hunka und seinesgleichen zu entlasten. Er geht zugleich auf den russischen Botschafter in Kanada, der die Veranstaltung im Parlament verurteilte, los – in einem unerhörten Text voller Unwahrheiten, Demagogie und vor allem voll blanken Hasses auf Russland und seine Historie:
„Laut dem russischen Botschafter in Kanada hat Hunkas Einheit ‚mehrere Kriegsverbrechen, einschließlich Massenmord, gegen das russische Volk, die ethnischen Russen, begangen. Das ist eine erwiesene Tatsache.‘ Aber wann immer ein russischer Beamter etwas als ‚bewährte Tatsachen‘ bezeichnet, sollte es Alarm auslösen. Und sicher, auch hier wurden die Fakten aus der Luft erfunden.“ (4)
Wie etwa die 27 Millionen von Deutschen ermordeten Sowjetbürger? Als wäre dies nicht schon schlimm genug, legt der spätgeborene britische Nazi-Apologet auch noch nach:
„Und angesichts der eigenen Geschichte der Aggression und Gräueltaten Moskaus während des Zweiten Weltkriegs und seiner Nachwirkungen gibt es einen besonderen Zynismus, der den russischen Anschuldigungen zugrunde liegt. Russland fühlt sich wohl, wenn es über ‚Nazis’ [sic!], real oder imaginär, in der Ukraine oder anderswo schreit, denn im Gegensatz zu Nazi-Deutschland wurden Führer und Soldaten der Sowjetunion nie wegen ihrer Kriegsverbrechen vor Gericht gestellt. Russland klammert sich an die Nürnberger Prozesse als Maßstab für Legitimität, weil sie als siegreich Macht nie derselben Abrechnung unterworfen wurde.“ (5)
Selbst den kritischen Einspruch des Simon-Wiesenthal-Zentrums, der sich mit der Kritik der russischen Botschaft in Kanada weitgehend deckt, lässt der britische Schreib-Söldner nicht gelten. „Das Zentrum der Freunde von Simon Wiesenthal meldete seine Empörung und stellte fest, dass Hunkas ‚Verbrechen gegen die Menschlichkeit während des Holocaust gut dokumentiert sind‘ – eine Aussage, die nicht mehr Substanz zu haben scheint als die Anschuldigung Russlands.“ (6) Keir Giles ist ein lupenreiner übler britischer Reaktionär, der von Politico verharmlosend als „Autor und Kommentator“ vorgestellt wird, der allerdings auch für „unsere“ Bundesakademie für Sicherheitspolitik arbeitet, für die er „Arbeitspapiere“ verfasst. (7) Seit 2013 ist er als Senior Consulting Fellow, Russland und Eurasien, das heißt als leitender Berater des Russland- und Eurasien-Programms für Chatham House unterwegs. (8)
Chatham House ist ein 1920 gegründeter „regierungsunabhängiger“, sehr einflussreicher britischer Think Tank vermutlich mit guten Kontakten zu beiden britischen Geheimdiensten. Heute unter der Schirmherrschaft von Karl dem Dritten stehend, zählen 75 Großkonzerne, Investmentbanken, Energiekonzerne und 263 weitere Unternehmen zu seinen Corporate Members sowie weitere ca. 2700 „international tätige Entscheidungsträger aus Wirtschaft, Diplomatie, Wissenschaft, Politik und Medien aus 75 Ländern“. In diesem erlauchten Kreis, der allerdings wenig Vertrauen erweckt, tauchen weitere illustre Namen auf, die auch in anderen politischen Zusammenhängen bekannt geworden sind: „Einzelne Schlüsselprojekte werden von der Rockefeller-Stiftung, der Bill & Melinda Gates Foundation, der Konrad-Adenauer-Stiftung, der NATO oder der EU finanziert und gesponsert.“ (9) Noch Fragen?
Der Brite, der dieses unerträgliche Zeug verzapft hat, steht unverkennbar in der Tradition der britischen naziaffinen Upper Class, die noch immer in der Vergangenheit des britischen Empires lebt und noch immer nicht begriffen hat, dass es längst abgewirtschaftet hat, aber weiterhin mit blutunterlaufenen Augen auf Russland blickt. Eroberungsphantasien im Zustand tatsächlicher Impotenz sind überaus gefährlich wie die Forderungen und Vorschläge britischer Politiker zur Verlängerung des Gemetzels in der Ukraine zeigen.
Kumpanei des Westens mit Nazis
Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an den britischen Premierminister Winston Churchill, der bereits im Mai 1945 erwog, mit den Resten der deutschen Wehrmacht und der Waffen-SS (10) gegen die Sowjetunion in den Krieg zu ziehen. „Unter dem Arbeitstitel ‚Operation Unthinkable‘ sollten die Militärs die Chancen und den möglichen Verlauf eines Feldzugs gegen die Sowjetunion einschätzen, an dem auch Divisionen der deutschen Wehrmacht teilnehmen sollten. Das Adjektiv im Operationsnamen bedeutet ‚undenkbar‘, ‚unvorstellbar‘.“ (11) Der Meinung war auch die Militärführung und verwarf Churchills Plan.
In der Tat, wenn es gegen die UdSSR bzw. Russland ging und geht, zeigt(e) der notorisch antikommunistische und russophobe westliche Imperialismus nicht die geringsten Skrupel, mit Faschisten zu paktieren. Und mittendrin die ehemalige BRD bzw. das heutige Deutschland, das trotz seiner historischen Schuld, 27 Millionen Sowjetbürger ermordet zu haben, leider noch immer keine Ausnahme bildet. Erinnert sei an die Integration Abertausender Nazis in den Staatsapparat der BRD, die damit wieder an so manchen Schalthebel der Macht gelangten, bis in die 1970er Jahre zur Funktionselite gehörten und – ich greife auf einen Begriff aus der Verhaltensforschung zurück – die Republik mitprägten. Eine Prägung, die bis heute im Politischen immer mitspielt. Warum? Klassenanalytisch sind die Faschisten Fleisch vom (bürgerlichen) Fleisch der Herrschenden. Kein Wunder, dass sie auch das Nazi-Regime in der Ukraine unterstützen. Klassensolidarität eben.
