Ein Kommentar von Wolfgang Effenberger.
Hauptthema der Woche vom 7. bis 13. November war die kampflose Aufgabe von Cherson, der einzigen ukrainischen Gebietshauptstadt, die die russischen Truppen gleich nach dem 24. Februar 2022 weitgehend intakt erobern konnten – im Gegensatz zu den kleineren Zwillingsstädten Lyssytschansk und Sjewjerodonezk in der Region Luhansk, die bei den Kämpfen fast vollständig zerstört wurden. 1)Da das regionale Zentrum Cherson auch einen wichtigen Platz in der Geschichte Russlands einnimmt, stellt die Aufgabe dieser Gebietshauptstadt eine regionale "Niederlage" für die russischen Streitkräfte dar, die von der ukrainischen Regierung in Kiew innen- sowie außenpolitisch entsprechend ausgeschlachtet und in den Medien nahezu als Trendwende im Krieg gegen Russland dargestellt wurde.
Vor diesem Hintergrund verkündete der ukrainische Staatspräsident Wolodymyr Selenskyi am 13. November 2022 in seiner täglichen Videobotschaft stolz: "Wir alle spüren, wie unser Sieg naht"2). Wie die Geschichte lehrt, sind Siege nicht unbedingt die Voraussetzung für einen dauerhaften Frieden. Ein Frieden kann nur durch eine Übereinkunft mit einem tragfähigen "modus vivendi", der Art und Weise eines erträglichen Zusammenlebens von Kontrahenten, für beide Seiten erreicht werden. Davon scheinen die Kriegsparteien jedoch weit entfernt zu sein.
Für viele überraschend hatte am 9. November 2022 der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu die Verlegung der auf der Westseite des Flusses Dnepr befindlichen Truppen (annähernd 30.000 Soldaten) auf das sichere Südost-Ufer angekündigt. Zwei Tage später war der geordnete militärische Rückzug dieser Streitkräfte und auch die Evakuierung von etwa 100.000 Einwohnern aus der Stadt Cherson abgeschlossen.
"Ich bin sicher, dass mehr als 70.000 Menschen innerhalb einer Woche gegangen sind, seitdem die Überfahrten organisiert wurden"3), so am 11. November 2022 der Verwaltungschef der Region Cherson, Wladimir Saldo.
Das bittere russische Debakel von Cherson trifft vor allem die auf dem Westufer eingesetzten russischen Soldaten. Sie haben den seit September andauernden ukrainischen Angriffen, in dessen Verlauf das russische Militär im Nordosten bei Charkiw einen begrenzten Rückzug antrat, standgehalten und die Schlacht um Cherson nicht am Boden verloren. Den Abzug vom Westufer hat die aus den USA und Westeuropa stammende Präzisionsartillerie erzwungen: Panzerhaubitze 2000 aus Deutschland, Typ Caesar aus Frankreich, Typ Krab aus Polen sowie die HIMARS-Mehrfachraketenwerfer aus den USA. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Operationen der ukrainischen Streitkräfte mit den USA und der NATO bis in kleinste Details "abgestimmt" werden. Über die westliche Satellitenkommunikation läuft auch die Aufklärung und Zielauffassung für die Präzisionsartillerie. So führte bisher die massive Bewaffnung durch den Westen in Verbindung mit einer faktischen Kriegsführung durch die USA/NATO zu einer enormen Überlegenheit in den Bereichen Aufklärung, Kommunikation sowie Führung und Kontrolle. 4)
So konnten auch die Brücken, Fähren und Pontons zerstört oder weitgehend beschädigt werden, was den Nachschub für die russischen Kräfte auf der Westseite des Dnjepr stark erschwerte.5)
Ein weiterer Grund für die Rückverlegung dürften die ukrainischen Artillerieangriffe auf den Staudamm nördlich von Cherson gewesen ein. Die Folgen eines Dammbruchs nördlich von Cherson und eine Zerstörung des Wasserkraftwerks Nowa Kachowka, wären katastrophal gewesen.
