Standpunkte

Einheitsnarrativ | Von Michael Meyen

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Ein Standpunkt von Michael Meyen.

Das Jahr fängt gut an. Erst taucht ein Video auf, in dem der Ringier-CEO die Medien in die Verantwortung nimmt. Zugespitzt: Sorgt dafür, dass die Regierungen machen können. Dann erklärt die neue ARD-Chefin ihre Programme zu Volkslehrern. Und ein Pegida-Forscher aus Chemnitz hat gar ein Déjà-vu-Erlebnis“. Mir geht es genauso. Ich kenne das. Auch die SED hat die Öffentlichkeit über ihre Leitmedien dirigiert.

Dass DDR-Vergleiche problematisch sind, weiß man nicht erst seit Mathias Döpfner. Die Bundesrepublik als neuer „Obrigkeitsstaat“? Die Redaktionen besetzt mit „Propaganda-Assistenten“? Frank Überall, Vorsitzender des Deutschen Journalisten-Verbandes, hatte Schaum vor dem Mund, als er diese SMS des Springer-Chefs im ZDF kommentieren durfte. Stasi! Einheitspresse! Schießbefehl! Und:

„Herr Döpfner bedient damit leider die Narrative der Verschwörungserzählungen, die zum Teil in der Gesellschaft herumgeistern.“

Okay: Das Video mit Marc Walder kannte Frank Überall da noch nicht. Anfang 2021 sagte der CEO von Ringier, einem Schweizer Konzern, der mit Springer in Osteuropa kooperiert und auch in Afrika und Asien aktiv ist, in illustrer Runde: „Wir hatten in allen Ländern, wo wir tätig sind, auf meine Initiative hin gesagt: Wir wollen die Regierung unterstützen durch unsere mediale Berichterstattung, dass wir alle gut durch die Krise kommen.“ Und: „Ich wäre froh, wenn das in diesem Kreis bleibt.“

Das ist ein Unterschied: In der DDR wusste jeder, wem die Leitmedien gehören. Niemand hat erwartet, dass dort die Regierung kritisiert wird. Im Gegenteil: Zeitungen wie das Neue Deutschland oder die TV-Nachrichtensendung Aktuelle Kamera wurden genutzt, weil man gewissermaßen aus erster Hand erfahren wollte, wie die Spitze der herrschenden Partei die Welt gerade sieht. Mathias Döpfner und Marc Walder sagen uns: Zumindest in dieser Krise, die im Moment einen Virus-Namen trägt, ist das hier und heute nicht viel anders.

Die beiden Medienfürsten könnten sich dabei auch auf die Forschung berufen. Eine Analyse der Corona-Berichterstattung von März 2020 bis April 2021 zeigt, dass die Leitmedien „regierungsnah und regierungskritisch“ waren. „Sie war regierungsnah, weil die Medien, ähnlich wie die Politik, überwiegend für harte Maßnahmen plädierten. Sie war zugleich aber auch regierungskritisch, weil den Medien diese Maßnahmen oft gar nicht hart genug erschienen oder zu spät kamen“ (Maurer et al. 2021: 57).

Vielleicht hat Marc Walder Deutschland deshalb im Februar 2021 als schlechtes Beispiel hingestellt. Dort werde die Regierung „unglaublich hart angegangen“, weil sie nicht „genügend Impfdosen“ gekauft habe. Vor allem Spahn und Merkel müssten viel mehr über sich ergehen lassen als alles, was man sonst nur aus dem „Fußballgeschäft“ kenne. Walder weiter: „Das nützt im Moment niemandem etwas.“ Die Politik dürfe das Volk nicht verlieren. Ergo: Die Medien sollten keinen einen „Keil“ treiben „zwischen Gesellschaft und Regierung“ und aufhören, Demonstrationen zu triggern.

