Eine Relektüre Hannah Arendts aus Anlass der „Zeitenwende“-Proklamation durch die deutsche Politik.
Ein Meinungsbeitrag von Bernd Schoepe.
Teil 1: Zwischen Vergangenheit und Zukunft: Hannah Arendts politisches Denken revisited
Teil 2: Die Krise der Öffentlichkeit: Lüge und Wahrheit, Cancel Culture, der Informationskrieg und das Ende der Politik. Mit einem Exkurs zur autoritären Linken
Teil 3: Digital-dystopische Transformation der Demokratie: Von der „Herrschaft des Niemand“ in die transhumanistische Zombie-Apokalypse?
Wo stehen wir heute?
Auf die große Herausforderung, unsere verworrene Post-Corona-Zeit zu verstehen, gibt das Werk Hannah Arendts überraschend aktuelle Auskünfte.
Mit guten Gründen kann sich die Kritik einer „großen Transformation“ der Politik – und der dahinter sichtbar werdenden transhumanistischen Global Governance (1) -Agenda – auf diese faszinierende, aber auch verkannte Denkerin berufen.
Im aktuellen Licht sollten die Analysen und Reflexionen ihres Werkes uns Warnung sein, was mit der Pandemie- und Global-Governance-Politik (1) wirklich auf dem Spiel steht.
Konsequenzen für unser Handeln müssen wir aber selbst daraus ziehen.
Zwischen Vergangenheit und Zukunft: Hannah Arendts politisches Denken revisited
Wer war Hannah Arendt? Und was verbinden wir mit ihrem Namen heute – für uns?
Was zeichnet unser Verhältnis zu ihr aus? Lassen sich in diesen verworrenen und krisengeschüttelten Zeiten Veränderungen in der Bestimmung des Verhältnisses zu ihr und ihrem Denken erkennen? Und können diese uns dabei helfen, unsere Welt besser zu verstehen?
I Einleitung
Die „nicht identische Identität“ der H.A.
Längst ist die 1906 in Hannover, als Tochter einer wohlhabenden, bildungsbürgerlichen und jüdischen Familie geborene Politikwissenschaftlerin, die 1933 zunächst vor den Nazis nach Paris, und dann über Lissabon in die USA emigrierte, zu einer „Ikone“ (Wolfram Eilenberger (2)) der Demokratie geworden.
Es gibt wohl keinen Menschen, der sich zeitlebens so intensiv mit den großen Fragen der Politik auseinandergesetzt hat, der in puncto politischer Bildung eine solche Resonanz erfahren hat. Wie konnte Hannah Arendt solch eine öffentlichkeitswirksame Bedeutung erlangen, die sie im kollektiven Gedächtnis des modernen, urban-liberal geprägten und seinem Verständnis nach kosmopolitischen Deutschlands so verankerte? Leicht provokant könnte man sagen, dass Arendt zu einer Art weiblichem deutschen Che Guevara gekreuzt mit etwas Albert Schweitzer und/oder Albert Einstein –ohne dessen unverständlicher Relativitätstheorie natürlich – oder, wem das zu wenig genderlike ist – Marie Curie plus Rosa Luxemburg, gewürzt mit einer Prise Hildegard Knef, geworden ist.
Die Wahrnehmung der politischen Denkerin Hannah Arendt war von Anfang an in Deutschland durch eine Tendenz charakterisiert, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten aufgrund des Rollbacks der Demokratie (Stichwort: Postdemokratie) noch verstärkt hat:
Ich spreche von der Tendenz, ihr politisches Denken an den in unserem Gemeinwesen herrschenden Status Quo von Demokratie und Freiheit und deren populäre, den Zeitgeist repräsentierenden Themen anzupassen. Das geht mit dem einher (3), was ich die „Externalisierung kritischer Gehalte“ nennen möchte. Die hier vertretene These lautet, dass es nur über den Prozess, den der Soziologe Oliver Marchart als „effektive Depolitisierung ihrer Theorie“ (4) bezeichnet hat, überhaupt dazu kommen konnte, dass Hannah Arendt zum Identifikationsobjekt für jung und alt, links und rechts, oben und unten und zur Ikone der Freiheit und Demokratie werden konnte. Als solche strahlt ihr Licht allgemein weit in die politische Bildung und in den Politik-, Sozialkunde-, Geschichts- und Philosophie-Unterricht aus. Werk- und rezeptionslogisch wurde ihre schier universell scheinende Anschlussfähigkeit zwingenderweise erst dadurch ermöglicht, dass man kurzschlüssig und unscharf die Schlüsselbegriffe ihrer politischen Theorie den Kontexten heutiger Begriffssemantik angenähert bzw. begonnen hat, sie unter dieser zu rubrizieren.