Damit die Räumung des Westufers und die Aufgabe der Gebietshauptstadt (wenige Wochen nach Durchführung der Volksbefragung zur Eingliederung der Teilrepublik Cherson in Russland) nicht als schmachvolle Niederlage empfunden werden, stellten die Medien vor allem die militärische Notwendigkeit zur "Umgruppierung" der Kräfte in den Mittelpunkt ihrer Berichterstattung. Dabei wurde dann auch die Militärführung in einen geschichtlichen Kontext gestellt und Vergleiche etwa mit dem Feldmarschall Michail Kutusow oder dem Zaren Peter I. gezogen. Beide mussten sich mit ihren Armeen lange zurückziehen - der eine 1812 während des Russlandfeldzugs von Napoleon, der andere 1709 im Großen Nordischen Krieg, um Ende doch als Sieger dazustehen.6)
Ob sich diese Erklärungen allerdings dazu eignen, den einen Pol der russischen Elite, die Sapadniki (um 1840 entstandene liberale Strömung der russischen Intelligenz) auf Kurs zu halten, bleibt abzuwarten. Dazu muss Putin die "US- und Israelnahe Oligarchen-Fraktion" sowie die "Christen" und die "nichtisraelische Jüdische Fraktion" (Lubawitscher7)) einbinden. Während eine Gruppe von Künstlern, Wissenschaftlern und auch Sportlern den Kontakt zum Westen sucht, trägt der andere Pol, die Silowiki (der Personenkreis aus Politik und bewaffneten Kräfte/Organen) zumindest noch vorerst die Politik Putins mit.
So versicherte Präsidentensprecher Dmitri Peskow nach der Aufgabe von Cherson u.a., dass Cherson Teil des russischen Hoheitsgebiets bleibt.8) Damit steht nun ukrainisches Militär auf russischen Boden. Wie werden die Reaktionen seitens Russlands aussehen?
Trotz der ukrainischen Erfolge in Cherson sieht der ehemalige Bundeswehroberst Ralph Thiele Kiew in einer brenzligen Situation. Den Ukrainern würden junge Männer fehlen, während Russland 120.000 Rekruten für den Kriegseinsatz ausbildet. Zudem zeigten die russischen Angriffe auf Infrastrukturziele eine "grausame" Wirkung. Für Thiele bereitet Russland eine Walze gegen die Ukraine vor.9)
Der ehemalige amerikanische Aufklärungs-Offizier Scott Ritter, bekannt durch seine Rolle als Inspektor der Vereinten Nationen für die UNSCOM-Mission im Irak, vergleicht den ukrainischen "Sieg" in Cherson mit dem des antiken griechischen Herrschers Pyrrhus, der 279 v. Chr. den Sieg über die Römer bei Asculum in Apulien nur unter hohen Kosten erringen konnte. "Wenn wir in einer weiteren Schlacht mit den Römern siegreich sind", sagte Pyrrhus nach der Schlacht, "werden wir völlig ruiniert sein". Pyrrhus war nicht in der Lage, mehr Männer aufzurufen und seine Verbündeten in Italien wurden des Konflikts müde.10) Ähnlich sieht Ritter die Lage der Ukraine. Sobald Russland die Mobilisierung von 300.000 Mann abgeschlossen hat, sei es in der Lage, Cherson zurückzuerobern, das rechte Ufer des Dnepr wieder zu besetzen und weiter bis nach Odessa vorzudringen.11)
Die Einschätzung des ehemaligen US-Generals Ben Hodges, der von 2014 bis 2017 Oberkommandeur der US-Landstreitkräfte für Europa und die Nachfolgestaaten der Sowjetunion war, ist konträr. Er prognostizierte für die nächsten zwei, zweieinhalb Monate sehr schwere Kämpfe um Mariupol und um das Gebiet nördlich der Krim. Im nächsten Sommer würde die Ukraine die totale Kontrolle über ihr gesamtes Territorium wiederhergestellt haben.12)