Man kann über die DDR sagen und meinen, was man will, aber im Gegensatz zu ihr begann in der BRD erst zu Beginn der 1960er Jahre, also rund zwanzig Jahre (!) nach dem Sieg der Alliierten über den deutschen Faschismus, eine erste zaghafte Auseinandersetzung mit den Menschheitsverbrechen des Nazismus, und zwar gegen allergrößte Widerstände. Der Eichmann-Prozess in Israel 1961, der Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main 1964 waren Meilensteine auf dem Weg eines Versuchs einer ersten Klärung, die bis heute aber nie stattgefunden hat.
Nach der kurzen Phase der sogenannten Entspannungspolitik, die schließlich in den Anschluss der DDR an die BRD mündete, begann das vorübergehend erfolgreichere kapitalistische System der BRD allmählich zurückzurudern, knüpfte an Adenauers Zeiten an und begann, Teile der neueren deutschen Geschichte Schritt für Schritt umzuschreiben. Ein Vorgang, der als Geschichtsrevisionismus bekannt ist, seit den 1950er Jahren schwelte, sich mit dem von Ernst Nolte vom Zaun gebrochenen „Historikerstreit“ Mitte der 1980er Jahre zuspitzte und in den letzten Jahren so richtig Fahrt aufnahm, erst recht seit Beginn des Krieges in der Ukraine. Die Ausschaltung der marxistischen Geschichtswissenschaft in der DDR nach 1990, die ein starkes Gegengewicht zu geschichtsrevisionistischen Tendenzen in Teilen der bürgerlichen Geschichtsschreibung im Westen und insbesondere in der BRD darstellte, hat dem neuen Narrativ schließlich Tür und Tor geöffnet.
Relativierung deutscher Kriegsverbrechen in der UdSSR
Kern dieser seit einigen Jahrzehnten versuchten historischen Regression in den westlichen Gesellschaften, aber vor allem in Deutschland, ist die Relativierung der von Deutschen begangenen Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs und die Infragestellung der Kriegsschuld, die den Täter von seiner historischen Verantwortung entlasten und die ehemalige Sowjetunion belasten soll. Relativierung heißt also Neuanfang für den deutschen Wiederholungstäter, der es als tributpflichtiger Vasall des US-Imperialismus mit dessen Rückendeckung noch einmal versuchen will/soll, wie wir am Beispiel des Ukraine-Krieges sehen. Tatsächlich trägt diese jahrzehntelange geschichtsrevisionistische Debatte inzwischen Früchte.
Wie sehr sie direkt in die Politik hineinspielt, sie massiv beeinflusst und steuert sehen wir seit mehreren Jahren sehr deutlich. Tatsächlich ist die Indizienkette überwältigend: Statt an einer bilateralen Völkerverständigung zu arbeiten, arbeiten deutsche Regierungen fortgesetzt daran, Russland zu brüskieren. Ein Beispiel: Im November 2020 wurde die Annahme einer UN-Resolution gegen die Verherrlichung des Nationalsozialismus, die Russland eingereicht hatte, von 122 Staaten unterstützt. Nur zwei Nationen, die gut mit Faschisten können, die USA und die Ukraine, stimmten dagegen. Die Repräsentanten von 53 Staaten, darunter auch Deutschland, enthielten sich der Stimme. Ausgerechnet Deutschland! Nur weil die Resolution von Russland eingereicht worden war?
Zugegeben wird ebenso wenig, dass der rassistische Vernichtungskrieg der Deutschen gegen die UdSSR insgesamt verbrecherisch war. Die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linkspartei 2018 ist entlarvend.
„Die Einordnung damaliger militärischer Handlungen der Wehrmacht als verbrecherisch im strafrechtlichen Sinne ist einzelfallbezogen vorzunehmen. Als verbrecherisch könnten Handlungen konkreter Täter einzustufen sein, die gegen anwendbares Recht verstießen, insbesondere Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“ (12) Dagegen ist „unter Rechtsexperten und Historikern (…) unumstritten, dass Nazideutschland mithilfe der Wehrmacht an der so genannten Ostfront einen völkerrechtswidrigen, verbrecherischen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion führte. Unter anderem stellte dies das Nürnberger Tribunal fest“ (13).
Der deutsche Geschichtsrevisionismus hat längst schon die EU erobert, verstärkt vor allem durch traditionell reaktionäre und russophobe osteuropäische Regierungen, hinter denen sich aber das herrschende politische Establishment Deutschlands gut verstecken kann, ohne seine grundsätzlich russophobe Haltung offen zeigen zu müssen. Das Resultat ist die denkwürdige „Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. September 2019 zur Bedeutung des europäischen Geschichtsbewusstseins für die Zukunft“ (14). Darin wird unter anderem behauptet, „dass ‚die kommunistische Sowjetunion und das nationalsozialistische Deutsche Reich (...) die Weichen für den Zweiten Weltkrieg stellten‘“. Gefordert wird „‚eine gemeinsame Erinnerungskultur, die die Verbrechen faschistischer, stalinistischer und anderer totalitärer und autoritärer Regime früherer Zeiten ablehnt‘. (…) Befürwortet werden in dem Papier das Verbot kommunistischer Symbole und das Entfernen von Mahnmalen, die an die Befreiung Europas durch die Rote Armee erinnern.“ (15)
Deutsche EU-Abgeordnete stimmten Geschichtslügen zu
Auch große Teile der deutschen EU-Abgeordneten stimmten dieser Geschichtslüge zu, die das Ziel hat, die Kriegsschuld Deutschlands deutlich zu relativieren, zugleich aber ausgerechnet der UdSSR eine Mitschuld am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges anzudichten: Sozialdemokraten (!), Christdemokraten, Liberale, die Grünen Franziska Keller und Sven Giegold (!), ehemals Attac, heute Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, sowie Nico Semsrott von „Die PARTEI“. Nur die Abgeordneten der LINKEN votierten dagegen. Die AfD-Abgeordneten enthielten sich. Seitdem ist kein Halten mehr.