Zwar ist der Stellenwert politischer Bildung, seitdem das neoliberale New Public Change-Management (5) in den Schulen und Universitäten sein Zepter schwingt, durch das der freie Geist (bzw. das, was von ihm seit Beginn der Ökonomisierung der Bildung überhaupt noch übrig geblieben war) aus den alten Mauern einst ehrwürdiger Bildungsanstalten vertrieben wurde, rapide gesunken. Trotzdem – oder gerade deshalb – würde jede Schule in Deutschland es als Auszeichnung, Ehre und einen Gewinn an Prestige betrachten, wenn sie den Namen Hannah Arendts tragen dürfte.
Zum Preis dieser Popularisierung – die ein Ergebnis ihrer zunehmend kulturindustriellen Aufbereitung ist, in der die Beschäftigung mit dem Gegenstand auf „human interest“-Aspekte zusammenschnurrt – hat der Hannoveraner Politikwissenschaftler Sebastian Huhnholz angemerkt, diese habe „den gefühligen Zugriff“ auf Arendt gefördert. Seine Rezension des Buches „Hannah Arendt und Karl Jaspers – Geschichte einer einzigartigen Freundschaft“ von Ingeborg Gleichauf (Göttingen 2021) – in dem für sein Empfinden die Kategorie des „Gefühligen“ in exemplarischer Weise bedient wird – nutzt Huhnholz dafür, um zu einem erfrischend polemischen Rundumschlag auszuholen:
„Immerhin ist die ach so kluge und witzige Hannah seit zwei Jahrzehnten eine allzu einfache Projektionsfläche geworden. Keine Schule oder Shopping Mall, die sich nicht nach ihr benennen wollte. Keine Arendt-Aussage auf Wühltischpostkarten („Niemand hat das Recht zu gehorchen.“), die noch tiefenphilosophisch verständlich statt bloß äußerlich schön und scheinbar zeitgemäß wäre. Mit der billigen Instant-Freundin sind Jedermann und Jederfrau immer auf irgendeiner genau richtigen Seite. Das aber ist nicht nur angesichts der traurigen Themen Arendts bizarr, die ja völlig zu Recht als „Denkerin der Stunde“ gehandelt wird. Hinsichtlich der entlarvenden Rolle der „Herrschaft des Niemand“, also gemessen am Banalität-des-Bösen-Theorem, ist es auf vergnügte Weise „dumm“. Wenn wir nicht sehen (wollen), wie die staatstragende Vorzeige-Jüdin und die liebe Freundin Hannah die radikale politische Denkerin Arendt entschärfen, verkommt sie zum Label für belangloses Reden, für bloßes Meinen statt reflektiertem Urteilen. (…) Verkauf und Forschung wurden durch die geschichts- und moralpolitische Gefälligkeit dieser neuen Hannah Arendt der Berliner Republik sicher belebt. Jedes publikumswirksamere Buch über sie schimmert aber in diesem Zwielicht.“ (6)
Hannah Arendt – das Pin-Up-Girl der politischen Theorie?
Halten wir an der Stelle fest: Es meldet sich, wenn auch nur vereinzelt, ein Unbehagen an dem Hannah Arendt-Bild zu Wort, welches sie zur Heiligen auf dem beweihräucherten Altar der Berliner Republik, zur Demokratie-Heroine „des besten Deutschlands, das es je gegeben hat“ (Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier) (7) stilisiert.
Der Putz bröckelt. Und tatsächlich haben sich zuletzt die Hinweise darauf verdichtet, dass der Absatz der kulturindustriellen Hannah Arendt, ihre Vermarktung von der Stange, die so lange so gut lief, ins Stocken bzw. in die Bredouille geraten ist.
Denn immer mehr Zeichen deuten darauf hin, dass wir – (nicht nur) in Deutschland und in der EU – eine Rückkehr des Autoritären in die Politik erleben und die liberale Demokratie in ihrer Existenz akut gefährdet ist. Die somnambule Sicherheit, mit der wir bislang Freiheit und Demokratie als unser selbstverständliches Eigentum betrachtet haben, zeigt Aussetzer und bekommt Risse. Auch wenn viele noch schlafen, hat die Zeit des Aufwachens begonnen. Die über Dekaden als Erfolgsmodell gefeierte westlich-liberale Demokratie steht vor ihrer womöglich größten Zäsur und Zerreißprobe.
