Die deutsche Aufarbeitung der Vergangenheit und der Kriegslust wurde als vorbildlich betrachtet — dieser Tage spürt man, dass sie nicht mehr als nur eine leere Rhetorikhülle war.Ein Standpunkt von Roberto J. De Lapuente.
Hinweis zum Beitrag: Der vorliegende Text erschien zuerst im „Rubikon – Magazin für die kritische Masse“, in dessen Beirat unter anderem Daniele Ganser und Hans-Joachim Maaz aktiv sind. Da die Veröffentlichung unter freier Lizenz (Creative Commons) erfolgte, übernimmt apolut diesen Text in der Zweitverwertung und weist explizit darauf hin, dass auch der Rubikon auf Spenden angewiesen ist und Unterstützung braucht. Wir brauchen viele alternative Medien!
Eine Weile lang hatte man in Deutschland den Eindruck, dass jeden Tag Erinnerungsprogramm lief. Täglich gab es den Nationalsozialismus im Fernsehen, Guido Knopp in Dauerschleife. Es gab „Hitlers Helfer“, „Hitlers Frauen“, und man wartete sehnsüchtig auf „Hitlers Gartenzwerge“. Unseren täglichen Hitler gaben sie uns heute — und morgen und zu allen Jahreszeiten. Offenbar redete man sich ein, dass das der Schlüssel zur Aufarbeitung sei. Zu einer Aufarbeitung, die uns Lehren ziehen lassen sollte: Nie wieder nämlich. Nie wieder Faschismus natürlich — aber auch: Nie wieder Krieg. Man hat uns so zugekleistert mit Knopp und sonntäglichen Erinnerungsreden, dass man irgendwann annahm, jetzt sei es endlich verinnerlicht: Für einen Krieg lassen sich diese berieselten Deutschen nie mehr erwärmen. Dass das ein Irrtum war, kann man heute in vielen entrückten Gesichtern sehen. Krieg geht immer noch. Knopp ist definitiv gescheitert.
Der letzte Überlebende von Oradour-sur-Glane Als dieser Tage der letzte Überlebende von Oradour-sur-Glane starb, einem französischen Dorf, in dem 1944 die SS blutige Rache wegen zuvor ergangener Partisanenangriffe verübte und fast alle Einwohner tötete, fiel mir ein, dass ich vor gar nicht allzu langer Zeit darüber geschrieben hatte: Als ich noch Kolumnist beim Neuen Deutschland war. Es zeigte sich, dass es durchaus schon eine Weile zurückliegt: 2013 leitete ich einen Text ein, der sich mit dem Besuch des damaligen Bundespräsidenten in Oradour-sur-Glane befasste. Damals war Joachim Gauck dort und traf sich mit Überlebenden, er schüttelte deren Hände und erklärte, dass so etwas sich nie wieder ereignen dürfe — und sich auch nicht mehr ereignen würde. Denn er sei der Botschafter eines anderen Deutschland. Bereits zwei Tage später forderte er Vergeltung für den vermeintlichen Giftgasangriff in Syrien. „Gestaltungsmöglichkeiten in Syrien“: So nannte er das seinerzeit genau. Gemeint war damit ein militärischer Schlag gegen Assad und damit gegen die syrische Zivilbevölkerung. Gaucks Präsidentschaft, so schrieb ich damals, sei eine des Muckertums. Der Mann sei flatterhaft und bigott — mit einem Schlagwort von heute: Ein Vertreter der Doppelmoral. Er ist ja auch heute noch präsent. Immer wenn er in Gesprächsrunden eingeladen wird, ruft er zum Waffengang gegen Russland auf. Es sei in Ordnung, wenn man jetzt friere und Lebensglück einbüße: Die Freiheit mache so einen Verzicht nötig. Das kommt immerhin von einem Mann, der als Präsident oft und eloquent von einem Deutschland gesprochen hat, das so anders sei als früher. Natürlich hatte er damals recht. Deutsche Schergen im Ledermantel überfallen heute keine Dörfer mehr. Aber dass deutsche Panzer in den Osten des Kontinents verfrachtet werden, um sich gegen Russland zu positionieren: Das wäre doch mal einer differenzierten Betrachtung wert. Man sollte fähig sein, sich in die Lage der Russen zu versetzen, die die Geschichte nicht vergessen haben. Ulrich Heyden hat mit einer Russin korrespondiert, sie erklärt, wie sich das aus russischer Perspektive anfühlt. Man muss nicht alle Ansichten der Dame teilen, aber man sollte verstehen: Denn erst Verständnis macht Verhandlungen möglich. Rituale suggerieren Verinnerlichung Natürlich, man sehe es mir nach, dass ich eines vergessen habe: Um Verhandlungen geht es ja gerade nicht. Denn wer verhandeln will, ist der Aggressor. Man betrachte nur mal, wie jetzt mit Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer umgesprungen wird. Ihr Vergehen: Sie wollen reden und nicht schießen. Im Grunde das, was jeder Bundespräsident seit