Die Pressesprecherin des russischen Außenministeriums Maria Sacharowa trifft den Nagel auf den Kopf, wenn sie die Komplizenschaft der deutschen Regierungen mit dem Nazi-Regime in Kiew betont. Deutschland habe
„die Lehren aus der Geschichte vergessen. Berlin sollte sich aber besser als andere daran erinnern und sensibler und intoleranter gegenüber jeglichen Manifestationen menschenfeindlicher Ideologie sein, wo auch immer diese auftrete.“ Stattdessen sei „das Gegenteil zu sehen. Die deutsche Führung leugne die allgemein anerkannte Tatsache, dass ukrainische Nationalisten mit Hitlers Drittem Reich kollaboriert hätten. Daraus lasse sich die logische Schlussfolgerung ziehen, dass im heutigen Deutschland die Rehabilitierung des Nazismus in vollem Gange sei.“ (16)
Die Journalistin Susann Witt-Stahl wird noch deutlicher:
„Adornos Diagnose, ‚dass die Aufarbeitung der Vergangenheit nicht gelang und zu ihrem Zerrbild, dem leeren und kalten Vergessen, ausartete‘, muss im Zustand der Verdichtung faschistischer Elemente unter dem Deckmantel der ‚freiheitlich-demokratischen Grundordnung‘, die von jenen mehr und mehr ausgehöhlt wird, radikalisiert werden: Die Aufarbeitung ist nicht nur gescheitert – sie ist zur Verklärung und ideologischen Ausschlachtung der Vergangenheit pervertiert und damit noch hinter den niedrigen Stand zurückgefallen, den sie zu Adornos Zeit erreicht hatte, als sie unentwegt von den alten Nazis unterminiert wurde.“ (17)
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Wenn ein deutsches Verlagshaus, das sich zum weltumspannenden Konzern mit tatkräftiger Beteiligung eines US-Investors aufgepumpt hat, einen Artikel in einer ihrer Publikationen akzeptiert, in dem im Kontext mit einem ehemaligen Waffen-SS-Angehörigen behauptet wird, dass „damals gegen die UdSSR zu kämpfen, einen nicht unbedingt zu einem Nazi machte“ (18), dann ist das ein Warnsignal. Dieses allgemein gehaltene Gestammel von Mister Giles zeigt, dass es im Jahr 2023 wieder oder noch immer möglich ist, die Funktion der Waffen-SS völlig zu verschleiern.
Natürlich zielt diese aus der Luft gegriffene Behauptung darauf ab, Hunka und seinesgleichen vom Vorwurf, Nazis gewesen zu sein, reinzuwaschen. Das Widerliche an diesem Vorstoß des britischen Sudlers ist, dass vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges solche SS-Wiedergänger zu „Widerstandskämpfern“ gegen den angeblichen sowjetischen bzw. russischen Imperialismus, ja sogar als „Vorkämpfer für westliche Werte“ umgemodelt werden, um sie als identitätsstiftende „heldenhafte“ Vorläufer des heutigen Regimes in Kiew, darunter jede Menge spätgeborene waschechte Nationalsozialisten, dem westlichen Publikum zu verkaufen. Deshalb werden mittlerweile gegen die „russischen Orks“ faschistische Ex-Killer zu Heroen stilisiert. Dieser Meinung waren ganz offensichtlich auch die honorablen Jubelperser im kanadischen Parlament – inklusive der deutschen Botschafterin.
„Weltanschauungskrieger“ in der Waffen-SS
Dass Mitglieder der Waffen-SS tatsächlich eine nationalsozialistische Gesinnung hatten (aber nicht unbedingt ein Partei-Buch), ja haben mussten, wenn sie in den Verein aufgenommen werden wollten, gehöre „zu den meisten Propaganda-Erzählungen, die von Russland und seinen Agenten erfolgreich verbreitet werden“, tönt der britische Nazi-Apologet in unverschämter Weise weiter. Dabei unterschlägt er, dass die Waffen-SS im Gegensatz zur Wehrmacht eine hochideologisierte Truppe war, deren Angehörige von manchen Historikern nicht grundlos als „nationalsozialistische Weltanschauungskrieger“ bezeichnet werden.
In die Waffen-SS traten junge Männer – wie mein Vater mit 17 Jahren und sein älterer Bruder mit 19 Jahren – nach Ablegung des Ariernachweises auf Basis einer aufwändig erstellten Ahnentafel, um ihre arische „Reinrassigkeit“ nachzuweisen, und der entsprechenden nachprüfbaren nationalsozialistischen Gesinnung freiwillig ein. Für wert befunden zu werden, der angeblichen „arischen“ Elitetruppe anzugehören, galt im nationalsozialistischen Deutschland als Ritterschlag. Einzige Ausnahme: Als die Waffen-SS-Divisionen, beginnend mit dem Jahr 1944, aufgrund ihrer hohen Verluste personell ausgedünnt waren, wurden junge Männer auch von der SS zwangsweise rekrutiert, die nie daran gedacht hatten, in die Waffen-SS einzutreten. Es sei an dieser Stelle an das Schicksal des jungen Günter Grass erinnert. Die Wehrmacht dagegen „zog“ die jungen Wehrpflichtigen, die sich nur selten freiwillig „ziehen“ ließen.
Hunka trat 1943 freiwillig in die Waffen-SS ein, und war damit definitiv ein Gesinnungstäter, zumal es bekannt ist, dass die ukrainischen Bandera-Faschisten, die überwiegend aus den westlichen Landesteilen stammten, sich aufgrund ihres fanatischen Hasses gegen alles Russische und Jüdische von der SS wie die Motten vom Licht angezogen fühlten. Sie wurden von den deutschen „Elite“-Einheiten der Waffen-SS wie „Leibstandarte“ oder „Das Reich“ allerdings nie als vollwertig anerkannt, sondern nur als Hilfstruppen, die die scheußlichste Drecksarbeit verrichteten. Für die durch und durch rassistischen deutschen „Vollarier“ waren auch Ukrainer wie die Russen slawische Untermenschen. Sie empfanden es deshalb als Beleidigung, ja geradezu als Schande, dass dieser – aus ihrer Sicht – „Abschaum“ ihre Runen tragen durfte. Da sollten sich naziaffine Ukrainer von heute, sie mögen ihre Körper noch so sehr mit Nazi-Tattoos verunstaltet haben, keinen Illusionen hingeben.