Ich weiß nicht, ob Menschen auf die Straße gegangen sind, weil sie keinen Impftermin bekommen haben oder mehr Regeln und mehr Lockdown wollten. Vielleicht war das so. Marc Walder verbindet das Wort Demonstrationen mit dem Adjektiv „gewalttätig“ und mit dem Verb „schüren“, das wir sonst im Zusammenhang mit Feuer verwenden oder mit negativ besetzten Dingen wie Angst, Neid oder Eifersucht. Die Botschaft ist klar: Gefahr! Aber: Die Redaktionen von Ringier sind auf dem Posten.

In der Schweizer Onlinezeitung Infosperber hat Rainer Stadler, das nur am Rande, Marc Walder und Mathias Döpfner in einen Topf geworfen: „Die Kritiker der Corona-Maßnahmen können jetzt zwei Kronzeugen zitieren, die ihre Meinung bekräftigen, dass ‚die‘ Medien viel zu unkritisch und zu regierungsnah das Pandemie-Management der Behörden begleiten würden.“ In der DDR hieß das: Nichts veröffentlichen, was dem Klassenfeind helfen könnte. Keine Fehlerdiskussion.

Patricia Schlesinger, Intendantin des RBB und seit Neujahr ARD-Vorsitzende, kennt diesen Imperativ aus grauer Vorzeit möglicherweise. Gleich in ihrem ersten großen Auftritt hat sie all jenen den Wind aus den Segeln nehmen wollen, die dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk die Fähigkeit zur Selbstkritik absprechen, und „Fehler“ zugegeben – „Fehler“ im „Umgang mit Corona-Impfleugnern“ (Focus-Online-Teaser) oder „Impfzweiflern“ (Focus-Online-Überschrift, auch nicht viel besser). O-Ton Schlesinger: „Vielleicht sind wir zu spät auf jene Menschen eingegangen, die Impf-Vorbehalte haben. Wir hätten ihnen früher erklären können, warum Impfen richtig und wichtig ist.“

Nein, Frau Schlesinger. Sie müssen gar nichts erklären. Der Medienstaatsvertrag ist hier ziemlich eindeutig. Paragraf 26, Überschrift „Auftrag“, verlangt in Absatz eins „einen umfassenden Überblick über das internationale, europäische, nationale und regionale Geschehen“ sowie die Förderung des „gesellschaftlichen Zusammenhalts“. Absatz zwei nennt dann vier „Grundsätze“ für die Berichterstattung: Objektivität, Unparteilichkeit, Meinungsvielfalt und Ausgewogenheit. Nichts davon gab es im DDR-Journalismus. Dort hätte niemand eine Bühne bekommen, der von der offiziellen Linie abweicht. Die Partei, die Partei, die hat immer Recht. Sie hat es allerdings, so lässt sich dieses Lied im Licht der historischen Niederlage auch interpretieren, nicht allen gut genug erklärt.

Was die SED immer wusste: Eine komplexe Gesellschaft braucht einerseits Öffentlichkeit (einen Ort, an dem die Regierung für Zustimmung werben und gleichzeitig die Sorgen und Nöte der Bevölkerung aufnehmen kann), andererseits aber sind alle Arenen jenseits von Leitmedien und selbst organisierten Massenaufmärschen sehr viel schwerer zu kontrollieren und folglich langfristig vor allem dann eine Gefahr, wenn die Zustimmung bröckelt (vgl. Meyen 2011). Romane und Theateraufführungen, Kabarettprogramme, Filme im Westfernsehen und am Schluss dann mehr und mehr auch Demonstrationen: Die Partei hat entweder dafür gesorgt, dass Unmut und Kritik nicht in den Leitmedien ankamen (wie bei der Selbstverbrennung von Pfarrer Oskar Brüsewitz in Zeitz 1976), oder dort unmissverständlich klargemacht, was davon zu halten ist, und Unterstützung so selbst in privaten Gesprächen gebremst.

Internet gab es seinerzeit noch nicht. Die Regierenden können deshalb heute weder aus DDR-Fehlern lernen noch sie wiederholen. Genau wie damals wissen sie allerdings Teile der Leitmedien und der Wissenschaft an ihrer Seite, wenn es gilt, unliebsame Meinungsbekundungen zu delegitimieren und Informationen oder Argumentationen zu diskreditieren, die dem hegemonialen Narrativ widersprechen.