Richard von Weizsäcker immer wieder sonntags predigte. Auf die Erinnerungskultur schien man hierzulande stolz zu sein: Sie galt als der Beweis, dass man aus der Geschichte doch lernen könne. Man müsse nur immer wieder daran erinnern. Die Macht der Aufklärung wirke genau auf diese Weise, denn Menschen seien schließlich vernunftbegabte Wesen, die aus dem reichhaltigen Fundus der Historie, so dieser denn aufbereitet und bewusst gemacht wird, schöpfen können. Gleichwohl hatte man oft den Eindruck, dass sich dieser Rückblick auf Deutschlands Vergangenheit ritualisiert hatte. Man spulte gleichlautende Parolen ab, betonte den Fortschritt der deutschen Lebensart und wiederholte dann abermals dieselben Sinnsprüche: Nie wieder Faschismus. Nie wieder Krieg. Überhaupt nie wieder irgendwas, was Gewalt verursache. Von deutschem Boden dürfe nie wieder Krieg ausgehen: Das vernahm man häufig, wenn Bundespräsidenten weihevoll vor Bürgern im Sonntagsstaat sprachen. Diese Bilder simulierten, dass alles ein glückliches Ende nehmen könne: Wenn man aus Fehlern lernt, wenn man die Lehren verinnerlicht. An dieser Verinnerlichung konnte man im Grunde stets zweifeln. Während wir uns einredeten, dass die Gesellschaft nie wieder in eine Situation gerät, in der sie abdriften könne, spalteten neoliberale Reformen die Menschen. Armut griff um sich, Reichtum wuchs pervers. Arbeitslose wurden als Schmarotzer tituliert, manche favorisierten Arbeitsdienste: Schon wieder! Dabei sollte es nie wieder so werden. Was dann während der letzten Seuchenjahre geschah, muss nicht nochmals wiederholt werden. Der Staat griff um sich, der Einzelne galt nichts mehr: Schon wieder — statt nie wieder! Die Leere der Geschichte Und nun der finale Sprung zurück. Direkt aus dem Land, das viele Jahrzehnte die eigene Geschichte aufarbeitete, wie man das nannte, ging es in eine Zeitenwende hinein, die mit der vermeintlichen Aufarbeitung brach. Plötzlich finden es die Deutschen, die ihre Geschichte kennen sollten, gar nicht mehr verwerflich, wenn deutsche Panzer in einen Krieg rollen — zumal in einen Krieg mit einem Land, das die Ahnen einst brutal überfielen. Man kooperiert mit Faschisten, holt ganz ungeniert Banderisten ins Land, wie etwa die Band Dakh Daughters, die beim Augsburger Brecht-Festival auftreten soll — die jungen Frauen bekennen sich zum ukrainischen Nazi Stepan Bandera, kokettieren mit Vernichtungsgedanken und bedienen sich der faschistischen Symbolik. Während man dem Friedensforscher Daniele Ganser die Tour vermasseln will, Antisemitismusvorwürfe konstruiert, um ihn nicht auftreten zu lassen, holt man Leute, die mit dem Faschismus hausieren gehen, ins Land und nennt das auch noch einen Akt der Solidarität. Was genau hat der Diskurs über Deutschlands Vergangenheit gebracht? Wieder und wieder hat man das nun durchgekaut, der letzte Trottel im Land sollte verstanden haben, dass es nie wieder Krieg geben sollte — jeder Tag der Verhandlung ist besser als eine Stunde Krieg. Das wäre die Lehre aus den geschichtlichen Abläufen: Reden ist nicht Silber. Es ist Gold. Man muss es wollen. Einfordern. In jedem Falle wieder und wieder versuchen. Denn nur wenn Menschen sprechen, gibt es Chancen auf eine Beilegung. Wenn Waffen sprechen, gibt es nur Beisetzungen. Am Ende muss man konstatieren, dass die Segnungen der Aufklärung offensichtlich gescheitert sind. Menschen mit ihrer Geschichte zu konfrontieren, ihnen immer wieder ins Gedächtnis zu rufen, wie grauenhaft die Umstände waren und wie viel es zu verlieren, wie wenig es hingegen zu gewinnen gibt, damit sie nie wieder auf falsche Wege geraten und politisch mündig sind, um Nein zu sagen: Es ist eine schöne Idee. Eine Theorie. Die Praxis zeigt, es gibt keine geschichtliche Lehre — aber viel historische Leere. In den Köpfen und Herzen. Geschichte wiederholt sich eben doch. Vielleicht als Farce, kann ja sein. Aber ein Krieg, der als Farce geführt wird, tötet und vernichtet dennoch unzählige Menschenleben. +++ Dank an den Autor und den Rubikon für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags. +++ Dieser Beitrag erschien zuerst am 22.02.2023 im Rubikon – Magazin für die kritische Masse. +++ Bildquelle: shutterstock / MilaCroft
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