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Entkommt Russland dem US/EU/NATO-Amboss?

Entkommt Russland dem US/EU/NATO-Amboss?


Aus aktuellem Anlass eine Ergänzung zum heutigen Standpunkt "Transatlantiker und Finanz-Militärisch-Industrieller Komplex am Ziel?"

Von Wolfgang Effenberger.

Nach dem G7-Treffen, welches am Rand der Münchner Sicherheitskonferenz organisiert wurde, richtete die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock einen eindringlichen Appell an Russland und warnte Putin vor einem Angriff auf die Ukraine.

"Eine erneute Verletzung der Souveränität der Ukraine hätte für Russland sehr schnell massivste Auswirkungen - wirtschaftlich, finanziell und politisch - strategisch und auch individuell für all diejenigen, die persönlich Verantwortung für diese Krise tragen."(1)

Flankierende Unterstützung bekam Baerbock von der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen: "Wenn Wladimir Putin einen Krieg beginnt, werden wir mit dem mächtigsten Hebel antworten, den wir haben: Wirtschafts- und Finanzsanktionen, denn die Wirtschaft ist die Schwachstelle Russlands". Das könnte den Ausschluss Russlands aus dem internationalen Banken-Kommunikationsnetzwerk (Swift) bedeuten. Damit wäre Russland praktisch von den internationalen Finanzmärkten abgeschnitten. (2) Bei dem Konflikt, der auf dem Rücken der Ukraine ausgetragen wird, geht es vor allem um die wirtschaftliche Zerstörung Russlands. Die Ausschaltung von Nordstream 2 ist dabei nur ein Teilziel.

Seit Mitte Dezember 2021 liegen die russischen Forderungen nach Sicherheitsgarantien durch die USA und die NATO auf dem Tisch. Seither reißen die auf allen Ebenen geführten und für Russland erfolglosen Gespräche nicht ab. Putin wird in der Sache hingehalten und weiteren verbalen Angriffen und Diffamierungen ausgesetzt.

Paul Craig Roberts, amerikanischer Ökonom und Publizist sowie ehemaliger hochrangiger US-Politiker, fragt sich, ob Putin und Lawrow jemals begreifen werden, „dass es überhaupt keine Möglichkeit gibt, mit Washington erfolgreich über Russlands Sicherheitsbelange zu verhandeln.“(3)

Für Roberts liegen die Gründe auf der Hand. Zum einen braucht der militärische und sicherheitspolitische Komplex der USA, der über ein jährliches Budget von 1.000 Milliarden Dollar verfügt, einen Feind, um diese Ausgaben zu rechtfertigen.

Einen weiteren Grund sieht Roberts in dem Einfluss der unter zionistischen Neokonservativen stehenden US-Außenpolitik, die Russland aus historischen Gründen hassen. Als Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 das Ende der „unipolaren Welt“ der USA verkündete, hatte er sich endgültig zum Feind der Neokonservativen gemacht. Sie hatten unter dem Verteidigungspolitiker Paul Wolfowitz eine nach ihm benannte Doktrin entworfen, die zur Sicherung des US-Unilateralismus präventive Militäraktionen befürwortete, um jede zukünftige potenzielle Bedrohung der US-Hegemonie im Voraus zu unterdrücken.(4) Auch der Sturz der demokratisch gewählten Regierung der Ukraine und die Installation eines Washington unterstehenden neonazistischen Regimes geht auf das Konto der Neokonservativen.

Doch der Versuch, den russischen Marinestützpunkt im Schwarzen Meer auf der Krim zu übernehmen, scheiterte, als die Bevölkerung dort mit überwältigender Mehrheit für den Anschluss an Russland stimmte. Die Russen im Donbass wären diesem Beispiel gern gefolgt, doch Putin ließ es nicht zu. So ist seit 2014 das Donbass-Gebiet ein Unruheherd, in dem die dort lebenden Menschen sterben und leiden. Für die Brandstifter ist so ein Unruheherd jedoch bestens dazu geeignet, den Konflikt weiter anzuheizen.