Etliches ihrer Attraktivität und Strahlkraft hat sie jedenfalls schon bei einer inzwischen besorgniserregend hoch angewachsenen Zahl von Menschen eingebüßt. Die Vertrauenswerte der Bürger zum politischen System erreichen immer neue Tiefstände (8). Auch das Recht befindet sich in der Krise, da es immer mehr zu einem Spielball übermächtiger wirtschaftlicher Interessen und politischer Abhängigkeiten zu werden droht (Stichwort: neoliberale Umformung des Rechts). Die Eliten haben sich selbst in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Denn, wie schon Hannah Arendt die Warnzeichen des Vertrauensverlustes interpretierte, folgt auf den Vertrauens- regelmäßig der Machtverlust:
Aber „auch wenn ihnen das Volk seinen Konsens zu dem, was die Machthaber (...) tun und (...) die Machtbasis entzieht, bleibt ihr Machtbewußtsein erhalten. Das ist die Situation (...) und um das System aufrechtzuerhalten, greifen die Machthaber zur Gewalt. Und mit dieser Gewalt ersetzen sie die Zustimmung des Volkes; das ist die eigentliche Gefahr (...).“ (9)
Und die Massenmedien? Sie betreiben alldem gegenüber Appeasement, ignorieren oder fragmentieren weiter die sie störende Wirklichkeit so gut sie eben können. Trotz wachsender Kritik wird business as usual betrieben. Statt die Mächtigen zu kontrollieren und die Leute aufzuklären, spulen die Medien weiter ihr vordergründiges Empörungsmanagement-Programm ab – einschließlich neuerer Formen betreuten Denkens wie durch die „Fakten-Checker“ und Meinungswächter der Political Correctness. Journalisten dekretieren vom hohen Ross, was wahr ist und was nicht, was noch gedacht werden darf und was nicht (mehr). Zunehmend wird in den Mainstream-Medien nicht nur der Kontakt mit der harten gesellschaftlichen Realität gemieden, sondern auch dafür gesorgt, dass die Herde nicht unnötig verunsichert wird und ihren Hirten auf Abwegen verloren (10) geht. Dabei scheint der Zweck alle Mittel zu heiligen.
Illiberalismus und Autoritarismus sind weltweit auf dem Vormarsch. Die sogenannte Corona-Pandemie war dafür nur ein, wenn auch bislang der wichtigste Katalysator. In Form von Cancel Culture (11) grassieren Einschränkungen und Zensur der Meinungsfreiheit. Die Diffamierung Andersdenkender ist nicht nur gesellschaftsfähig geworden, ausgerechnet in den sich besonders progressiv dünkenden Teilen der Gesellschaft und der Politik wird sogar mehr davon gefordert! Man ist geneigt, den folgenden Satz an die Politiker, die dies in den Parteizentralen, von der Regierungsbank oder am Rednerpult der Parlamente fordern, zu adressieren:
„Freiheit schließt immer auch die Freiheit ein, von der herrschenden Meinung abzuweichen.“ (12)
Den Satz hat Hannah Arendt in einem Interview geäußert.
Heute ist die Beschimpfung des Souveräns, sobald er von der Freiheit „von der herrschenden Meinung abzuweichen“ Gebrauch macht, zum neuen Oberton des Neusprechs der politischen Klasse (13) geworden, das orwellsche Assoziationen wachruft (14) : „Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei und Unwissenheit ist Stärke!“
Ständig beschweren sich die Politiker:
„Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“ (Bertolt Brecht) (15)
Zuletzt ist nun zu allem Überfluss auch noch der in Europa längst überwunden geglaubte Bellizismus mit Macht wieder auferstanden. Unglaublich, aber wahr ist, dass man seit 2022 dem Krieg in Europa wieder das Wort redet. Die Welt droht innerhalb von hundert Jahren ein drittes Mal in dessen Abgrund zu taumeln und – schlimmstenfalls – darin zu versinken. Dachte man früher noch, dass illiberale Erscheinungen und gewaltförmige Exzesse nur Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten und Rechtsextremisten seien, wird man jetzt eines Besseren belehrt: Inzwischen speist sich beunruhigenderweise ein Phänomen daraus, das nicht anders als ein neuer „Extremismus der Mitte“ zu deuten ist. (16)
Das Bild Hannah Arendts erfährt schließlich durch diese katastrophalen, hier nur kurz angerissenen Entwicklungen wichtige, aus meiner Sicht längst überfällige Korrekturen. Umso stärker sich der Krisencharakter der Gegenwart vor unseren Augen enthüllt und der Kaiser nackt dasteht, desto mehr schmilzt der historische Puffer zu ihrem Denken, rückt das, was vordem kulturindustriell zugekleistert wurde, wieder nahe an uns heran.
