Ein Standpunkt von Bernd Murawski.
Der NATO-Beitritt Finnlands ist so gut wie beschlossen. Die plötzliche Kehrtwendung des Landes, das lange Zeit stolz auf seine Neutralitätspolitik war, ruft Erstaunen hervor. Die Beweggründe sind nicht ohne einen Blick auf die Geschichte zu verstehen.
Dass Finnland in den siebziger und achtziger Jahren zu den wohlhabendsten europäischen Staaten aufschließen konnte, ist zu einem großen Teil dem Osthandel zu verdanken. Zum einen erhielten dessen Unternehmen Energie- und andere Rohstoffe weitaus billiger als die westliche Konkurrenz. Zum anderen konnten sie in der Sowjetunion große Mengen von Waren absetzen, für die sie auf westlichen Märkten nur schwer und mit erheblichen Gewinneinbußen Käufer gefunden hätten. Schließlich profitierte das Land von seiner Rolle als Drehscheibe zwischen Ost und West, die zahlreiche Handelsunternehmen nach Helsinki lockte.
Grundlage für den wirtschaftlichen Aufstieg Finnlands war seine strikte Neutralität bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung guter Beziehungen zum Kreml, die im 1948 geschlossenen Freundschafts- und Kooperationsabkommen besiegelt wurden. Die sowjetische Seite zeigte sich entgegenkommend und gab 1956 den Stützpunkt Porkkala an der finnischen Südküste zurück - 38 Jahre vor Ablauf des Pachtvertrags. Für den Kreml galt die Beziehung zu Finnland fortan als Modell der friedlichen Koexistenz, was man sich etwas kosten ließ. Die Sowjetunion profitierte selbst davon, indem sie ihre Nordwestflanke einschließlich Leningrad nicht militärisch sichern musste. Überdies war Helsinki ein wichtiger Umschlagplatz zur Beschaffung westlicher Technologie.
Von der Neutralitätspolitik zur Westintegration
Die Abkühlung der finnischen Beziehungen zur Sowjetunion begann kurioserweise zu einem Zeitpunkt, als diese sich politisch dem Westen öffnete. Zuvor hatte sich Finnland im Brennpunkt des europäischen Entspannungsprozesses befunden, der Mitte der sechziger Jahre begann und 1975 in der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa gipfelte. Dass Helsinki als Tagungsort ausgewählt wurde, war für die finnische Regierung eine Bestätigung der eigenen Außenpolitik während der vorangegangenen Jahrzehnte. Mit Genugtuung wurde konstatiert, dass der Finnlandisierung-Begriff aus dem politischen Vokabular verschwunden war.
Die zunehmende Distanz zur Sowjetunion und später zu Russland wurde durch den Einbruch des Handels eingeleitet, dem der Kollaps des kommunistischen Herrschaftssystems vorausging. Es erhielten jene politischen Kräfte ein Übergewicht, die einer engeren Kooperation mit dem östlichen Nachbarn ablehnend gegenüberstanden und eine stärkere Westbindung anstrebten. Sie votierten für eine baldige Mitgliedschaft in der EU und nahmen in Kauf, dass Finnland seine weitgehende Unabhängigkeit einbüßte. Eine Chance für deren Erhalt hätte der sich bald wiederbelebende Osthandel geboten. Das Land wäre in einer vergleichbaren Lage wie Norwegen mit seinem Ölreichtum, Island mit seinen Fischereigründen und die Schweiz mit ihrem Bankensystem.
Die Westorientierung hat sich Anfang der neunziger Jahre unter Ministerpräsident Esko Aho beschleunigt. An der Regierungskoalition waren zum ersten Mal seit zweieinhalb Jahrzehnten nur Parteien des bürgerlichen Flügels beteiligt. Die durch die Bankenkrise verursachte Abwertung der Finnmark und der kometenhafte Aufstieg des Handyproduzenten Nokia forcierten den Handel mit den Staaten des Westens, was zu einer wachsenden Verflechtung mit dessen Volkswirtschaften führte. Schließlich votierten auch Sozialdemokraten und Linkspartei für einen EU-Beitritt, der im Jahr 1995 erfolgte.
Tatsächlich begriff sich Finnland seit seiner Gründung im Jahr 1917 als Teil des Westens. Die Rücksichtnahme auf sowjetische Wünsche und Interessen erschien aus Gründen guter Nachbarschaft und angesichts des Neutralitätsanspruchs opportun, beschränkte sich jedoch weitgehend auf öffentliche Stellungnahmen der verantwortlichen Politiker. Zur gleichen Zeit wurde die Sowjetunion und später Russland durch Medien, Think-Tanks und untergeordnete politische Akteure attackiert wie anderswo im Westen. Allein Stil und Wortwahl waren bis Ende der achtziger Jahre verhaltener. Damals gerieten ebenso finnische Staatslenker ins Kreuzfeuer der Kritik, indem ihnen Unterwürfigkeit im Umgang mit Vertretern des Warschauer Paktes vorgeworfen wurde.