Am 21.2.2022 um 20:38 lief die Eilmeldung in der Tagesschau, dass Putin in einer TV-Ansprache die Unabhängigkeit der Separatisten-Republiken in der Ostukraine durch sein Land angekündigt und ein entsprechendes Dekret unterzeichnet hat. Das russische Parlament werde er um Zustimmung bitten.(5)

Damit könnte das jahrelange Leid der Menschen in den abtrünnigen Donbass-Gebieten vorbei sein, denn die ukrainischen Regierungstruppen können sie dann nicht mehr wie bisher angreifen, ohne einen großen Krieg und damit die Vernichtung der Ukraine zu riskieren.

Überheblich machte Baerbock deutlich, dass es bei Gesprächen mit Russland rote Linien gebe: "Die Grundlage unseres Zusammenlebens, das internationale Recht, unsere europäischen Verträge, die sind nicht verhandelbar"(6)

Wer bricht denn seit Jahren hier in Europa das internationale Recht? Der vom Westen in Kiew orchestrierte Putsch war ein Verstoß gegen das Völkerrecht, und der völkerrechtswidrige Angriffskrieg gegen Restjugoslawien ein Kriegsverbrechen. Wer erinnert sich heute noch daran, wie die „Westliche Wertegemeinschaft“ diesen Krieg herbeigelogen hat. Am 15. März 1999 verweigerten die Serben in Rambouillet nicht ihre Unterschrift unter den von der Balkan-Kontaktgruppe ausgearbeiteten Vertragsentwurf. Sie verweigerten lediglich ihre Unterschrift unter einen schnell angefügten und nicht verhandelbaren Anhang, in dessen Teil B Artikel 8 ultimativ gefordert wurde:

„Das NATO-Personal soll sich mitsamt seinen Fahrzeugen Schiffen Flugzeugen und Ausrüstung innerhalb der gesamten Bundesrepublik Jugoslawien inklusive ihres Luftraums und ihrer Territorialgewässer frei und ungehindert sowie ohne Zugangsbeschränkungen bewegen können.“ Obendrein sollte die NATO in allen rechtlichen Verfahren, ob zivil-, verwaltungs- oder strafrechtlich, Immunität genießen.

Der Anhang wurde von dem deutschen Außenminister Fischer dem Kabinett und dem Parlament (und damit auch der Öffentlichkeit) unterschlagen. Der damalige Finanzminister Lafontaine erfuhr davon erst viel später aus der Presse(7), ebenso wie die verteidigungspolitische Sprecherin der Grünen, Angelika Beer, die dann äußerte: „Hätte ich das gewusst, hätte ich dem Kriegseinsatz nicht zugestimmt.“ Leider sind die Grünen bis heute weder bereit noch fähig, ihre damalige aktive Unterstützung eines völkerrechtswidrigen Angriffskriegs aufzuarbeiten.

Rudolf Augstein urteilte damals: „Die USA hatten in Rambouillet militärische Bedingungen gestellt, die kein Serbe mit Schulbildung hätte unterschreiben können.“(8)

In ähnlich kriegshektischen Tagen, wie sie jetzt während der Münchner Sicherheitskonferenz zu erleben waren, verabschiedete der US-Kongress am 19. März 1999 das »Seidenstraßen-Strategie-Gesetz«, in dem Amerika seine Interessen vom Mittelmeer bis nach Zentralasien unterstreicht. Der ehemalige deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher schrieb im Vorwort zu Brzezinskis Buch »Die einzige Weltmacht«: „Will Amerika auch künftig seine Weltmachtstellung behalten, so muß es seine ganze Aufmerksamkeit diesem Gebiet [»Eurasien«] zuwenden. Hier leben 74 Prozent der Weltbevölkerung, hier liegt der größte Teil der natürlichen Weltressourcen einschließlich der Energievorräte, und hier werden 60 Prozent des Weltbruttosozialproduktes erwirtschaftet. Im Raum von Lissabon bis Wladiwostok entscheidet sich deshalb das künftige Schicksal Amerikas.“(9)

Fünf Tage später eröffnete die NATO mit ihren Luftangriffen den Krieg gegen »Rest-Jugoslawien«. Die Vorbereitungen dafür liefen bereits seit Sommer 1998 auf Hochtouren, obwohl zu diesem Zeitpunkt die Lage dort noch stabil war.

