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Feldexperimente in einer Zeit des Umbruchs | Von Norbert Häring

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Tagesdosis 26112024
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Thüringen, Sachsen. Brandenburg: Feldexperimente in einer Zeit des Umbruchs

Ein Kommentar von Norbert Häring.

Was sich politisch in Thüringen, Sachsen und Brandenburg anbahnt, ist in der Zusammenschau das, was in diesen radikalen Umbruchzeiten nötig ist: notgedrungen werden eingefahrene Gleise verlassen, neue Koalitionen und neue Verfahren nebeneinander ausprobiert. Der Vergleich der Ergebnisse der verschiedenen Regierungsvarianten und -methoden wird den Parteien und den Wählern zeigen, wie man sich zum Wohle der Bürger am besten zusammenrauft.

Mit radikalen Umbruchzeiten meine ich, dass sehr vieles nicht mehr so ist, wie es lange Zeit war, und dadurch Orientierung und Vorhersehbarkeit verloren gegangen ist. Links und rechts haben als politische Standortbestimmungen fast ausgedient, seit traditionell linke Parteien wie SPD, Linke und Grüne oder die Demokraten in den USA vor allem von den Besserverdienern gewählt werden und deren Interessen vertreten, während die Arbeiter und Geringverdiener traditionell als rechts eingestufte Parteien wie die AfD und die Republikaner wählen. Ob letztere die Interessen ihrer Wähler vertreten, steht auf einem anderen Blatt.

Das Parteiensystem ist im Fluss. Aus den Grünen als Partei der internationalen Verständigung und des Pazifismus ist die antirussische und antichinesische Abschreckungs- und Sanktionspartei geworden. Die Union hat unter dem Eindruck der Erfolge der AfD radikale Wendungen vollzogen, zum Beispiel in der Migrationspolitik. Die SPD, die noch darunter leidet, dass sie sich unter Gerhard Schröder als Abrissbirne des Sozialstaats hat missbrauchen lassen, sucht noch nach einer Überlebensstrategie. Die AfD hat sich von einer professoralen Anti-Euro-Partei in eine Partei verwandelt, die von einer widersprüchlichen Mischung aus sozial und wirtschaftlich Benachteiligten, Freiheitsliebenden, Neoliberalen und Rechtsaußen gewählt wird.

Die Gesellschaft ist tief gespalten, entlang von Bruchlinien, die nur sehr teilweise eingespielten parteipolitischen Sortierungen entsprechen. Intoleranz und Sprachlosigkeit grassieren. Nur noch rund die Hälfte der Bevölkerung glaubt, dass man seine Meinung frei sagen kann. Das Vertrauen in die gesellschaftlichen Institutionen und das Funktionieren der Demokratie hat stark gelitten. Hinzu kommen Kriegsgefahr und der wirtschaftliche Umbruch und Abbruch durch eine verunglückte Verkehrs- und Energiewende, Digitalisierung, künstliche Intelligenz und geopolitische Verwerfungen im Welthandel.

Wer sich zutraut, ein sicheres Urteil darüber zu fällen, welches Zusammenspiel grundlegender Kräfte hier am Werke ist und auch nur grob vorherzusagen, in welche Richtung diese die Welt, Europa und Deutschland treiben werden, überschätzt sich wahrscheinlich maßlos. Entsprechend große Unsicherheit herrscht bei der Wahl der Gegenstrategien und der Identifikation der Gegenspieler und Alliierten. Sicher: Wir müssen mit Hypothesen hierüber arbeiten, aber wir sollten sie mit Vorsicht genießen und stets bereit sein, sie anzupassen oder zu verwerfen. Deshalb sind Feldexperimente, in denen man unterschiedliche Strategien vergleichen kann, in solchen Zeiten wertvoll.