Russenhass mästet Rüstungsindustrie
Das eigentliche Problem ist, all dies ist nichts Neues. Der etablierte und inzwischen politisch aufgeheizte Geschichtsrevisionismus ist ein Echo aus längst vergangen geglaubter Zeit und macht deutlich, dass der Hitler-Faschismus und der völkisch getriebene Rassismus gegen die „russischen Untermenschen“ vor allem in der damaligen BRD nicht annähernd aufgearbeitet wurden. Während die UdSSR ebenso wie die Russische Föderation willens waren, sich mit dem ehemaligen deutschen faschistischen Aggressor auszusöhnen, war und ist die Politik der BRD und schließlich Gesamtdeutschlands nach wie vor revanchistisch ausgerichtet, konfrontativ und zielte nie auf einen Ausgleich ab, wie es mit dem ehemaligen „Erzfeind“ Frankreich gelang. Nicht zu vergessen: Vom Russenhass profitiert bis heute vor allem die deutsche und US-amerikanische Rüstungsindustrie.
Deshalb sind die antirussischen Ressentiments nie überwunden worden, die von den Herrschenden in Deutschland und ihren medialen Helfershelfern jederzeit instrumentalisiert werden können, wie die zurückliegenden zwei Jahre gezeigt haben. Der Krieg in der Ukraine diente diesbezüglich als Brandbeschleuniger. Sonst wäre es kaum möglich gewesen, die überkommenen russophoben Stereotypen wie auf ein Stichwort hin – verstärkt und verbreitet durch die Propagandamedien – generationenübergreifend wieder abzurufen. Dem krankhaften und primitiven rassistischen Russenhass, den der britische Sudler in seinem Text geradezu kultiviert, müssen sich die Deutschen endlich stellen. Alle!
Ein Salto rückwärts in die 1960er Jahre
Vor allem für jüngere Leserinnen und Leser möchte ich einen Salto rückwärts machen, zurückgehen in die 1960er Jahre folgende. Ein Auszug aus meinem 2017 erschienenen autobiographisch-erzählerischen Essay „Zerrissen im Land der Dichter und Henker“ (19) soll diesen Artikel abschließen, um zu zeigen, dass die von Leuten wie Mister Giles betriebene fahrlässige Verharmlosung der Waffen-SS und damit der rassistischen Ideologie des Nationalsozialismus eine lange Tradition in der BRD hat und damit auch im wieder vereinten Deutschland.
Let’s go!
1964. Ich befand mich in meinem neunten Lebensjahr. Die Zeit, in der die Wellen um die von Fritz Bauer, dem hessischen Generalstaatsanwalt von 1958 bis 1968, angestrengten Auschwitz-Prozesse in Frankfurt am Main mächtig hochschlugen. Warum sollte das alles wieder aufgerührt werden? Heftige Abwehrreaktionen in der seinerzeit mitgelaufenen oder begeisterten Bevölkerung und in den wieder fest im Sattel sitzenden Täter-Eliten auslösend. Sie wollten an ihre Rollen im Vordamals nicht mehr erinnert werden. Schließlich lebte man im Wirtschaftswunderland. Eine Zeit, in der sich die eine oder andere engagierte Lehrkraft – persönliche oder berufliche Nachteile in Kauf nehmend – bemühte, ihre Schüler über die fürchterlichen Hintergründe aufzuklären. Bereits der spektakuläre Eichmann-Prozess 1961 hatte so viele Fragen aufgeworfen. Meine damalige Grundschullehrerin war eine jener mutigen Lehrkräfte, die uns damals einen Film über Konzentrationslager vorführte.
Geschockt verfolgten meine Mitschüler und ich die Bilder, die in schneller Folge über die Leinwand flimmerten. Verlegenes Kichern von dem einen oder anderen im Dunkeln, als uns die ersten Jammergestalten aus der Leinwand zu fallen schienen, nur noch Haut und Knochen, nackt und bloß, mancher nur spärlich mit einer Decke umhüllt, die ihm ein amerikanischer Soldat nach der Befreiung des KZs umgehängt hatte, nur mit Mühe humpelnd oder stehend, auf die Befreier gestützt, die meisten auf Bahren liegend, darunter einige Sterbende – wären die Amerikaner doch einige Tage früher gekommen! Ich starrte in die Gesichter dieser für mich außerirdisch anmutenden Geschöpfe, auf die riesig wirkenden Münder, die Köpfe, die an Totenschädel erinnerten. Noch nie hatte ich bis dahin solche Gesichter gesehen: von unendlichem Leiden gezeichnet, unendlich müde waren die eingefallenen Augen nicht von Freude, aber zugleich von tiefer Dankbarkeit erfüllt.
Unbarmherzig spuckte der Projektor weitere Bilder aus: Berge von Leichen, die wie Holzscheite übereinandergeschichtet waren, massenhaft Tote, die einfach zwischen den Baracken herumlagen wie achtlos weggeworfene Papiertaschentücher oder halb verrottete, grotesk verrenkte nackte Körper, die mit Bulldozern in riesige Gruben geschoben wurden, hineinfielen wie feuchte Lappen: muskellose Skelette mit ein wenig Haut überzogen, die alles noch notdürftig zusammenhielt vor dem endgültigen Zerfall. Berge von Hosen, Jacken, Westen, Kinderjäckchen und -pullöverchen, von Brillen, Rasierpinseln, Schuhen, auch Kinderschühchen, übereinander gestapelten Koffern, geschorenen Haaren, von den Skalpjägern der SS abgezogen. Ja, auch ein Haufen aus den Zähnen herausgebrochener oder ausgeschlagener Goldplomben, Gebisse, Lampenschirme aus tätowierter Menschenhaut, Schrumpfköpfe von ermordeten Juden, nein, nicht aus Neu-Guinea, aus dem ostpolnischen Treblinka, der Untermensch als allseits reduzierte Kuriosität, am Gürtel leicht zu tragen, als eine Art Statement womöglich? Oder als Schlüsselanhänger oder als possierlicher Talisman am Rückspiegel eines x-beliebigen Automobils aufgehängt, auf kurvenreichen Strecken hin und her baumelnd zur Freude seines deutschen Besitzers. Der Jude möge ewig baumeln.