Während der konventionell gepflogene Umgang mit Hannah Arendt sich bislang auf die paradoxe Formel bringen ließ, dass sie distanzlos-historisierend eingemeindet wurde, steht heute eine für die politische Bildung bedeutsame Neubestimmung ihres Werkes an. Zuvor war sie, vermutlich aufgrund einer allzu tönernen, auf einem Auge gegenüber den Errungenschaften unserer Konsum- und Wohlstandsdemokratie notorisch blinden Selbstzufriedenheit und Selbstgerechtigkeit, dem Trend zur Verkitschung ausgesetzt. In diesem Kitsch-Szenario erschien sie als „eine von uns“ (nur etwas „klüger“ vielleicht), die allerdings mit dem „Pech“ zu kämpfen hatte, zu „unzeitgemäßer Zeit“ geboren worden zu sein und daher – in Opfergestalt der personifizierten Dreifaltigkeit des Minoritären: Jüdin, Frau und Philosophin – zum Objekt von Verfolgung durch „das Böse“ wurde, das ihr aber aufgrund ihrer persönlichen Stärke am guten Ende doch eigentlich nichts anhaben konnte.
Was die hier postulierte Herausforderung, die Arendt für die politische Bildung darstellt, anbelangt, so gilt es eine Denkerin wiederzuentdecken, die die informierte Debatte, den Streit, die Kritik, zivilen Ungehorsam, das Recht auf Widerstand und – horribili dictu! – die Revolution als die positiven, d.h. sinnstiftenden Elemente des Politischen expliziert, gewürdigt und ins Zentrum ihres Denkens gestellt hat. Dies tat sie nicht, um lediglich die Begriffe für und aus sich selbst heraus für das weite Feld des Politischen zu definieren. Vielmehr leitet sie die Begriffe des Streits, der Kritik, des Widerstands und der Revolution aus ihrem Freiheitsbegriff ab und führt sie in pluralen Denkbewegungen auch immer wieder auf diesen Freiheitsbegriff zurück. Und sie bringt, last but not least, das in die Politik zurück, was wir wohl alle heute vermutlich am sehnlichsten darin vermissen: das Leben, in seiner ganzen Intensität, Leidenschaft und Fülle.
Sicher ist, dass die Freiheit heute von vielen Seiten aus bedroht wird. Dennoch ist darauf zu insistieren, dass es Unterschiede im Hinblick auf die damit tatsächlich verbundenen Gefahren bzw. Gefahrenpotenziale für die offene Gesellschaft und ihre Feinde gibt. Arendt hat sich immer wieder für eine Kultur und Praxis des politischen Unterscheidungsvermögens eingesetzt. Das macht sie so unzeitgemäß und, so könnte man etwas tricky hinzufügen, in dieser Unzeitgemäßheit wiederum so aktuell. Wie Julia Kristeva betont hat, suchte Hannah Arendt nach einer „nicht subjektiven Fundierung der Politik als Antwort auf die Erfahrung des Grauens der totalitären Systeme im 20. Jahrhundert“ (17). In Zeiten, in denen die Politik fast ausschließlich den postmodernen Kulten des Subjektivismus huldigt – die dadurch längst zu einem neuen gesellschaftlichen Konformismus erstarrt sind – muss daran erinnert werden, dass ein Zerreißen des ohnehin durch den Neoliberalismus schon arg perforierten sozialen Bandes, wie es durch die Identitäts- und Diversitätspolitik und den Versuch ihr kulturelle Hegemonie zu verschaffen, provoziert wird – Bedingungen schafft, die den Nährboden für einen neuen Totalitarismus bereiten.