Stimmungsmache gegen den östlichen Nachbarn trifft heute wie früher kaum auf Widerstand, da die meisten Finnen ihre bereits vorhandene Sichtweise bestätigt sehen.
Gleichwohl schätzten sie die Neutralitätspolitik ihres Landes, die zu Zeiten der Entspannung und des großen Gewichts der blockfreien Staaten als Friedenseinsatz begriffen wurde. Ein Beitritt zur NATO galt bis dato als ausgeschlossen. Wenn in den neunziger Jahren Bedenken gegen eine EU-Mitgliedschaft vorgebracht wurden, dann betrafen sie vor allem die Sorge um einen Beeinträchtigung des neutralen Status.
Seitdem Finnland der EU angehört, hat die Identifikation mit dem Westen stark zugenommen. Als Grundlage gelten nach allgemeinem Verständnis die Gemeinsamkeit der Werte und der Gesellschaftssysteme. Dennoch ist die vollständige Aufgabe der Neutralitätsorientierung in Reaktion auf den russischen Einmarsch in die Ukraine ein markanter Schritt, der sich zudem im Rekordtempo vollzog. Votierte noch im Januar dieses Jahres eine Minderheit der finnischen Bürger für einen NATO-Beitritt, so ist der Anteil in den darauffolgenden Monaten permanent angestiegen. Im März lag er bei 62 Prozent, und nach der jüngsten Umfrage sogar bei 76 Prozent.
Dieser Trend ist vor dem Hintergrund erstaunlich, dass es keinen ähnlich dramatischen Stimmungswandel in anderen Staaten Westeuropas mit neutraler Tradition gibt. In der Schweiz wird kritisiert, dass die Beteiligung an den Sanktionen gegen Russland die traditionelle Neutralität des Landes untergräbt. In Österreich lehnen die Bürger einen NATO-Beitritt weiterhin ab, sogar mit einem Anteil von 75 Prozent. Ebenso ist die Position Schwedens deutlich verhaltener. Für die Bereitschaft Finnlands, die militärische Neutralität zugunsten einer NATO-Mitgliedschaft aufzugeben, gibt es offenbar besondere Gründe. Offiziell wird die Furcht vor einer russischen Aggression als Motiv angegeben, jedoch ist dies nur ein Teil der Wahrheit.
Historische Belastungen der russisch-finnischen Beziehungen
Die Beziehungen Finnlands zu Russland sind wesentlich durch die Größenrelation der Länder bestimmt. Sie sind vergleichbar mit der Art und Weise, wie Mexikaner und Vietnamesen auf ihre nördlichen Nachbarn blicken. Ebenso wie diese Völker sehen die Finnen ihre kulturelle, sprachliche und politisch-soziale Identität durch einen übermächtigen Hegemon jenseits der Grenze potenziell bedroht.
Dennoch unterscheiden sich die finnischen Bürger von denen Mexikos und Vietnams durch ein hohes Maß an Überheblichkeit, die sich aus dem westlichen Glauben an die Einzigartigkeit der eigenen Zivilisation speist. Umso schmachvoller erschien es während der finnischen Neutralitätsphase, einen vermeintlich rückständigen Nachbarn hofieren zu müssen und nicht in den Chor westlicher Scharfmacher einstimmen zu können. Hinzu tritt ein Gefühl des Hasses, das auf den Winterkrieg 1939 zurückgeht, dessen Hintergründe nicht vollständig aufgearbeitet worden sind.
Die damalige „David gegen Goliath“-Konstellation findet aktuell ihr Pendant im Ukraine-Krieg. Wie für den Kreml aktuell die Einschätzung gilt, dass sich die USA der Ukraine bedienen, um Russland zu schwächen, fürchtete Josef Stalin die Unterstützung eines deutschen Angriffs durch Finnland. Dessen eigene Expansionsbestrebungen wurden evident, als während des russischen Bürgerkriegs Anfang der zwanziger Jahre bewaffnete Freischärler die Ostgrenze überschritten und das finnische Staatsgebiet bis ans Weiße Meer und den Onega-See vergrößern wollten. Sie waren zwar erfolglos, jedoch erhoben einflussreiche Kreise weiterhin Gebietsansprüche. Zugleich intensivierte Finnland seit Hitlers Machtergreifung die Beziehungen zu Deutschland. Enge Kontakte gab es seit dem finnischen Bürgerkrieg 1918 nach Erlangung der staatlichen Unabhängigkeit, als der Einsatz deutscher Jägerverbände einen bedeutenden Anteil am Sieg der „Weißen“ über die „Roten“ hatte.