War das, was wir in dieser knappen Stunde gesehen hatten, nicht schon bedrückend genug, war – zumindest für mich – eigentlich noch schrecklicher, dass ich in jedem dritten Satz hörte: die SS, die SS, die SS! Wo ich doch mittlerweile wusste, dass auch mein Vater mit dem doppelten S etwas zu tun gehabt hatte. Nicht das Elternhaus, die Schule gab zum ersten Mal den Anstoß, darüber nachzudenken, wer Vater im Krieg wirklich gewesen war und was er in jener Zeit angerichtet hatte. Was hatte er nur gegen Juden gehabt? Nachdem ich den Film gesehen hatte, wuchs mein Interesse an seiner Rolle im Krieg natürlich ins Unermessliche. Bis zum Frankfurter Auschwitz-Prozess hatte ich in ihm nur ein vom Krieg misshandeltes Opfer gesehen. Das änderte sich nun schlagartig. Mir begann langsam, aber unwiderruflich zu dämmern, dass er auch Täter gewesen war. Vor allem Täter. Diese Erkenntnis akzeptieren zu lernen und mich mit ihr auseinanderzusetzen, stieß aber zunächst auf einen langjährigen massiven Widerstand meinerseits.
Eine Zeitlang versuchte ich mich mit dem Gedanken zu trösten, die Waffen-SS sei harmloser gewesen als die Lager-SS. Sog selbst während der Lektüre von Hilbergs „Die Vernichtung der europäischen Juden“ scheinbar entsprechende Aussagen gierig auf, selbst solche mit sarkastischem Unterton. „Wir können daher die Wachmannschaften als den Bodensatz der SS betrachten, dem die Schmutzarbeit überlassen wurde, während die besseren Einheiten der Waffen-SS der edleren Aufgabe geweiht wurden, ihr Blut auf dem Schlachtfeld zu vergießen.“ (20) Empfand eine gewisse Genugtuung, als die Erkenntnis nicht nur in der Geschichtswissenschaft allmählich heraufdämmerte, dass die Wehrmacht ebenfalls Verbrechen begangen habe bzw. an Verbrechen beteiligt gewesen sei, wie es hieß und heißt.
Ein Beispiel: Die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–1944“ zeigt – ausgehend vom damals geltenden Kriegs- und Völkerrecht – die Beteiligung der Wehrmacht an den im Zweiten Weltkrieg auf Kriegsschauplätzen im Osten und in Südosteuropa verübten Verbrechen. (21)
Eine Frage sei in diesem Zusammenhang erlaubt: Beging die Wehrmacht denn noch etwas anderes als Verbrechen? Was sollen die ebenso verharmlosenden wie einschränkenden Wörtchen, das Adverb ebenfalls und das Adjektiv beteiligt, in diesem Zusammenhang? War die Wehrmacht nicht auch und vor allem der militärische Träger des rassistischen Angriffs- und Vernichtungskrieges? Eroberte sie etwa in menschenfreundlicher Absicht – als Instrument eines deutschen Humanbellizismus oder der Entwicklungshilfe vielleicht – Europa, wobei sicherlich hier und da, en passant sozusagen, gewisse Vorfälle vorgekommen waren? War nicht jeder einzelne Feldzug, war nicht der gesamte Krieg verbrecherisch? Ich hatte natürlich nicht nur die Ehrenerklärung Adenauers für die deutschen Soldaten aus den frühen 1950er Jahren ebenso beruhigt zur Kenntnis genommen wie die versöhnlichen Töne vieler Nachkriegspolitiker der staatstragenden Parteien. Äußerungen und Standpunkte, die nicht nur gefährlich waren, sondern die Opfer vor den Kopf stießen und noch heute in rechtsextremen Medien gerne zitiert werden und die Legende von der sauberen Wehrmacht nachhaltig nährten:
Nach der die deutschen Landser von 1939 bis 1945 lediglich Kaffeefahrten unternommen hatten, Sightseeing-Touren quer durch Europa an die schönsten Plätze und ergiebigsten Fleischtöpfe dieses Erdteils, die allerdings ab und zu gezwungen waren, sich zu wehren, wenn die Völker, die von ihnen heimgesucht worden waren, unverständlicherweise kein Entgegenkommen für die sich selbst einladenden Gäste zeigen wollten. Zugegeben, manchmal waren tatsächlich Unregelmäßigkeiten vorgekommen, und der eine oder andere ungebetene deutsche Gast hatte sich wirklich danebenbenommen. Kommt leider schon mal vor, wenn große Menschenmassen unterwegs sind. Beim Massakrieren waren die teutonischen Touristenheere allerdings ausschließlich lauteren Zielen gefolgt und hatten sich nur dann verteidigt, wenn sie dazu gezwungen gewesen waren – und wenn, dann aber garantiert ehrenhaft. Und das nachgewiesenermaßen millionenfach.
Nach Adenauers Erklärung verlangte es nun auch einflussreiche Kreise der ehemaligen Waffen-SS nach einer Klärung ihrer Rolle durch den CDU-Kanzler: Ob sein Freispruch der Wehrmacht auch die Angehörigen der Waffen-SS einbeziehe? Und ich las mit Erstaunen und Sympathie zugleich, dass Adenauer – als echt katholischer Christenmensch immer auf Harmonie bedacht und voll der Feindesliebe – ausgerechnet dem Sprecher der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS, Ex-Oberstgruppenführer (Generaloberst) Paul Hausser, am 17. Dezember 1952 brieflich versicherte,
„dass die von mir in meiner Rede vom 3. Dezember 1952 vor dem Deutschen Bundestag abgegebene Ehrenerklärung für die Soldaten der früheren deutschen Wehrmacht auch die Angehörigen der Waffen-SS umfasst, soweit sie ausschließlich als Soldaten ehrenvoll für Deutschland gekämpft haben“ (22).