Beispiel eins: Piotr Kocyba von der TU Chemnitz, ein „Protestforscher“, der seiner Uni gerade ein Interview gegeben hat, um ein Arbeitspapier vom Dezember „noch ein bisschen besser zu verbreiten (zumal angesichts der Aktualität des Themas)“ (MDR-Altpapier). Überschrift auf der TU-Seite: „Gefahr für die Demokratie: Was Pegida und die Corona-Proteste verbindet“. Interview und Arbeitspapier sagen eigentlich: Die Forschung weiß weder über Pegida wirklich Bescheid noch über „rechte Proteste“ (Titel der Broschüre), weil sich die meisten Beteiligten nicht befragen lassen. Für die „Spaziergänge“ der Gegenwart gilt das erst recht. So schnell ist die Wissenschaft einfach nicht. Piotr Kocyba zieht im Gespräch mit der Pressestelle trotzdem eine Parallele. Wieder Menschen auf den Straßen, die „meist nicht wie Neonazis oder Hooligans daherkommen, sondern nach ganz gewöhnlichen Bürgerinnen und Bürgern aussehen“ – und möglicherweise gerade deshalb „unsere Demokratie“ gefährden und am Ende vielleicht sogar „Gewaltphantasien Taten folgen“ lassen. Das hätte die Abteilung Agitation im ZK der SED nicht besser formulieren können.

Stolz wäre man dort sicher auch, das ist mein zweites Beispiel (Stichwort: anekdotische Evidenz), auf die Welt-Mitarbeiter Benedikt Fuest und Philipp Vetter gewesen (das Wort „Journalist“ wollte hier einfach nicht in die Tastatur), die im Dezember den Sack geschlagen haben (Bücher zum Thema Impfen), aber die Sachbuchverlage und vor allem Amazon meinten. Unglaublich, dieser „Onlinehändler“. Wer dort „verlässliche Informationen“ suche, vielleicht sogar „Fachbücher von Medizinern“, finde ganz oben in der Trefferliste Beate Bahner (2021) und Raymond Unger (2021).

Argumente gegen diese beiden? Vielleicht sogar ein Text, der den Namen Rezension verdient? Nicht doch, jedenfalls nicht in dieser Welt. Bahner bekommt eine Watschn („Die Autorin ist bekannt dafür, dass sie Covid-19 als Erkrankung mit ‚grippeähnlichen‘ Symptomen verharmlost, ein ‚Geleitwort‘ schreibt der unter Verschwörungstheoretikern, ‚Querdenkern‘ und Corona-Leugnern geschätzte Sucharit Bhakdi, ein Star der Impfgegnerszene“), und Unger wird jede Qualifikation für sein Thema abgesprochen. Dieser Autor sei „nicht etwa Arzt“, sondern „bildender Künstler“ und „Kunstmaler“ (beides in der Zeitung in Anführungszeichen, als ob man auch das noch für Hochstapelei halten müsste). Sein Vergehen im Zitat: „Statt den wissenschaftlichen Konsens darzustellen, dass es sich bei den Corona-Vakzinen um sichere, erprobte, zugelassene und hochwirksame Impfstoffe handelt, wird im Impfbuch geschwurbelt, geraunt und gezweifelt, was das Internet so hergibt.“

Nicht nur nebenbei: Benedikt Fuest ist Diplomvolkswirt und Philipp Vetter Diplomjournalist. Das reicht offenbar, um sich über einen Autor zu erheben, der immerhin „zwanzig Jahre medizinische Berufserfahrung“ hat (Unger 2021a: 239) und sich außerdem mit pointierten Gesellschaftsanalysen einen Namen machte (vgl. Unger 2018, 2021b). Mehr noch: Die beiden Reporter haben Ungers Verlag gefragt, wie es zu diesem Unfall („Schwurblerlektüre“) kommen konnte, frei nach dem Motto: Big Brother is watching you.