Ungeachtet der täglichen Luftschläge in Restjugoslawien trafen sich die NATO-Mitglieder am 23. April in Washington zur Feier des 50. Gründungsjubiläums des westlichen „Verteidigungsbündnisses“. Für die zu erweiternde NATO und die kommenden Aufgaben im 21. Jahrhundert stellte US-Präsident Clinton das neue strategische Konzept vor: Weg vom reinen Verteidigungsbündnis und hin zum Krisenmanagement im euro-atlantischen Raum, wobei die NATO zukünftig »im begrenzten Rahmen« ohne UN-Mandat tätig werden könne. Unmissverständlich stellte Altkanzler Helmut Schmidt am Ende der ersten Kriegswoche fest: »Gegängelt von den USA, haben wir das internationale Recht und die Charta der Vereinten Nationen missachtet«,(10) und der US-Politologe und Kriegsforscher Professor Daniel Kolko schrieb nach dem Jugoslawienkrieg im Berliner Tagesspiegel: „Für die USA ging es darum, militärische Macht zu demonstrieren und ihre Vormachtstellung in der NATO auszubauen.“(11) Der mit einer Lüge erzwungene Krieg ersetzte das Völkerrecht durch das »Recht der Mächtigen«.

Der ehemalige stellvertretende NATO-Oberbefehlshaber General a.D. Gerd Schmückle brachte die neuen Interventionsziele der NATO auf den Punkt: “Letzten Endes entscheiden die Interessen der Vereinigten Staaten darüber, wo interveniert wird. Alles dreht sich um die Ökonomie. Wo gibt es Öl, wo sind die zukünftigen Ölquellen?“(12)

Die UN-Resolution 1244 vom 10. Juni 1999 bildete die völkerrechtliche Grundlage für die Einrichtung der Übergangsverwaltungsmission. Darin wurde die territoriale Zugehörigkeit des Kosovo zu Serbien festgeschrieben. Ungeachtet dessen trieb der Westen die Unabhängigkeit des Kosovo voran und brachte am 17. April 2009 vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag seine Argumente vor. Noch bevor die fünfzehn Richter in Den Haag den Antrag auf Unabhängigkeit prüfen konnten, unterstrich US-Vizepräsident Biden bei einem Besuch im Kosovo im Mai 2009 die Unabhängigkeit des Landes als unumkehrbar. Eine deutlichere Missachtung eines höchsten Gerichts ist kaum denkbar.(13)

Hinter den üblichen Floskeln von Freiheit und Demokratie standen wieder einmal handfeste wirtschaftliche und geopolitische Interessen. Diese wurden Ende April 2000 bei einer Konferenz des US-Außenministeriums zu den Themen Balkan und NATO-Osterweiterung in Bratislava unverblümt erläutert.

In seiner Funktion als Vizepräsident der OSZE-Versammlung war auch der CDU-Bundestagsabgeordnete Willy Wimmer geladen, der so alarmiert war, dass er sofort nach der Konferenz den amtierenden SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder in einem Brief(14) über die wahren Hintergründe des Jugoslawienkrieges und die künftigen geostrategischen Absichten der USA informierte – ein äußerst ungewöhnlicher Vorgang. Unter Pkt. 7 und Pkt. 8 heißt es da über die auf einer hochrangig besetzten Konferenz vermittelten strategischen Absichten der USA:

„Es gelte, bei der jetzt anstehenden NATO-Erweiterung die räumliche Situation zwischen der Ostsee und Anatolien so wieder herzustellen, wie es in der Hochzeit der römischen Ausdehnung gewesen sei. Dazu müsse Polen nach Norden und Süden mit demokratischen Staaten als Nachbarn umgeben werden, Rumänien und Bulgarien die Landesverbindung zur Türkei sicherstellen, Serbien (wohl zwecks Sicherstellung einer US-Militärpräsenz) auf Dauer aus der europäischen Entwicklung ausgeklammert werden.“(15)

Dieser Plan wird seitdem konsequent umgesetzt. So wird in der Gemeinsamen Erklärung der USA und Deutschlands zur Unterstützung der Ukraine vom 21. Juli 2021 nachdrücklich die Unterstützung der Drei-Meere-Initiative (Ostsee–Schwarzes Meer-Adria) und ihrer Bemühungen zur Stärkung der Konnektivität von Infrastrukturen und der Energiesicherheit in Mittel- und Osteuropa zum Ausdruck gebracht.(16)

