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Endspiel des Kapitalismus | Von Norbert Häring

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Die USA bauen die digitale Überwachungsstruktur und die künstliche Intelligenz fieberhaft aus, um mit China Schritt halten zu können. Exklusivabdruck aus „Endspiel des Kapitalismus“.

Hinweis zum Beitrag: Der vorliegende Text erschien zuerst im „Rubikon – Magazin für die kritische Masse“, in dessen Beirat unter anderem Daniele Ganser und Hans-Joachim Maaz aktiv sind. Da die Veröffentlichung unter freier Lizenz (Creative Commons) erfolgte, übernimmt apolut diesen Text in der Zweitverwertung und weist explizit darauf hin, dass auch der Rubikon auf Spenden angewiesen ist und Unterstützung braucht. Wir brauchen viele alternative Medien!

Ein Kommentar von Norbert Häring.

In den vergangenen zwei Jahren drang im Westen die Digitalisierung in fast alle Lebensbereiche. Profiteure dieser sprunghaften Entwicklung sind die Big-Tech-Konzerne der USA. Die USA selbst sind auf das beschleunigte Vorantreiben der Digitalisierung existenziell angewiesen, wenn sie mit ihrem Hauptkonkurrenten China mithalten können wollen. Was sich nun in schnellen Schritten im Westen an Durchdigitalisierung entwickelt, ist im Reich der Mitte seit geraumer Zeit schon Standard. Nun vollzieht sich vor unseren Augen ein Hightech-Wettrüsten zwischen dem Westen und China. Da beide Systeme die Tendenz haben, einander auszuschließen, sehen sich die restlichen Staaten und Regionalmächte gezwungen, sich zwischen einem dieser beiden Systeme zu entscheiden. Exklusivabdruck aus „Endspiel des Kapitalismus: Wie die Konzerne die Macht übernahmen und wie wir sie uns zurückholen“.

Die technologischen und gesellschaftlichen Pläne der US-Regierung und der US-Konzerne werden stark beeinflusst von der Konkurrenz mit China um die Technologieführerschaft. China sei Hauptwettbewerber auf vielen Feldern geworden, von Drohnen über selbstfahrende Fahrzeuge und Sensoren bis zu Smart Cities und Überwachungstechnologie im Allgemeinen, stellt der kanadische IT-Professor David Murakami Wood fest (1).

Und Michael Dempsey, ehemaliger Chef der US-Geheimdienste, warnte 2018, es sei deutlich, dass China entschlossen sei, die globale Führung auf den Gebieten künstliche Intelligenz, Bau von Hochleistungscomputern und synthetische Biologie zu übernehmen:

„Das sind die Sektoren, die das Leben auf dem Planeten und die militärische Machtbalance in den nächsten Jahrzehnten bestimmen werden.“

So wie die Regierung auch an der Entwicklung des Internets entscheidend mitgewirkt habe, um die nationale Sicherheit zu befördern, müsse sie alle Forschung zur künstlichen Intelligenz unter dem Aspekt der nationalen Sicherheit koordinieren (2).

Das geschieht auch. Die Regierung berief unter Leitung von Eric Schmidt, dem ehemaligen Chef der Google-Mutter Alphabet, ein gemeinsames Gremium von Silicon-Valley-Größen und Mitgliedern des Sicherheitsapparats ein, das auf den Namen National Security Commission on Artificial Intelligence (NSCAI) hört, zu Deutsch: Nationale Sicherheitskommission zur künstlichen Intelligenz. Ihre gesetzliche Aufgabe ist es, Wege zu entwickeln, den technologischen Vorsprung bei künstlicher Intelligenz und verwandten Technologien mit Relevanz für die nationale Sicherheit gegen China zu verteidigen.

Eine US-Bürgerrechtsorganisation beförderte mithilfe des Informationsfreiheitsgesetzes eine spannende Präsentation der NSCAI vom Mai 2019 ans Licht. Unter dem Titel „Chinese Tech Landscape: Overview“ werden darin in neidvollem Ton die strukturellen Vorteile aufgelistet, die es China ermöglichen, bei künstlicher Intelligenz und digitalen Geschäftsmodellen so rapide voranzuschreiten, dass die nationale Sicherheit (sprich: globale Vorherrschaft) der USA bedroht sei.

Die USA fielen bei der Anwendung neuer IT-Technologien immer weiter hinter China zurück, heißt es darin, weil die Datenschutzregeln schärfer seien als in China und weil in den westlichen Industrieländern vieles auch ohne Digitalisierung und künstliche Intelligenz gut funktioniere, sodass die Akzeptanz solcher Technologien geringer sei. Gut funktionierende, traditionell analoge Infrastruktur, wie flächendeckende Bargeldversorgung, Ärzte und Krankenhäuser, Schulen, gut sortierte Läden selbst in ländlichen Gebieten, sowie funktionierender Individual- und öffentlicher Verkehr, würden so zu einem entscheidenden Nachteil im alles entscheidenden Kampf um die Führerschaft bei den Zukunftstechnologien.

Demgegenüber springe man in China mit seiner ungenügenden physischen Infrastruktur gleich zu digitalen Lösungen, und diese würden gern angenommen. Weil es keinen Schutz der Privatsphäre gebe, könne in China die Regierung ungehemmt Aufträge für technikgestützte Massenüberwachung an die Digitaltechnologiekonzerne vergeben. Das helfe diesen ganz entscheidend dabei, ihre Technologie weiterzuentwickeln. Die Präsentation bezeichnet staatliche Programme der Massenüberwachung als „erste und beste Kunden für künstliche Intelligenz“ und als „Killeranwendungen“ für Maschinenlernen (3).