Wohlwissend, dass das internationale Nürnberger Kriegsverbrechertribunal die Waffen-SS per se als verbrecherische Organisation eingestuft hatte. Trotzdem bekannte Adenauer im Oktober 1955: „Ich weiß schon längst, daß die Soldaten der Waffen-SS anständige Leute waren.” (23) Ferner war er der Meinung, dass „die Waffen-SS keine Juden erschossen hat, sondern als hervorragende Soldaten von den Sowjets am meisten gefürchtet war“ (24). Und dies nach mehr als 25 Millionen Toten auf sowjetischer Seite!
Adenauers rechte Hand und Strippenzieher, Chef des Bundeskanzleramts Hans Globke, ehemals Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Rassegesetze und vielfach in die Vorbereitungen des Holocaust verstrickt, wird´s mit Genugtuung zur Kenntnis genommen haben. Solche unglaublichen und skandalösen Aussagen vom Kanzler der damaligen Bundesrepublik Deutschland, von rechtskonservativer Seite überhaupt, überraschen eigentlich kaum. Die von einer anderen Seite umso mehr. Kein Geringerer als Kurt Schumacher, Naziverfolgter und Nachkriegschef der SPD, beeilte sich, in Adenauers Fußstapfen zu treten, ebenfalls – echt sozialdemokratisch – versöhnliche Töne anschlagend. Eine heftige Solidarität mit den Tätern verspürend, entblödete er sich deshalb nicht, den berüchtigten und wegen Kriegsverbrechen einsitzenden Ex-Panzer-General der Waffen-SS, Kurt Meyer, demonstrativ im Knast zu besuchen. Alles vergessend, alles verzeihend, wir ollen Knastbrüder müssen schließlich zusammenhalten. Prost! Und der schneidige Ex-Oberleutnant Helmut Schmidt, der nachmalige Flutenbezwinger und SPD-Kanzler, umschmeichelte im August 1953 im Hamburger Winterhuder Fährhaus Veteranen der Waffen-SS, betonte, als alter Kriegskamerad immer ein Gefühl besonderer Zuversicht gehabt zu haben, wenn Einheiten der Runenträger neben ihm gekämpft hätten. Zutiefst bedauernd, dass sie mit den Gestapo-Schergen in einen Topf geworfen und zu Unrecht angeklagt würden. (25)
Durch angesehene Politiker und moralische Instanzen – scheinbar honorige und verantwortungsbewusste Meinungsführer –, fand ich eine geraume Zeit lang Vater wohltuend entlastet. Offensichtlich war alles halb so schlimm gewesen. Bei soviel Entgegenkommen durch das damals herrschende Establishment, wie sollte ich da nicht der falschen Fährte folgen, die es gelegt hatte?
Las mit Erleichterung auch die Einlassungen Heinz Höhnes, bis 1991 leitender Spiegel-Redakteur und Autor des Buches „Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS“. Ihm war ich bereit, Behauptungen von der zunehmenden Unterschiedslosigkeit im Kampfverhalten und Handeln von Waffen-SS und Wehrmacht im Kriegsverlauf eher abzunehmen als dem ehemaligen General der Waffen-SS Paul Hausser zum Beispiel, dessen ähnlich lautende Aussagen ich in seiner Apologie „Die Waffen-SS im Einsatz“ (26) fand, die nach Vaters Tod in meinen Besitz übergegangen war. Höhne:
„Der Alltag des Zweiten Weltkriegs verwandelte die Legionäre des Reichsführers in fast ganz normale Soldaten, kaum zu unterscheiden von den Angehörigen der Wehrmacht.“ (27)
Ohne nachzufragen, wer sich damals wem mehr angenähert hatte: die Wehrmacht der Waffen-SS oder die Waffen-SS der Wehrmacht. Regelrecht dankbar war ich dafür, dass ich nicht einen ehemaligen SS-General, sondern – so bildete ich mir ein – einen vermeintlich demokratisch gesinnten Journalisten zum Kronzeugen benennen konnte, der das „einseitige Bild der Waffen-SS“ (28) kritisierte. Es war ja so entlastend. Jedenfalls zeitweise.
Aber welchen Sinn machten solche Vergleiche, fragte die kritischere Hälfte meines Kopfes irgendwann, wenn doch sowohl die Waffen-SS als auch die Wehrmacht beide gleichermaßen Instrumente der Vernichtung, des Völkermords gewesen waren? Was erhoffte ich in solchen Vergleichen zu finden, außer einer Nivellierung des Unterschieds zwischen Wehrmacht und Waffen-SS? Mit anderen Worten: einen Beweis dafür, dass Vater nichts getan hatte, was die anderen nicht auch getan hatten? Unterstellend, dass die Wehrmacht harmloseren Charakters war. War alles doch nicht so schlimm? Ein Vergleich, der ohnehin mehr als hinkte. War es etwa vertretbarer oder entschuldbarer, wenn Millionen von Menschen von den einen weniger schrecklich massakriert wurden als von den anderen? Eine einzige Haarspalterei war das. Das Ergebnis war das gleiche gewesen. Was interessierte das Opfer, einige Nuancen weniger brutal ermordet zu werden?