Ein Kompass fürs Politische
Eine Relektüre der Texte von Arendt erscheint gerade jetzt lohnend, wo der international sich mehr und mehr selbst isolierende, in Sackgassen manövrierende nordwestatlantische Politik- und Wirtschaftsblock, Deutschland voran, die „Zeitenwende“ proklamiert hat. Dank der unangestaubt-frischen Originalität und gleichermaßen charismatischen wie undogmatischen Kraft ihres Denkens, können wir wieder einen politischen Kompass in die Hand bekommen – ohne dass wir uns deshalb ihrem Denken gegenüber unkritisch verhalten müssen.
Nicht zuletzt ermöglicht diese Relektüre, uns über das zu erheben, was ich als die „moderne Hölle“ des elektronischen Newsfeed- und Social-Media-Zeitalters bezeichnen möchte: Über das triviale Infotainment. Es hat Tür und Tor für Meinungsmanipulationen und eine propagandistische Zurichtung der Wirklichkeit in Dimensionen geöffnet, wie sie in der analogen Gesellschaft noch nicht vorstellbar gewesen wären. (18)
Die schlimmen Auswirkungen von Manipulation und Propaganda bekommen wir (Ukraine-Krieg, Corona, Klimapolitik, Agenda 2030) tagtäglich zu spüren. (19)
Interpretiert man die Phänomene durch die Brille von Arendts politischen Begriffen und Konzepten, erscheinen sie als Ausdruck eines verloren gegangenen Weltbezuges – dazu gleich noch mehr. Deshalb bin ich überzeugt, dass ihr politischer Existenzialismus nicht nur unvermindert modern ist, sondern auch eine heilsame Kur gegen den Wirklichkeitsverlust darstellt, von dem Kultur, Politik und Gesellschaft heute gleichermaßen befallen sind. Den Ausdruck „Kur“ habe ich hier bewusst wegen der Bedeutung gewählt, die ihm in der Psychoanalyse zukommt.
Zur Textgenese
Einige Bemerkungen zu meinem Hannah Arendt-Verhältnis und zur Entstehung dieses Textes möchte ich an dieser Stelle gerne noch vorausschicken:
Quasi unter der Hand hat der zweite Teil meiner Annäherungen an die Post-Corona-Zeit eine wesentlich andere Form als ursprünglich geplant angenommen. Der Grund dafür: Während meiner Recherchen für den zweiten Teil meiner Beschreibung des Interregnums im Umfeld kritischer Untersuchungen, Analysen und Reflexionen zur Corona-Krise, bin ich auffallend häufig Hinweisen auf das Werk Hannah Arendts begegnet. Obwohl ich einen eher entlang der tagespolitischen Ereignisse sich bewegenden, berichtenden Ansatz für die Fortsetzung meines Essays „Die Pandemie ist – nicht – zu Ende. Von der Post-Corona-Gesellschaft in den totalitären Reset?“ (20) im Sinn hatte, weckte das meine Neugierde und „verführte“ mich zu einer Neulektüre der Schriften der politischen Theoretikerin. Eine „Philosophin“, als die sie meist tituliert wird, wollte Arendt übrigens nicht genannt werden, weil für sie – unter dem Eindruck der beiden Weltkriege und die das 20. Jahrhundert prägende Herrschaft totalitärer Systeme – die Philosophie „eine ‚weltlose‘ Wissenschaft geworden“ war, „der sie nicht angehören“ wollte. (21)
Wichtig und prägend war für sie in dem Zusammenhang das völlige Versagen der akademischen Philosophie am Beginn des Nationalsozialismus. Arendt musste aus nächster Nähe mit ansehen, wie das abstrakte philosophische Denken keinerlei Widerstandspotential gegen das totalitäre Denken bot und die Philosophen der Gleichschaltung nicht das geringste entgegenzusetzen hatten, weil ihnen – so Arendts Deutung – die dafür notwendige Rückbindung an die Wirklichkeit, ihr Weltbezug, abhandengekommen war. Diesen Weltbezug sah sie z.B. in den politischen Schriften Kants als vorbildlich gegeben an. Ebenfalls bewunderte sie ihren philosophischen Lehrer Karl Jaspers dafür. In ihrem anderen großen Lehrer Martin Heidegger stand ihr dagegen ein Beispiel für die Entfernung, Entfremdung und Abgehobenheit der Philosophie von der politischen Wirklichkeit vor Augen. Distanz zum Politischen, Entfremdung, Abgehobensein, Weltverlust und Entwurzelung wurden zu Themen, gegen die sie selbst zeitlebens anschrieb. Sie nahmen auch im Hinblick auf ihr persönliches Verhältnis zu Heidegger – als junge Studentin, 1925 in Marburg, hatte sie eine heimliche Liebesaffäre mit ihm – biographisch eine so große Bedeutung ein, dass man ohne Übertreibung sagen kann, dass die Beziehung zu Heidegger sie ihr ganzes Leben lang nicht losgelassen hat.