Das weiß jetzt auch Sebastian Stude, Geschäftsführer von Neopubli, einer Selfpublishing-Plattform, der den beiden Welt-Wächtern immerhin melden konnte, den Stein des Anstoßes (ein Buch über Impfschäden) „kurz nach der Veröffentlichung wieder zurückgezogen“ zu haben. Der schwarze Peter liegt so bei Amazon. Dort verkauft man offenbar selbst dann „Restexemplare“, wenn Neopubli ausgestiegen ist, und scheut auch nicht davor zurück, Bücher in die E-Book-Flatrate aufzunehmen, die es nicht in den Welt-Kanon schaffen oder durch die Zensur von Verlagen, die mit Lektoratsfreiheit werben.

Der Konzern hat, so viel lässt sich diesem Text entnehmen, die Anfrage der Zeitung an sich abprallen lassen. Dass die Algorithmen „absurde Zuordnungen“ liefern (das Impfbuch war zeitweise „Bestseller Nr. 1 in Journalismus“)? Dass es beim „US-Handelsriesen“ nicht weit sei („nur wenige Klicks“) von Raymond Unger bis zur „Neuen Weltordnung“ und zu „schwarz-weiß-roten Flaggen des Kaiserreichs“? Und dass die Suche nach dem Schlagwort Impfung „nur ein einziges Fachbuch“ ergebe, „das von einem renommierten Immunologen verfasst wurde“? So what. Man fühle sich keiner „bestimmten Meinung“ verpflichtet.

Benedikt Fuest und Philipp Vetter reicht das nicht. Es gehe schließlich „nicht um Meinungen, sondern um falsche Tatsachenbehauptungen“. Bei Raymond Unger muss hier eine (!) anonyme (!) Kundenrezension als Beleg herhalten („Willkürliche Umdeutung der Studienlage“). Kein Wort zu den vielen Fünf-Sterne-Rezensionen. Rund um die Veröffentlichung des Welt-Artikels sind drei weitere Verrisse dazugekommen (wieder anonym), mit Textbausteinen von Fuest und Vetter. Das Zusammenspiel von Leitmedien und Online-Aktivismus funktioniert. Und mich würde wundern, wenn Amazon nicht längst an seinen Algorithmen schraubt.

Falls es eines Tages tatsächlich eine „DDR 2.0“ geben sollte: Man muss die Leitmedien nicht selbst besitzen. Sie werden schon mitmachen, wenn man ihnen sagt, dass es um etwas Großes geht. Auch Angst vor den digitalen Plattformen ist nicht angebracht, liebe Genossinnen und Genossen. Die Instrumente sind längst da. Bei den Demos sowieso. Und das Problem mit Telegram wird bis dahin auch gelöst sein.

Literaturangaben:

Beate Bahner: Corona-Impfung: Was Ärzte und Patienten unbedingt wissen sollten. München: Rubikon 2021

Marcus Maurer, Carsten Reinemann, Simon Kruschinski: Einseitig, unkritisch, regierungsnah? Eine empirische Studie zur Qualität der journalistischen Berichterstattung über die Corona-Pandemie. Berlin: Rudolf-Augstein-Stiftung 2021

Michael Meyen: Öffentlichkeit in der DDR. Ein theoretischer und empirischer Beitrag zu den Kommunikationsstrukturen in Gesellschaften ohne Medienfreiheit. In: Studies in Communication / Media 1. Jg. (2011), S. 3-69

Raymond Unger: Die Wiedergutmacher: Das Nachkriegstrauma und die Flüchtlingsdebatte. München: Europaverlag 2018

Raymond Unger: Das Impfbuch: Über Risiken und Nebenwirkungen einer COVID-19-Impfung. München: Scorpio 2021a

Raymond Unger: Vom Verlust der Freiheit. Klimakrise, Migrationskrise, Coronakrise. München: Europaverlag 2021b

+++Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags. +++ Dieser Beitrag erschien zuerst am 07. Januar 2022 bei Hypotheses, dem Blog von Michael Meyen +++ Bildquelle: Kittyfly / shutterstock


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