Trotzdem klammerte ich mich lange Zeit an diese Vergleichs-Absurditäten fest wie ein Ertrinkender an einem Strohhalm. Absurditäten, die durchaus noch steigerungsfähig waren. Wenn man wie ich Heinz Höhne weiter folgte. Da las ich denn von einer im Frühsommer 1944 vereinbarten „Anti-Hitler-Koalition zwischen der Führung der Waffen-SS und dem Westheer“ unter Erwin Rommel, dem damaligen Oberbefehlshaber der Heeresgruppe B, die allerdings aufgrund seiner schweren Verletzung durch Tieffliegerbeschuss und des halbherzigen Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 „(...) ebenso schnell (zerbrach) wie sie zustande gekommen war“ (29). In diesem Zusammenhang begann ich darüber zu phantasieren, was wohl geschehen wäre, wäre Rommel, die Führerfigur der angeblichen Militäropposition im Westen, nicht ausgefallen. Ein Putsch der Divisionen an der Westfront – darunter auch die 1. SS-Panzerdivision „Leibstandarte Adolf Hitler“ – gegen den Tyrannen, ohne ihn beseitigen zu wollen wie die Gruppe um Stauffenberg, der womöglich in einen Separatfrieden im Westen hätte münden können? Die Position meines Vaters, aber auch seines Bruders, die zu jener Zeit mit der Leibstandarte in die fürchterlich blutigen Schlachten in der Normandie verwickelt waren, hätte sich schlagartig gewandelt. Hätte man sie dann etwa Widerstandskämpfer heißen können? Nein, nein, nein! Genug! Es waren irgendwann zu viele Ecken, um die herum ich denken sollte, um Vater mildernde Umstände zuzubilligen. Einzig meiner Entlastung wegen.
Wenn ich zurückdenke, kam er an manchen, allerdings wenigen Tagen doch ans Licht, der Unterschied zwischen Waffen-SS und Wehrmacht – auf den die ehemaligen Runenträger paradoxerweise oft selbst den größten Wert legten –, wenn zum Beispiel Geburtstag gefeiert wurde, Bekannte und Freunde der Familie eingeladen waren. Dann verführte Vater die Zwanglosigkeit zu vorgerückter Stunde, nach dem Kaffeetrinken und dem Abendessen, dazu, die Zurückhaltung ein Stück weit aufzugeben. Einige Gläser Bier oder Wein halfen ihm stets dabei. Dann kam es aus seinem Versteck heraus, aus der Deckung hervorgekrochen, und machte sich in der Konversation der männlichen Erwachsenen breit, der ich stets mit gespitzten Ohren lauschte, so rar waren solche Momente: das Elitäre, der sich hartnäckig haltende Stolz, die freche Überheblichkeit, der Glaube daran, ein Auserwählter gewesen zu sein und eigentlich nichts falsch gemacht zu haben. Fehler hatten immer andere gemacht: die verhassten Parteibonzen zum Beispiel.
Neben den Bonzen der Nazi-Partei aber auch die vielen Weicheier in der Wehrmacht, die sich oft genug nicht hatten zusammenreißen können, die nicht bis zum letzten Mann hatten widerstehen können. Feiglinge gar, deren Unvermögen Vater und seine ambitionierten Kameraden von der Waffen-SS auszubaden hatten, wenn sie wieder einmal unter hohen Verlusten Feuerwehr an einem Frontabschnitt hatten spielen müssen, um ihn zu begradigen. „Wo wir waren, war immer vorne!“
Er kokettierte dann geradezu mit dem erlebten Horror, um zu unterstreichen, was er und seinesgleichen doch im wahrsten Sinne des Wortes für Mordskerle gewesen waren. Noch heute bestätigen ehemalige Wehrmachtssoldaten, darunter auch Helmut Schmidt, indirekt den Nimbus des Besonderen, der die Waffen-SS umflort haben soll. „Es war beruhigend, wenn man wusste, dass links oder rechts eine Einheit der Waffen-SS lag“, gab ein ehemaliger Wehrmachtssoldat in einer TV-Dokumentation zum Besten. Solche Ansichten kannten die Waffen-SSler natürlich, mein Vater auch. Der nach 1945 versteckten, aber latent aufrechterhaltenen elitären Selbstgefälligkeit der ehemaligen „Prätorianer Hitlers“ gaben sie zusätzlich Nahrung.
Sie bestätigten die Männer in ihrem exklusiven Lebensgefühl, das ans Groteske grenzte, von Andrzej Szczypiorski in seinem Roman „Die schöne Frau Seidenman“ in nur wenigen Sätzen trefflich auf die Spitze getrieben. Darin lässt er den SD-Polizeioffizier Stuckler, einen der Menschenjäger von der SS weit hinter der Front im besetzten Polen, sinnieren:
„Stuckler fühlte sich frisch. Das Leben eines Kriegers, dachte er. Das einfache, soldatische Leben. Selbst wenn wir verlieren, wird man uns einst beneiden. Denn in uns steckt eine strenge Schönheit, etwas Engelhaftes. Und auch der Schnitt unserer Uniformen ist einzig in seiner Art, unerreichbar.“ (31)
Sönke Neitzel und Harald Welzer bestreiten in ihrem Buch „Soldaten“ die Legende vom normal kämpfenden SS-Soldaten, sie betonen stattdessen,
„dass die Waffen-SS im Vergleich zur Wehrmacht nicht nur personell anders zusammengesetzt war, einen anderen Habitus ausbildete (...), sondern auch ein anderes Verhältnis zu extremer Gewalt aufwies“ (32).
Noch Fragen, Any Questions Mister Giles?
Quellen und Anmerkungen
(1) Mit der Waffen-SS gegen Russland, german-foreign-policy.com, 28. September 2023 (https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9359).
(2) Florian Warweg, Auswärtiges Amt bestätigt: Auch deutsche Botschafterin beklatschte ukrainischen SS-Veteran in Ottawa, nachdenkseiten.de, 28. September 2023 (https://www.nachdenkseiten.de/?p=104463).
(3) Florian Warweg, „er ist ein Held, und wir danken ihm für seinen Dienst“ – Kanadisches Parlament ehrt bei Selenskyj-Besuch Veteran der Waffen-SS, nachdenkseiten.de, 25. September 2023 (https://www.nachdenkseiten.de/?p=104339).
(4) Keir Giles, Der Kampf gegen die UdSSR hat Sie nicht unbedingt zu einem Nazi gemacht, politico.eu, 2. Oktober 2023 (https://www.politico.eu/article/fight-against-ussr-nazi-waffen-ss-trooper-yaroslav-hunka-world-war-ii-soviet-union-germany/). Dazu empfehle ich den Artikel von Dagmar Henn, Politico und die „Unschuld“ der Waffen-SS, RT DE, 3. Oktober, 2023 (https://rtde.site/meinung/182517-politico-und-unschuld-waffen-ss/) und von Thomas Röper, Die Nazi-Verehrung im Westen, anti-spiegel.ru, 4. Oktober 2023 (https://www.anti-spiegel.ru/2023/die-nazi-verehrung-im-westen/).