Trotz der Kreuzzüge gegen kritischen Erkenntnisgewinn: Ohne historisches Vergleichen ist keine politische Urteilsbildung möglich
Hannah Arendt vor dem Hintergrund der Folgen und Weiterungen, die der Corona-Ausnahmezustand zeitigt – und weiter zeitigen wird (da die „Pandemie“, namentlich der Covid-Ausnahmezustand als gesellschaftliches Großexperiment und Versuchsballon für den globalen Reset wirklich nicht vorbei ist (22) ) – teils zum ersten Mal, teils erneut zu lesen, sollte mir echte „Aha-Erlebnisse“, und die gleich in Serie bescheren! Es war verblüffend zu sehen, in wie vielen Sätzen und Passagen ich etwas fand, was mich aufhorchen und in eine besondere Resonanz zu ihren Worten und Gedanken treten ließ. Zunächst ganz intuitiv wurde ich darauf aufmerksam gemacht, welch großes Potenzial ihr Werk für mein eigenes Unternehmen einer Beschreibung des Post-Corona-Interregnums birgt und dass es eine sicherlich zwar ziemlich aufwändige, aber lohnenswerte Aufgabe wäre, diesen Schatz zu heben.
Dank dieser Bergung und Sicherung spannender und aufschlussreicher Spuren, weiterführender Hinweise und zu Exkursen einladender Impulse, die zum Versuch beitrugen, meine eigene Signatur der Post-Corona-Zeit am heißen Gegenstand zu zeichnen und zur Diskussion zu stellen – wurde mir klar, warum in zahlreichen tiefer gehenden Analysen und die Hintergründe der Corona-Krise ausleuchtenden Betrachtungen – häufig und keinesfalls bloß zufällig – auf Argumente, Denkfiguren und Einsichten Hannah Arendts Bezug genommen wird. Tatsächlich lassen sich sowohl in Arendts Studien zum Totalitarismus als auch in ihren zeitdiagnostischen Essays spannende Anstöße und produktive Anknüpfungspunkte zur Erkundung und Erschließung der Jetzt-Zeit finden. Vorzugsweise ihre Rekonstruktion der phänomenologisch-historischen Kritik der Grundbegriffe politischer Theorie hilft dabei, unsere eigene Gegenwart besser verstehen zu lernen. Ich bin mir sicher, dass im Angesicht der multiplen Krisen, unter denen wir leben, unsere politische Urteilsfähigkeit durch die Auseinandersetzung mit ihrem Werk in bedeutsamen Umfang wachsen, reifen, sich problemsensibel umbilden und neu geschärft werden kann.
II Hannah Arendts Rolle in der „größten Geschichtslektion“ der Deutschen
Die Freiheit beruht nur (...) auf der Überzeugung, daß jedes menschliche Wesen, als ein denkendes Wesen, genauso denken kann wie ich und deshalb selbst beurteilen kann, ob es das will. (...) Was allein uns wirklich helfen kann, meine ich, ist ‚réfléchir’, – Nachdenken.
Und denken heißt stets kritisch denken. Und kritisch denken bedeutet stets dagegen sein. Alles Denken unterminiert tatsächlich, was immer es an starren Regeln, allgemeinen Überzeugungen etc. gibt. Alles, was sich im Denken ereignet, ist einer kritischen Überprüfung dessen, was ist, unterworfen. Das heißt, es gibt keine gefährlichen Gedanken – aus dem einfachen Grund, weil das Denken selber ein solch gefährliches Unterfangen ist (...) – Nicht-Denken allerdings, glaube ich, ist noch gefährlicher.“ (23) – Hannah Arendt
„Vielleicht die größte Lektion in der Geschichte ist, dass niemand die Lektionen der Geschichte gelernt hat.“– Aldous Huxley
Kaum ein Denker des vergangenen Jahrhunderts, der zum Verständnis heutiger Politik so viel beitragen und die gegenwärtigen politischen Debatten so inspirieren könnte, wird so verkannt wie Hannah Arendt.