Wer in diesen Zeiten politisch aktiv sein will, muss sich auf sehr grundlegende Prinzipien als Orientierungsmarken verlassen. Meine ist die Überzeugung, dass die Menschen selbst bestimmen können sollen, wie sie leben und zusammenleben. Ich stelle mir das aufgrund meines Menschenbildes als solidarisches Miteinander vor, aber daran hängt meine Grundüberzeugung nicht. Aus dieser Grundüberzeugung erwachsen Machtkritik und als Gegenstück Mitgefühl und Interessenvertretung für Machtlose und Benachteiligte, worunter ich auch eine antimilitaristische Position verstehe, denn unter dem Krieg leiden die Machtlosen immer am meisten, während ihn die Mächtigsten betreiben. Beim BSW erkenne ich diese Grundprinzipien am ehesten im Parteiprogramm wieder und erwarte mir am ehesten eine Parteiarbeit im Sinne dieser Prinzipien, weshalb ich dort Mitglied geworden bin. Gerade in diesen Umbruchzeiten lassen sich diese Prinzipien aber auch durch Engagement in anderen Parteien befördern.

Drei Länder, drei Bündnisse

Die neue Partei BSW wird – wie zum Beweis, dass links und rechts an Aussagekraft verloren haben – gern als gesellschaftspolitisch konservativ und wirtschaftspolitisch links eingestuft. Vielen Unzufriedenen diente und dient sie als Projektionsfläche für die eigenen Vorstellungen von besserer Politik, sowohl den Wählern, als auch den Mitgliedern und Funktionsträgern. So ist es nicht allzu erstaunlich, dass in den drei Bundesländern, in denen seit BSW-Gründung gewählt wurde, drei ziemlich unterschiedliche Ausprägungen der gleichen Partei in die Landesparlamente eingezogen sind und bei der Regierungsbildung mitmischen oder sich verweigert haben.

Was sich in Thüringen anbahnt, stimmt, für sich genommen, nicht gerade optimistisch. Hier haben sich die Verhandlungsführer von CDU, BSW und SPD nach langem, zähen Ringen auf einen Koalitionsvertrag geeinigt. Ich hatte seinen Vorläufer, das Konsultationspapier, hier relativ scharf kritisiert, weil die Sprache sehr technokratisch statt bürgernah war und inhaltlich kaum Eingebrachtes des BSW zu erkennen war.

Der Koalitionsvertrag ist etwas besser, lässt aber noch viel zu wünschen. Es wurden zwar weiche friedenspolitische Positionen eingefügt, aber an die Ankündigung von Sahra Wagenknecht, man werde nur mit Parteien koalieren, die Waffenlieferungen in die Ukraine und die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Deutschland klar ablehnen, sieht sich die Thüringer BSW-Vorsitzende Katja Wolf erkennbar nicht gebunden. Was dazu im Koalitionsvertrag steht, geht kaum über die Forderung einer gesellschaftlichen Diskussion zu diesen Themen hinaus.

Abgerungen hat das BSW den Koalitionspartnern die Festlegung, noch offene Bußgeldverfahren aus der Corona-Zeit nicht weiter zu verfolgen und ein Amnestiegesetz zu prüfen. Der Verfassungsschutz soll streng kontrolliert werden, damit er nicht als politisches Machtinstrument missbraucht wird, ein Fortschritt, bei dessen Wert es stark auf die Umsetzung ankommt. Die Liste dessen, was fehlt, und dessen, was man lieber nicht im Handlungsprogramm einer Regierung mit BSW-Beteiligung lesen würde, wäre länger als die Liste des Erreichten.

In Sachsen dagegen war das BSW deutlich prinzipientreuer und weit weniger kompromissbereit, mit dem Ergebnis, dass es nicht zu einer Koalitionsvereinbarung kam. Hier haben die BSW-Abgeordneten bereits mit der AfD für einen Corona-Untersuchungsausschuss und für einen AfD-Antrag auf Ablehnung der Stationierung von US-Mittelstreckenraketen gestimmt. In beiden Fällen spielte das allerdings für das Ergebnis keine Rolle. Denn die AfD hat allein genug Stimmen für die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses und beide zusammen haben nicht genug Mandate für eine Mehrheit. Das BSW wird in Sachsen relativ großen Freiraum haben, mal mit der geplanten Minderheitsregierung aus CDU und SPD zu stimmen, mal mit der AfD, um zu versuchen, den eigenen Positionen zur Durchsetzung zu verhelfen.