Für beide Seiten lässt sich auch das entsprechende Zitat beim chinesischen Militärphilosophen Sun Tzu finden: „Siegen wird der, der weiß, wann er kämpfen muss und wann nicht.“ Russland hat Zeit, die der Ukraine und auch der NATO fehlt. Auf die Ukraine könnte jedoch ein anderes Zitat von Sun Tzu zutreffen: „Siegen wird der, dessen Armee in allen Rängen vom gleichen Geist beseelt ist.“13)
Als Reaktion auf die ukrainische Offensive Anfang September hatte Russland eine "Teilmobilisierung" von etwa 300.000 Mann vorgenommen, um die Wende im Ukrainekrieg zu ermöglichen.14) Diese Soldaten könnten Ende des Jahres auf dem Gefechtsfeld eintreffen. Parallel zur Mobilisierung übernahm am 16. Oktober der 55-jährige General Sergej Surowikin das Kommando über die russischen Verbände in der Ukraine. Wenig später hatte er die Lage in der Region Cherson als "angespannt" bezeichnet und einen möglichen Rückzug in den Raum gestellt.15) 2017 verlieh Präsident Wladimir Putin General Surowikin den höchsten Ehrentitel "Held der Russischen Föderation". Im Westen gilt Surowikin hingegen als skrupelloser General.16)
Die politische Elite Deutschlands scheint keine Gelegenheit auszulassen, das Feindbild Russland zu pflegen. So ließ Bundeskanzler Scholz bei seiner Rückkehr aus Peking Anfang November 2022 keine Gelegenheit aus, um im deutschen Volk die Angst vor einem russischen Atomwaffeneinsatz zu schüren und zu suggerieren, dass er und der chinesische Staatspräsident Xi bei der Verurteilung von „Russlands Drohungen mit dem Einsatz von Atomwaffen im Ukraine-Krieg“17) einer Meinung sind. Russland hatte der chinesische Staatspräsident allerdings mit keiner Silbe erwähnt. Xi hatte lediglich alle im Ukraine-Konflikt "relevanten Parteien" aufgefordert, „sich der Androhung oder dem Einsatz von Atomwaffen zu widersetzen, dafür einzutreten, dass Atomwaffen nicht eingesetzt werden können und dass Atomkriege nicht geführt werden dürfen und eine nukleare Krise in Eurasien verhindert wird“18).
Auf dem Weg zum G-20 Gipfel in Bali (15./16. November 2022) machte Bundeskanzler Scholz mit einer zwölfköpfigen Wirtschaftsdelegation am 13. November in der vietnamesischen Hauptstadt Hanoi Zwischenstation. Vietnam hat enge Beziehungen sowohl zu China als auch zu Russland, den wichtigsten Waffenlieferanten Vietnams. Wie China zählt Vietnam zu den Ländern, die den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine bei den Abstimmungen in der UN-Generalversammlung nicht verurteilt haben.
Im Gespräch mit Regierungschef Pham Minh Chinh forderte Scholz Vietnam dazu auf, den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine scharf zu verurteilen. Er wünsche sich eine „klare Positionierung“ der Regierung in Hanoi. „Es handelt sich bei dem russischen Angriffskrieg um einen Bruch des Völkerrechts mit gefährlicher Präzedenzwirkung. Kleine Länder können nicht mehr sicher sein vor dem Verhalten ihrer größeren, mächtigeren Nachbarn.“19)
Diese leidvolle Erfahrung hat Vietnam zwischen 1964 und 1975 mit den USA machen müssen.