Nach Christopher Clark hat die NATO im Frühjahr 1999 die Serben viel stärker unter Druck gesetzt als Österreich-Ungarn im Juli 1914. Er fragt: „Lag das vor allem daran, dass Russland als Großmacht aus dem Spiel war?“(17) Die Kriege und Bürgerkriege der Gegenwart (Irak, Libyen, Syrien, Ukraine, Ägypten usw.) zeigen, dass die Blutspur der Strategen des Ersten Weltkriegs bis in die heutige Zeit reicht und so lange nicht versiegen wird, bis die Triebkräfte, die Europa in den Ersten Weltkrieg geführt haben, aufgedeckt sind und die bis heute nicht beigelegten Konflikte in eine nachhaltige Friedenslösung münden.

In der Fraktionsklausur der SPD Ende Januar 2022 äußerte sich SPD-Co-Chef Lars Klingbeil der Tagesschau gegenüber sehr eindeutig zum Ukraine-Konflikt: "Die Eskalation geht von Russland aus"(18) Dieses Statement gilt nicht nur für die SPD, sondern für die gesamte Regierung. Wie kann Annalena Baerbock unter diesen Vorzeichen Putin zu ernsthaften Verhandlungen auffordern?(19) Die Führungsriege dieser Republik scheint gefährliche Defizite im Geschichtswissen zu haben bzw. sich der Defizite gar nicht bewusst zu sein.

Ist es nur Dummheit und Arroganz oder erliegen die unbedarften Politiker ganz einfach den Sirenengesängen ihrer transatlantischen Einflüsterer?

Quellen und Anmerkungen:

1) https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-02/russland-wladimir-putin-annalena-baerbock-ostukraine?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com 2) https://www.tagesschau.de/ausland/vonderleyen-russland-sanktionen-101.html 3) https://uncutnews.ch/die-nato-ist-kein-verteidigungsbuendnis-mehr-sondern-ein-instrument-der-aggression/ 4) Die Wolfowitz-Doktrin ist ein inoffizieller Name für die ursprüngliche Version der Defence Planning Guidance für die Geschäftsjahre 1994–99 5) https://www.tagesschau.de/eilmeldung/eilmeldung-6231.html 6) https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-02/russland-wladimir-putin-annalena-baerbock-ostukraine?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com 7) Lafontaine, Oskar: Das Herz schlägt links, München 1999, S. 243 8) Ebd. 9) Brzezinski, Zbigniew: Die einzige Weltmacht Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Frankfurt a.M. 2001, S. 10f. 10) Schmidt, Helmut, Frankfurter Rundschau, 3./4. April 1999 11) Kolko, Daniel: Tagesspiegel, 8. Mai 1999 12) Die Woche vom 1.4.1999 13) Wolfgang Effenberger: Schwarzbuch EU & NATO Warum die Welt keinen Frieden findet, Höhr-Grenzhausen 2020, S. 308 14) Präsident Bill Clinton vor der US-Gewerkschaft American Federation of State, County and Municipal Employes (AFSCME): “Remarks to AFSCME Biennial Conventions, Washington, D.C. 23. März 1999. 15) Abdruck in Effenberger, Wolfgang/Wimmer, Willy: Wiederkehr der Hasardeure – Schattenstrategen, Kriegstreiber, stille Profiteure 1914 und heute, Höhr-Grenzhausen 2014, S. 547; siehe auch Willy Wimmer: Die Akte Moskau, Höhr-Grenzhausen 2016. 16) https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/gemeinsame-erklaerung-usa-und-deutschland/2472074 17) Kilb, Andreas: „Alle diese Staaten waren Bösewichte“, 29. September 2013, Kilb im Gespräch mit Christopher Clark in „Aktuell Feulleton“ der FAZ. 18) https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/spd-klingbeil-russland-103.html 19) https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-02/russland-wladimir-putin-annalena-baerbock-ostukraine?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

+++ Bildquelle: Angel Soler Gollonet / shutterstock


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