In Brandenburg sieht es so aus, als würden sich SPD und BSW auf eine Koalitionsregierung verständigen. Hier trafen offenbar härtere Verhandler des BSW auf eine kompromissbereitere SPD, sodass im Sondierungspapier die Handschrift des BSW deutlicher erkennbar war als in Thüringen. Das wird sich wohl auch in der Koalitionsvereinbarung widerspiegeln.

Kooperation wird Pflicht

Die Brandmauern nach links und nach rechts, mit denen sich die Altparteien eingemauert haben, haben in den drei Bundesländern einen Zwang hervorgebracht, miteinander über die politischen Lager hinweg zu reden, auch wenn man manche Positionen des jeweils anderen nicht ausstehen kann.

Notgedrungen wollen die Minderheitsregierungen in Thüringen und Sachsen neue Formen der Mehrheitsbeschaffung für Gesetzespläne zum Einsatz bringen. In Sachsen will die Koalition aus CDU und SPD eine neue Form der Kooperation erproben. Alle Landtagsabgeordneten sollen in einem „Konsultationsverfahren“ über geplante Gesetzesprojekte der Regierung informiert werden. Deren Änderungsvorschläge sollen eingearbeitet werden, damit ihnen die Zustimmung erleichtert wird. Die Koalition braucht die Stimmen des BSW oder von Grünen und Linken für eine Mehrheit, oder – theoretisch – die der AfD.

Was sich eigentlich gut anhört, hat jedoch den unappetitlichen Hintergrund, dass man vor der Abstimmung jeweils schon wissen will, ob man auch ohne die Unterstützung der AfD-Abgeordneten, immerhin ein Drittel des Landtags, genügend Stimmen zusammenbekommt. Wenn nicht, will man auf die Vorlage verzichten. Funktionieren wird das absehbar nicht. Ob das schon eingeplant ist, um die unselige Brandmauer einstürzen zu lassen? Immer wenn ungeplant etwas schief geht, und die Stimmen nicht wie gedacht reichen, kann die AfD die fehlenden Stimmen liefern. Was dann?

In Thüringen, wo CDU, BSW und SPD darauf angewiesen sind, dass sich mindestens ein Abgeordneter der Opposition der Stimme enthält, ist ein ähnliches Verfahren geplant. Auch hier soll es die AfD nicht einbinden, sondern ausschließen helfen. Der Unterschied liegt darin, dass die BSW-Vertreter hier beim Ausschließen mitmachen, während sie in Sachsen sachorientiert vorgehen und für die Anträge, Pläne und Positionen stimmen, die der eigenen Programmatik entsprechen, auch wenn das bedeutet, mit der AfD zu stimmen. Die BSW-Abgeordneten in Thüringen werden dadurch absehbar immer wieder in die Klemme kommen, dass sie Positionen überstimmen helfen müssen, die der eigenen Programmatik und dem Willen der eigenen Wähler besser entsprechen als das, was sie zusammen mit CDU und SPD beschließen.

Es ist im Vorhinein schwer zu prognostizieren, ob das BSW in Sachsen als möglicher Mehrheitsbeschaffer und als Stimme der Opposition mehr im Sinne der BSW-Programmatik erreichen kann als in Thüringen. Ich vermute es stark, aber erst im Rückblick wird man es wissen. Ziemlich sicher bin ich mir aber in der Prognose, dass das BSW in Thüringen eher zur Radikalisierung und zum weiteren Erstarken der AfD beitragen wird, während das BSW in Sachsen eher gemäßigten Kräften und Positionen innerhalb der AfD Auftrieb verleihen wird.