Am 4. August 1964 reichte den USA eine nicht verifizierte Meldung über einen angeblichen Angriff auf den US-Zerstörer Meddox für einen unmittelbaren Luftschlag mit 30 Bombern gegen Hanoi, das jegliche Angriffshandlung bestritten hatte. Auch der Kapitän der Maddox hatte die Meldung über einen Angriff nicht bestätigen können. Unter dem Eindruck dieses Zwischenfalls und einer patriotischen Rede des damaligen US-Präsidenten Lyndon B. Johnson „Unser Zweck ist der Frieden“ stimmten im Abgeordnetenhaus 416 zu 0 und im Senat 88 zu 2 Stimmen für die Tonkin-Resolution, die den US-Präsidenten ermächtigte, „alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um jeden bewaffneten Angriff auf die Truppen der Vereinigten Staaten zurückzuweisen und eine weitere Aggression zu verhindern“20) – eine Blankvollmacht für alle militärischen Operationen in Bezug zu Vietnam.21) Pflichtbewusst hatte die Süddeutsche Zeitung nach dem Bombenangriff auf der Titelseite die angebliche Rechtmäßigkeit hervorgehoben: "Vergeltung" und in den Schulbüchern wurde daraus ein „Zusammenstoß der Flotten der USA und Nordvietnams im Golf von Tonking“22).
Der folgende Krieg forderte das Leben von über 2 Millionen Vietnamesen, überwiegend Zivilisten.23) Um die Verstecke und Versorgungswege des Feindes (Vietcong) besser aufzudecken zu können, wurden zur Entlaubung riesiger Flächen mehr als 45 Millionen Liter des Umweltgiftes »Agent Orange« versprüht. Dem US-Hersteller Dow Chemical verkaufte die deutsche Firma Boehringer Know-how zur Herstellung von T-Säure, einem dioxinhaltigen Entlaubungsgift. Als Bestandteil von »Agent Orange« regnete es auf Vietnam nieder, verwüstete große Teile des Dschungels und verursacht bei Einheimischen und besprühten amerikanischen Soldaten Hautgeschwüre, Leberschäden und Krebs.24)
Noch heute ist das versprühte Gift im Nahrungskreislauf zu finden und kann zu schweren Fehlbildungen führen.25) Der Einsatz von »Agent Orange« steht für eines der größten Kriegsverbrechen der USA. Und der Autor dieses Artikels – damals Offizier der Bundeswehr – kann sich nicht erinnern, dass an diesem völkerrechtswidrigen Krieg von Seiten der deutschen Regierungen jemals Kritik geäußert wurde. Das Gegenteil war der Fall. Bundeskanzler Scholz hätte in Hanoi ein Zeichen setzen können, indem er Hilfe bei der Beseitigung dieser giftigen Altlasten angeboten hätte. Das wäre dann auch noch aktiver Umweltschutz gewesen.
Das alles ging dem Verfasser am Dienstag, den 15. November 2022, nach der Meldung eines Raketeneinschlags im polnischen Przewodów durch den Kopf, nachdem einflussreiche Medien und führende Politiker aus mehreren europäischen Staaten ohne jeglichen Beleg Russland für den Beschuss verantwortlich machten.
So twitterte "ZDF-Heute" um 20:06 Uhr: "US-Geheimdienst - Russische Raketen treffen polnisches Gebiet". Diese Meldung wurde am 16. November 2022 um 0:24 Uhr angepasst: "Botschafter einbestellt: Polen bestätigt Einschlag russischer Rakete".26)
Der am 14. November 2022 mit zwei anderen Journalisten des Axel-Springer-Verlags von ukrainischen Präsidenten Selenskyi für die Unterstützung der ukrainischen Regierungspolitik mit dem Verdienstorden ausgezeichnete verantwortliche Redakteur im Bild-Ressort Politik, Julian Röpke,27) erwies sich als dankbar: „Die Antwort auf den russischen Angriff auf Polen kann nur sein, der Ukraine alle defensiven und offensiven Waffen zu geben, um Russlands Invasionsarmee ein für alle Mal zu besiegen. Flugabwehr, Präzisionsartillerie und -raketen und endlich auch westliche Panzer und Schützenpanzer“28).