Die sowjetische Führung war um die Sicherheit Leningrads besorgt und bot einen Gebietstausch an, bei dem Finnland ein doppelt so großes Territorium erhalten hätte. Der finnische Oberbefehlshaber Gustav Mannerheim riet, auf den russischen Vorschlag einzugehen, doch die Regierung lehnte Verhandlungen ab. Auch hier scheint sich die Geschichte derzeit in der Ukraine zu wiederholen. Als Wolodymyr Selenskyj bei seinem Videoauftritt im finnischen Parlament auf historische Parallelen hinwies, hätte er konstatieren können, aus der Fehleinschätzung der damaligen finnischen Führung nichts gelernt zu haben.
Wie berechtigt Stalins Befürchtungen waren, zeigte der militärische Überfall durch finnisch-deutsche Verbände zwei Jahre später. In dieser als „Fortsetzungskrieg“ titulierten Angriffsoperation erlitt Finnland deutlich höhere Verluste als im Winterkrieg. Noch größer war das Leid der russischen Zivilbevölkerung, an dem die finnische Seite eine erhebliche Mitschuld trug. Finnland unterstützte die Belagerung Leningrads, die schätzungsweise 1,1 Millionen Opfer forderte, indem es die Lieferung von Hilfsgütern behinderte, u.a. durch die Unterbrechung der Murmansk-Bahnlinie und Angriffe auf Transporte über den Ladoga-See. Während diese dunkle Seite der finnischen Geschichte in Schulbüchern kaum Beachtung findet, wird der eigene Einsatz im Winterkrieg heroisiert und die sowjetische Kriegspartei dämonisiert.
Die Kombination von Glauben an die eigene zivilisatorische Überlegenheit, erzwungenem Stillhalten und dem Gefühl ständiger Bedrohung durch den „Iwan“ bildet die Basis für einen Russland-Hass, der die historische Phase der Neutralität und der guten Nachbarschaft überdauerte.
Hinzu tritt ein Revanchedenken, das mit jenem der deutschen Vertriebenenverbände vergleichbar ist. Wie Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg verlor Finnland ein Gebiet mit acht Prozent der Gesamtbevölkerung, darunter die drittgrößte Stadt des Landes Viipuri. Die zuvor dort lebenden Karelier, die ein kulturelles Bindeglied zu Russland waren, mutierten in der Diaspora zum Vortrupp antirussischer Agitation.
Informationslücken und Naivität
Die russlandfeindliche Stimmung ist in Finnland allgegenwärtig. Kritik an der offiziellen Linie im Ukraine-Konflikt findet sich nur in Nischen der sozialen Medien. Da es - anders als in Deutschland - keine alternativen Sender, Printmedien und Internetportale in der Landessprache gibt, fehlt ein Korrektiv zur Berichterstattung des Mainstreams. Unbeschwert kann den wenigen NATO-kritischen Politikern wie dem ehemaligen Außenminister Erkki Tuomioja und führenden Vertretern der Linkspartei Appeasement und ein Verrat an finnischen Interessen vorgeworfen werden. Um überhaupt Gehör zu finden, sehen diese sich veranlasst, das Narrativ eines russischen Führers Wladimir Putin zu übernehmen, der von Größenwahn beseelt das Zarenreich wiederentstehen lassen möchte.
Durch die Fokussierung auf Putins vermeintliche Ambitionen und Gemütsverfassung werden Sicherheitsbedenken als eigentliche russische Motive für die Militäraktion in der Ukraine unterschlagen. Wenn auf sie überhaupt Bezug genommen wird, werden sie mit dem Etikett der Kreml-Propaganda versehen. Es kumulieren sich Informationslücken, die eine sachgemäße Analyse und einen Zugang zu den Ansichten der politischen Hauptakteure erschweren. Während der Neutralitätsphase konnten finnische Staatslenker damit glänzen, sich in die Lage ihres Gegenüber hineinzuversetzen und dessen Motive zu verstehen. Diese Fähigkeit ist offenbar abhanden gekommen.