(5) Ebd.
(6) Ebd.
(7) https://www.baks.bund.de/de/keir-giles und https://www.baks.bund.de/de/die-baks/auftrag-und-aufgaben-der-bundesakademie-fuer-sicherheitspolitik
(8) https://www.chathamhouse.org/about-us/our-people/keir-giles
(9) https://de.wikipedia.org/wiki/Chatham_House
(10) Dazu das interessante Interview: Im Gespräch: Hermann Ploppa („Der Griff nach Eurasien“), apolut.net, aufgerufen am 5. Januar 2020, insbesondere ab 1:17:50 (https://staging.apolut.net/hermann-ploppa/).
(11) Knut Mellenthin, Churchills dritter Weltkrieg, freiesicht.org, 11. Mai 2017 (http://freiesicht.org/2017/knut-mellenthin-churchills-dritter-weltkrieg-wie-der-britische-regierungschef-1945-mit-soldaten-der-deutschen-wehrmacht-die-sowjetunion-angreifen-wollte/).
(13) Bundesregierung relativiert Vernichtungskrieg gegen Sowjetunion und verweigert Stalingrad-Gedenken, RT DE, 25. Januar 2018 (https://deutsch.rt.com/inland/64146-trotz-27-millionen-tote-bundesregierung/)
(14) André Scheer, Vereint gegen links, www.jungewelt.de, 26. September 2019 (https://www.jungewelt.de/artikel/363605.antikommunismus-vereint-gegen-links.html).
(15) Tobias Riegel, Geschichtsfälschung durch die EU: Parlament beschließt skandalöses Dokument, www.nachdenkseiten.de, 27. September 2019 (https://www.nachdenkseiten.de/?p=55198).
(16) Sacharowa: Rehabilitierung des Nazismus in Deutschland in vollem Gange, de.rt.com, 4. Oktober 2023 (https://de.rt.com/international/182635-sacharowa-rehabilitierung-nazismus-in-deutschland/).
(17) Susann Witt-Stahl, Wiederschlechtmachung. Der Pakt mit dem ukrainischen Faschismus und die Pervertierung der Aufarbeitung deutscher Vergangenheit, jungewelt.de, aufgerufen am 6. Oktober 2023 (https://www.jungewelt.de/artikel/460491.kontinuität-des-faschismus-wiederschlechtmachung.html). Übrigens insgesamt ein hervorragender Aufsatz, der in voller Länge gelesen werden sollte.
(18) Keir Giles, a.a.O., das Zitat im Original: „…Because Fighting Against the USSR at the Time didn’t Necessarily Make you a Nazi.
(19) In meinem Buch „Zerrissen im Land der Dichter und Henker“ (2017) setze ich mich nicht nur mit der SS-Vergangenheit meines Vaters auseinander. Sondern auch mit mir selbst, da ich lange Jahre schwer mit der Tatsache haderte, dass mein Vater Unteroffizier in der 1. SS-Panzerdivision „Leibstandarte Adolf Hitler“ war und damit Teil des genozidalen Vernichtungskrieges der Deutschen in der UdSSR.
(20) Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden. Die Gesamtgeschichte des Holocaust, Frankfurt am Main, Olten, Wien 1982, S. 610.
(21) Zitat aus der Einleitung zur Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944. https://www.beirat-fuer-geschichte.de/fileadmin/pdf/band_16/Demokratische_Geschichte_Band_16_Essay_14.pdf.
(22) Zitat aus dem Brief Adenauers an Paul Hausser vom 17. Dezember 1952. In: Harald Stutte, Günter Lucks, Hitlers vergessene Kinderarmee, Rowohlt E-Book 2014.
(23) Zitat aus: Heinz Höhne, Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS (21. Fortsetzung und Schluß. Von der SS zur Hiag), Der Spiegel, 11/1967, S. 63.
(24) Zitat aus: Waffen-SS: Eine helle Freude, Der Spiegel 13/1964, S. 65.
(25) Die Bemühungen insbesondere der CDU und SPD um eine Rehabilitierung der Waffen-SS zu Beginn der 1950er Jahre ist gut beschrieben in dem Artikel: Brauner Bluff, Der Spiegel 42/2011, S. 44f.
(26) Paul Hausser, Waffen-SS im Einsatz. Göttingen 31953.
(27) Heinz Höhne, Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS, Band 2, Frankfurt am Main und Hamburg 1969, S. 457.
(28) Ebd., S. 458.
(29) Ebd., S. 549.
(31) Andrzej Szczypiorski, Die schöne Frau Seidenman, Zürich 1991, S. 239.
(32) Sönke Neitzel, Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt am Main 22011, S. 390.
+++
Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
+++
Bildquelle: Militarist / Shutterstock.com
+++
Ihnen gefällt unser Programm? Machen wir uns gemeinsam im Rahmen einer "digitalen finanziellen Selbstverteidigung" unabhängig vom Bankensystem und unterstützen Sie uns bitte mit Bitcoin: https://apolut.net/unterstuetzen#bitcoinzahlung
Informationen zu weiteren Unterstützungsmöglichkeiten finden Sie hier: https://apolut.net/unterstuetzen/
+++
Bitte empfehlen Sie uns weiter und teilen Sie gerne unsere Inhalte in den Sozialen Medien. Sie haben hiermit unser Einverständnis, unsere Beiträge in Ihren eigenen Kanälen auf Social-Media- und Video-Plattformen zu teilen bzw. hochzuladen und zu veröffentlichen.
+++
Abonnieren Sie jetzt den apolut-Newsletter: https://apolut.net/newsletter/
+++
Unterstützung für apolut kann auch als Kleidung getragen werden! Hier der Link zu unserem Fan-Shop: https://harlekinshop.com/pages/apolut