Das ist die unverbrämte Sprache von Kriegstreibern! Es wird sofort losgefeuert, ohne Untersuchungen abzuwarten und ohne auch nur einen Moment an die verheerenden Folgen ihrer Forderungen zu denken.
Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses und damit eine der einflussreichsten Politiker und Politikerinnen im Bundestag, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), übertraf in ihrer Rhetorik noch die Außenministerin: „Nicht nur haben russische Raketen offenbar Polen und damit NATO-Gebiet getroffen (...). Das ist das Russland, mit dem hier einige offenkundig und absurderweise immer noch 'verhandeln' wollen. Der Kreml und seine Insassen müssen sich umgehend erklären.“29)
Damit stand eine direkte Konfrontation zwischen der NATO und Russland im Raum.
Auf Bali wurde der G20-Gipfel für ein Krisentreffen der NATO- und G7-Staaten unterbrochen und ein Statement abgegeben: „Wir bieten Polen unsere volle Unterstützung und Hilfe bei den laufenden Ermittlungen an“, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung der Regierungschefs und der Präsidenten von Kanada, der Europäischen Union, Frankreich, Deutschland, Italien, Japan, den Niederlanden, Spanien, Großbritannien und den Vereinigten Staaten.30)
Obwohl US-Präsident Biden schon wenige Stunden nach dem Vorfall in Bali von Hinweisen auf eine ukrainische Flugabwehrrakete sprach und es als "unwahrscheinlich" bezeichnete, dass die explodierte Rakete in Russland abgeschossen worden sei,31) machte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi Russland dafür verantwortlich. Auf seinem Telegram-Kanal schrieb er: „Dies ist ein russischer Raketen-Angriff auf die kollektive Sicherheit! Dies ist eine sehr bedeutende Eskalation. Wir müssen handeln.“32) Die Ukraine habe seit Langem davor gewarnt, dass sich die russischen Aktionen nicht auf die Ukraine beschränken würden.
Biden erklärte daraufhin am 17. November 2022, als er von einem Bloomberg-Reporter daraufhin angesprochen wurde, knapp: "Das ist nicht die Beweislage."33)
Die sofortige und wiederholte Klarstellung durch Biden lässt darauf schließen, dass die USA im Gegensatz zur Ukraine zumindest zum Zeitpunkt nicht an einer Ausweitung des Krieges interessiert waren. Ein baldiges Ende des Ukraine-Krieges sieht Biden jedoch nicht.34)
Während die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (41, Grüne) zum Anschlag auf die beiden Pipelines durch Zurückhaltung auffiel – wobei sich dieser Terroranschlag vor allem gegen Deutschlands Bevölkerung und Industrie richtet –, twitterte sie nach dem Raketeneinschlag in Polen: „Meine Gedanken sind mit Polen, unserem engen Verbündeten und Nachbarn. Wir beobachten die Situation genau und sind im Kontakt mit unseren polnischen Freunden und den Nato-Verbündeten.“35)
Polen, Gastgeber des Jahrestreffens der 57 Außenminister der OSZE am 1. und 2. Dezember 2022 in Lodz, verweigert dem russischen Außenminister Sergej Lawrow die Teilnahme am bevorstehenden OSZE-Gipfel. Dieser Schritt sei "beispiellos und provokativ", so das russische Außenministerium am 19. November 2022.36)
Damit dürfte sich die Stimmung im Kreml weiter verschlechtert haben. Am Montag, den 14. November hat die UN-Vollversammlung eine Resolution verabschiedet, die eine Grundlage für künftige Reparationszahlungen Russlands an die Ukraine legen soll. 94 Länder stimmten in New York für die Resolution, damit lag die notwendige Zweidrittelmehrheit vor. 73 Länder enthielten sich, 14 stimmten dagegen - neben Russland u.a. auch China, der Iran und Kuba. Und Selenskyi folgerte: „Die Reparationszahlungen, die Russland für seine Taten leisten muss, sind nun Teil der internationalen Rechtswirklichkeit“.37)
Hat diese "internationale Rechtswirklichkeit" jemals für die Taten der USA Anwendung gefunden?