Wenn finnischen Politikern und Medienvertretern gezielte Propaganda wider besseren Wissens unterstellt wird, dann wird die Realität nur begrenzt erfasst. Zwar werden aus internationalen Quellen solche Meldungen und Analysen ausgewählt, die ein möglichst schlechtes Licht auf Russland werfen. Dies scheint sogar systematisch zu geschehen. Dennoch werden damit keine eigenen politischen Interessen verfolgt. Vielmehr liegt die Überzeugung zugrunde, sich für eine gute und gerechte Sache einzusetzen.
Dahinter verbirgt sich eine gewisse Naivität, die aufgrund der Leugnung unbequemer Wahrheiten unerkannt bleibt. Das zunehmend aggressive Streben der USA nach Erhalt der globalen Dominanz wird ebenso wenig notiert wie das Auseinanderdriften der Wertvorstellungen. So wird nicht wahrgenommen, dass der in Finnland verbreitete Gemeinsinn und die damit einhergehende soziale Verantwortung vielerorts im Westen durch neoliberale Einflussnahme stark zurückgedrängt worden sind.
Angesichts der Unkenntnis US-amerikanischer Absichten und Ziele ist der Glaube verbreitet, dass Washington aus reinem Idealismus und uneigennützig das demokratische Finnland vor dem autokratischen Russland schützen möchte. Was die USA ihrerseits von Finnland erwarten könnten, wird nicht einmal erwogen. Daher ist verständlich, dass in der gesamten Scheindebatte über einen NATO-Beitritt der Schwerpunkt auf den Artikel fünf gelegt wird, wonach der Angriff auf einen Mitgliedsstaat als gegen das gesamte Verteidigungsbündnis gerichtet verstanden würde.
Sarkastisch könnte gesagt werden, dass eine NATO-Mitgliedschaft den finnischen Medien und Politikern die Möglichkeit eröffnen würde, das Russland-Bashing ohne Angst vor negativen Konsequenzen nochmals zu steigern. Doch auch hier offenbart sich Naivität. Es wird verkannt, dass der Artikel fünf seine Bedeutung verliert, wenn die USA nach einer Lagebeurteilung zu dem Schluss kommen, dass ein militärischer Einsatz zugunsten Finnlands gravierende Folgen für sie selbst hätte. Nach Ansicht von Militärexperten beruht gerade darauf die aktuelle Entscheidung des Pentagon, die NATO aus dem Ukraine-Konflikt herauszuhalten.
Russische Reaktionen auf einen finnischen NATO-Beitritt
Kurzfristig ist nicht zu erwarten, dass auf finnischem Boden Militärstützpunkte errichtet oder anderweitig NATO-Einheiten stationiert werden. Doch denkbar wären US-amerikanische Vorstöße etwa zum Aufbau von Radarstationen und von Stellungen, die für eine Cyber-Kriegsführung geeignet sind. Solche wären zweifelsohne Ziele eines russischen Erstschlags.
Nach einem Eintritt Finnlands in die NATO wären die wohl am stärksten gefährdeten Orte aus Moskauer Sicht Murmansk und St. Petersburg. Das Risiko würde sich dennoch nicht wesentlich erhöhen, da der Norden Norwegens und die baltischen Staaten geografisch gleich weit entfernt sind. Allerdings wurde in Russland nicht vergessen, dass Finnland sich schon einmal einem westlichen Aggressor angedient hat.
Der Kreml hat bereits angekündigt, dass eine NATO-Mitgliedschaft Finnlands und Schwedens eine Erhöhung der eigenen Militärpräsenz im Ostseeraum verlangt.
Bislang gibt es nur vage Äußerungen, wie die russische Antwort konkret aussehen könnte. Westliche Spekulationen, die sich auf eine Stellungnahme Dimitri Medwedews stützen, befürchten ein Vorgehen gegen die baltischen Länder und die Stationierung von Nuklearraketen im Kaliningrader Gebiet.
Nach der Befürwortung eines NATO-Beitritts durch den finnischen Präsidenten Sauli Niinistö erklärte der russische Regierungssprecher Dimitri Peskow, dass Moskau sich zu Schritten gezwungen sehe, um das militärische Gleichgewicht in der Region zu gewährleisten. Bedeutender als eine formelle Mitgliedschaft Finnlands sei die Gefahr, dass sich die NATO mit ihrer militärischen Infrastruktur der russischen Grenze nähert.
Als einzig positives Resultat aus russischer Sicht ließe sich ein wachsendes Gewicht der skandinavischen Staaten innerhalb der NATO interpretieren. Im günstigsten Fall könnte dies zu einer Beruhigung der Lage im Ostseeraum beitragen, wenn sich etwa die baltischen Staaten den Vorgaben aus Stockholm und Helsinki unterwerfen und letztere Entspannungswillen bekunden.
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Bildquelle: Vitalii Vodolazskyi / shutterstock
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