Zwischen den Zeilen wird der Wunsch deutlich erkennbar, die strukturellen Hindernisse in Form von Datenschutz und bewährter, analoger Infrastruktur zu beseitigen, weil man dies als einzigen Weg betrachtet, China am Überholen und Davonziehen zu hindern. Und das ist ein Ziel, für das die US-Regierung, gleich welcher Couleur, alles tun würde.

Seit das Coronavirus umgeht, sind die Sorgen der NSCAI deutlich kleiner geworden. Künstliche Intelligenz hat sich in den Augen der Öffentlichkeit von einer Bedrohung in einen Heilsbringer verwandelt, durch ihren in den Medien überall herausgestellten, tatsächlichen oder nur behaupteten Nutzen bei der Pandemiebekämpfung.

Typisch dafür ist die Überschrift eines Artikels in der Frankfurter Allgemeinen, die beklagte, dass „die rettende Corona-App“ erst später kommen könnte (4). Und das, obwohl es mit dem Nachweis oder auch nur der Plausibilität, dass das automatische Verfolgen von Kontakten per Smartphone funktioniert, ziemlich düster aussieht.

Da für die Apps der verschiedenen Länder oft Hardware oder Software der US-Digitalkonzerne verwendet wird und die Daten bei US-amerikanischen Cloud-Anbietern gespeichert werden, bringt das den Entwicklern von KI-Anwendungen in den USA — und den Geheimdiensten — massenhaft Daten ein.

Digitale Impfpässe und Programme zur sicheren Identifizierung von Reisenden werden geschaffen, Kommunikation findet nicht mehr physisch statt, sondern wird über die Konferenzsoftware von US-Firmen wie Slack, Zoom oder Microsoft (Teams) abgewickelt. Was da an Daten bei den Digitalkonzernen anfällt, kann endlich mit China mithalten. Und die Kooperation von Digitalkonzernen mit Regierungen wird auch in den Augen der westlichen Öffentlichkeit vom Laster zu der Tugend, als die sie nach Ansicht der NSCAI unbedingt betrachtet werden sollte.

Viele physische Ladengeschäfte werden nach Corona verschwunden sein. Für den Onlinehandel ist das ein sensationelles Anschubprogramm. In der Präsentation des NSCAI hatte es zu den Digitalisierungsvorteilen Chinas geheißen:

„Wenn der einzige Weg, etwas zu bekommen, das Internet ist, dann kaufen die Konsumenten online.“

Das gilt zu Corona-Zeiten auch für den Westen — endlich, würde die NSCAI sagen.

Die Agenda des kalten Technologiekrieges gilt unabhängig davon, wer Präsident ist. Präsident Joe Biden steht dabei Trump in nichts nach. Im März 2021 sagte er, China habe das Ziel, die weltweite Führungsmacht zu werden, das reichste und mächtigste Land der Welt: „Das wird nicht passieren, solange ich Präsident bin“, kündigte er an (5). Schon ziemlich vermessen, wenn man bedenkt, dass China mehr als viermal so viel Einwohner wie die USA hat und Biden wahrscheinlich beabsichtigt, acht Jahre lang Präsident zu sein.

Ohne es hier aus Platzgründen vertiefen zu können, kann ich mir auf das Handeln der beiden Großmächte in den letzten Jahren am besten auf Basis der folgenden Hypothese einen Reim machen: Die US-Regierung geht davon aus, dass sie im offenen Wettstreit mit dem 1,4-Milliarden-Einwohner-Land China auf Dauer im offenen Wettbewerb um die Vorherrschaft nicht bestehen kann.

Da die nationale Sicherheit mit globaler Dominanz gleichgesetzt wird, kommt es nicht in Frage, China diesen Status zu überlassen. Die langfristige Strategie, mit der sich die chinesische Seite notgedrungen abgefunden hat, besteht daher darin, die Einflusssphären zu trennen, um zu einem bipolaren System zu kommen.

Die chinesischen Konzerne werden aus der US-Einflusssphäre ausgegrenzt, China macht umgekehrt dasselbe. Das Internet und das Finanzsystem werden so gut wie möglich in zwei Sphären aufgeteilt. Bei Ländern, die nicht klar dem amerikanischen oder chinesischen Einflussbereich zuzuordnen sind, wird versucht, diese in den jeweils eigenen Einflussbereich zu ziehen. Indien scheint sich klar den USA zuzuwenden, Russland notgedrungen China. In Afrika und dem übrigen Asien setzt sich der kalte Krieg der IT-Großmächte um den größeren Einfluss dagegen fort.

Quellen und Anmerkungen:

(1) David Murakami Wood (2021). „Platform Capitalism, Empire and Authoritarianism: Is There a Way Out?“ CIGI (online), 15. März (2) Michael Dempsey (2018). „Winning the national security long game takes technology innovation“. The Hill (online), 13. Februar (3) „Chinese Tech Landscape — Overview“. NSCAI Presentation. Mai 2019. (4) Merten Freidel (2020). „Die rettende Corona-App lässt auf sich warten“. FAZ (online), 17. April (5) Jarrett Renshaw, Andrea Shalal, Michael Martina (2021). „Biden says China won’t surpass U.S. as global leader on his watch“. Reuters (online), 25. März

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch "Endspiel des Kapitalismus - Wie die Konzerne die Macht übernahmen und wie wir sie zurückholen." von Norberg Häring.

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

+++ Dieser Beitrag erschien zuerst am 14. Mai 2022 bei Rubikon - Magazin für die kritische Masse.

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Bildquelle: Yuganov Konstantin / shutterstock


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