Wie wird Russland reagieren? Sollte Russland den Forderungen der USA in jeder Weise nachkommen und die Ukraine vor dem 16. März 2014 (Krim-Referendum) wiederherstellen, so wäre vermutlich dennoch nicht Schluss mit der Ächtung Russlands durch die Weltgemeinschaft, geschweige denn eine Aufhebung der aktuellen Sanktionen gegen Russland die Folge, sondern eine Belastung Russlands mit jahrzehntelangen, Hunderte Milliarden Euro schweren Reparationszahlungen.
Ziel einer kleinen US-Elite ist die Zerstörung Russlands um jeden Preis. So ist z.B. das US-"Gesetz zur Bekämpfung des russischen Einflusses in Europa und Eurasien" vom Mai 2017 Grundlage der Sanktionen gegen Russland.
Das Ziel dieser US-Elite, dass Russland entweder mit einer erneuerten Elite und einer neuen Innen- und Außenpolitik aus dem Ukraine-Konflikt hervorgehen, oder dass Russland nicht mehr existieren wird, wird Wunschtraum bleiben.
Um etwas mehr Abstand zum Geschehen zu erhalten, lohnt sich die sehr lesenswerte Außenperspektive vom ehemals ranghohen pakistanischen Militär und Diplomaten, General a. D. Asad Durrani, Absolvent der Führungsakademie der Bundeswehr, ehemaliger Chef des pakistanischen Geheimdienstes ISI, Botschafter seines Landes in Deutschland und Saudi-Arabien.
Unter der Überschrift "Gefangen" führt er aus, dass die USA die Europäer in eine Falle gelockt haben und nun das alte und neue Europa gegen ihr eigenes Urteil und Interesse sanftmütig nach der Pfeife der USA tanzen. Mit dem US-Professor Mearsheimer von der Universität Chicago stimmt Durrani überein, dass das amerikanische Establishment lange und hart daran gearbeitet hat, um Putin zum Einmarsch in die Ukraine zu provozieren. Im Maidan-Aufstand sieht Durrani ein Rädchen in der amerikanisch inspirierten Farbrevolution, die ein Marionettenregime in Kiew installierte und in Folge das Minsker Abkommen aufkündigte. Durrani verweist auf den renommierten Journalisten und geopolitischen Analysten Michael Whitney, der die US-Kriegsziele in der Ukraine in der Zerstörung von Nord Stream und in der Verhinderung einer Zusammenarbeit von Russland und Deutschland sieht. Weiter beruft sich Durrani auf den bekannten Zeithistoriker Niall Ferguson, der vermutet, dass das Weiße Haus will, dass dieser Krieg weitergeht.
Für Durrani ging es nach dem Kalten Krieg in keinem Konflikt jemals um die Dschihadisten, die Taliban, die Massenvernichtungswaffen oder gar um die Russen, Ukrainer oder die Deutschen – es ging immer nur um die USA.
Während viele von uns, so der Pakistani Durrani, in einer Honigfalle gefangen waren, „sind die mächtigen Europäer einfach in die Knechtschaft geschlafwandelt.“38)
+++
Wolfgang Effenberger, Jahrgang 1946, erhielt als Pionierhauptmann bei der Bundeswehr tiefere Einblicke in das von den USA vorbereitete „atomare Gefechtsfeld“ in Europa. Nach zwölfjähriger Dienstzeit studierte er in München Politikwissenschaft sowie Höheres Lehramt (Bauwesen/Mathematik) und unterrichtete bis 2000 an der Fachschule für Bautechnik. Seitdem publiziert er zur jüngeren deutschen Geschichte und zur US-Geopolitik. Zuletzt erschienen vom ihm „Schwarzbuch EU & NATO“ (2020) sowie "Die unterschätzte Macht" (2022).