In Brandenburg wird eine Regierung aus SPD und BSW dank ihrer Mehrheit im Landtag eine Kooperation mit der Opposition nicht nötig haben. Aber es wäre schön, wenn die Regierung es dennoch ebenso halten würde. Denn wenn man vorrangig die Lebensbedingungen der Bürger verbessern will, kann es nur helfen, auch die Perspektiven derer zu berücksichtigen, die sich von anderen als den Regierungsparteien besser vertreten fühlen. So oder so ist es aber hilfreich, dass in Brandenburg die SPD mit dem BSW regieren will, während sie sich in Thüringen und Sachsen besonders schwer damit getan hat, sich auf BSW-Positionen einzulassen. Hier wird sich zeigen, ob diese beiden Parteien zusammen etwas Vernünftiges zustande bringen können.

Resümee

In den drei ostdeutschen Bundesländern, in die das BSW auf Anhieb mit zweistelligen Ergebnissen eingezogen ist, haben deren Vertreter sich sehr unterschiedlich verhalten und sehr unterschiedliche Konstellationen hervorgebracht. Das liegt zum Teil an der Ausgangslage in den Ländern, an den Verhandlungspartnern und vor allem auch an der Einstellung der BSW-Vertreter.

Thüringen blickt auf eine lange, lähmende Zeit mit einer Minderheitsregierung zurück. Diese Zeit durch Verweigerung zu verlängern, bringt einem bei den Wählern nicht unbedingt Punkte. Thüringen hat auch die am weitesten rechts stehende AfD mit dem anrüchigsten Führungspersonal, mit dem die Zusammenarbeit besonders schwer fällt. Und die BSW-Spitze dort sieht ihre wichtigste Aufgabe vor allem darin, eine AfD-Regierung zu verhindern und erst danach die Wahlversprechen und Positionen des BSW durchzusetzen.

In Sachsen sieht man das gelassener und vertraut darauf, dass eine AfD, die wie eine normale Partei behandelt wird, auch vom Wähler wie eine normale Partei behandelt wird und nicht als eine, die man gerne mal wählt, nur um den Etablierten eins auszuwischen.

In Brandenburg, wo das BSW es nur mit einem Verhandlungspartner zu tun hat und die Spitzenleute härter verhandelt haben, stehen die Chancen gut, mehr von den BSW-Wahlversprechen und -Positionen in der Regierung umzusetzen als in Thüringen, auch wenn viele dennoch der Meinung sein werden, es sei nicht genug und man wäre besser in die Opposition gegangen.

Das Schöne ist: man wird in nicht allzu ferner Zukunft durch Vergleich sehen können, wo mehr erreicht wurde. Falls das BSW in Thüringen vergleichsweise wenig erreichen sollte und die AfD dort noch stärker wird, wissen die Parteien und die Wähler, dass die dort verfolgte Strategie es nicht gebracht hat. Wenn es dem BSW und seinen Regierungspartnern dort jedoch – wider Erwarten – gelingen sollte, mit einer guten, bürgernahen und pragmatischen Regierungspolitik die Wähler zu überzeugen, wird das die AfD entweder zur Mäßigung anregen oder ihre Wahlerfolge begrenzen. Meine Prognose ist, dass das BSW in Brandenburg oder Sachsen erfolgreicher sein wird. Vor der vorgezogenen Bundestagswahl wird man leider noch keine Ergebnisse sehen, sondern in Thüringen und Brandenburg nur die Geburtswehen von Koalitionsregierungen. Das wird Stimmen kosten. Aber längerfristig stehen die Chancen gut, dass sich die unterschiedlichen Herangehensweisen in den drei Ländern als Glücksfall für das BSW und für eine nach Orientierung suchende Wählerschaft erweisen werden.

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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Dieser Beitrag erschien zuerst am 24. November 2024 bei norberthaering.de

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Bildquelle: Karsten Leineke / shutterstock


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