Anmerkungen
7) Die (Chabad-)Lubawitsch-Bewegung verbreite sich seit 250 Jahren als Teil der Chassiden über Russland und die Nachbarländer. Diese Bewegung gab Tora-Gelehrten Antworten, die sie sonst nirgendwo fanden, und einfachen Bauern Nächstenliebe, die sie zuvor nicht erfahren hatten. Nach eigenem Bekunden hat die Chabad-Lubawitsch-Philosophie mit ihren Anhängern fast alle Orte auf der Welt und fast alle Facetten jüdischen Lebens erreicht:
https://de.chabad.org/library/article_cdo/aid/908649/jewish/berblick.html
8) https://www.zdf.de/nachrichten/politik/rueckzug-cherson-ukraine-krieg-russland-100.html
10) https://www.scottritterextra.com/p/on-kherson
13) Sun Tzu, Die Kunst des Krieges https://gutezitate.com/zitat/270596
16) https://www.n-tv.de/politik/General-Armageddon-Putins-neuer-Befehlshaber-
20) Wolfgang Effenberger/Konrad Löw: pax americana Die Geschichte einer Weltmacht München 2004, S. 421
21) 1971 gab der Pentagon-Mitarbeiter Daniel Ellsberg die von ihm mitverfassten „Pentagon-Papiere“ an US-Medien und deckte durch sie die amtliche Darstellung des Zwischenfalls als bewusste Falschinformation auf. Daraufhin wurde die Tonkin-Resolution im US-Kongress zurückgenommen.
22) Oberstudiendirektor Dr. Karl Kunzer und Studiendirektor Dr. Karl Wolff: Grundwissen Geschichte („will einen Grundstock ausgewählten, wirklich erforderlichen Wissens bieten“) Klett Stuttgart, 1984, S.83
23) https://www.spiegel.de/geschichte/tonkin-zwischenfall-1964-usa-im-vietnamkrieg-a-983990.html
24) https://www.spiegel.de/politik/eine-unselige-geschichte-a-fc072818-0002-0001-0000-000013681543
25) https://www.spektrum.de/news/das-gift-das-bleibt/1652026
27) https://exxpress.at/selenskyj-ehrt-deutsche-bild-mitarbeiter-fuer-ihre-pro-ukraine-berichte/
34) https://www.gmx.net/magazine/politik/russland-krieg-ukraine/biden-baldiges-ukraine-krieges-37462088
38) https://www.nachdenkseiten.de/?p=90138
+++ Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags. +++ Bildquelle: shutterstock / kirill_makarov
+++
Ihnen gefällt unser Programm? Machen wir uns gemeinsam im Rahmen einer "digitalen finanziellen Selbstverteidigung" unabhängig vom Bankensystem und unterstützen Sie uns bitte mit Bitcoin: https://apolut.net/unterstuetzen#bitcoinzahlung
Informationen zu weiteren Unterstützungsmöglichkeiten finden Sie hier: https://apolut.net/unterstuetzen/
+++
Bitte empfehlen Sie uns weiter und teilen Sie gerne unsere Inhalte in den Sozialen Medien. Sie haben hiermit unser Einverständnis, unsere Beiträge in Ihren eigenen Kanälen auf Social-Media- und Video-Plattformen zu teilen bzw. hochzuladen und zu veröffentlichen.
+++
Abonnieren Sie jetzt den apolut-Newsletter: https://apolut.net/newsletter/
+++
Unterstützung für apolut kann auch als Kleidung getragen werden! Hier der Link zu unserem Fan-Shop: https://harlekinshop.com/pages/apolut