Mag auch in der Wissenschaft – partiell zumindest– ein differenziertes Bild von ihr gezeichnet werden, wirkt dieses doch über den hermetischen Kreis der Fachleute nicht hinaus. In der Realität, oder besser: in dem, was heute tatsächlich Durchlass in die Realität findet, ist die Wirkung Hannah Arendts, die in einem intellektuell weithin nivellierten, dem Geist gegenüber indifferent bis ablehnend gesonnenen Klima unserer Gegenwart selbst zu einer Figur der Kulturindustrie geworden ist, um ihr Bestes gebracht. Man hat nicht verhindern können, dass die Jüdin, die aus Deutschland Ausgebürgerte, der staaten- und rechtlos gemachte Flüchtling, der Paria – „Paria“, in Gegenüberstellung zum „Parvenu“ – ist dann auch als ein Schlüsselwort zur Deutung ihrer Lebens- und Weltanschauung anzusehen (24) – zur Staatsphilosophin gemacht wurde. Ausgerechnet jener Person, die zeit ihres Lebens, trotz großer öffentlicher Anerkennung und hoher akademischer Würden, stets einer randständigen, zu jedem Mainstream Distanz haltenden Existenzpositionierung bewusst den Vorzug gab, wurde das zuteil, was man als ein ironisches Nachleben bezeichnen kann.
Deutschland im Spiegel eines jüdischen Parias – und vice versa
Zwei Briefstellen mögen die Rede vom intellektuellen Pariatum der Hannah Arendt verdeutlichen: An einer Stelle des Briefes an ihren Mentor und Freund, den Arzt und Philosophen Karl Jaspers vom 29. Januar 1946, heißt es:
„Sehen Sie, ich bin in keiner Weise respectable geworden. Bin mehr denn je der Meinung, daß man eine menschenwürdige Existenz nur am Rande der Gesellschaft sich heute ermöglichen kann, wobei man dann eben mit mehr oder weniger Humor riskiert, von ihr entweder gesteinigt oder zum Hungertode verurteilt zu werden. Ich bin hier ziemlich bekannt und habe bei manchen Menschen in gewissen Fragen ein wenig Autorität; d.h. sie haben Vertrauen zu mir. Aber das kommt auch unter anderem daher, daß sie wissen, daß ich weder aus Überzeugungen noch aus ‚Begabungen‘ eine Karriere zu machen wünsche.“ (25)
In einem Brief an Gerhard Scholem vom 20. Juli 1963, in dem Arendt auf dessen scharfe Kritik über ihr Eichmann-Buch antwortet, schreibt sie:
„Was Sie (...) verwirrt, ist, daß meine Argumente und meine Denkweise nicht vorgesehen sind. Oder mit anderen Worten, daß ich unabhängig bin. Und damit meine ich einerseits, daß ich keiner Organisation angehöre und immer nur im eigenen Namen spreche; und andererseits, daß es darauf ankommt, selbst zu denken, und daß, was immer Sie gegen die Resultate einzuwenden haben, Sie selbige nicht verstehen werden, wenn Ihnen nicht klar ist, daß sie die meinigen sind und niemandes sonst.“ (26)
Damit, dass Deutschland Hannah Arendt nach Nazi-Faschismus und Krieg „nicht gesteinigt“, sondern stattdessen eine Art Staatsphilosophin aus ihr gemacht hat, machte es sich das Land mit dieser „unbequemen Denkerin“ (im Grunde stellt schon diese Wortverbindung einen Pleonasmus für Arendt dar) leicht. Da man sie im Nachkriegsdeutschland wegen ihrer jüdischen Abstammung und ihres Emigrantenschicksals, aber wohl auch aufgrund der Tatsache, dass sie sich als eine Frau in der Männerdomäne der politischen Theorie und Philosophie behauptete, nicht als Nestbeschmutzer wie andere behandeln konnte, hob man sie in den Philosophenhimmel, zeichnete sie als „Aufklärerin“ mit Preisen aus – darunter stolz mit einem Preis, den die Nazis völkisch instrumentalisiert hatten (den Lessing-Preis der Freien und Hansestadt Hamburg, den sie 1959, nach langem Zögern und trotz großem Unbehagen annahm) – und übersah mit einer gewissen, penetranten Beflissenheit dabei, dass ihre Auseinandersetzung mit der totalitären Logik des Faschismus, mit Eichmann und „der Banalität des Bösen“ etwas war, was doch eigentlich die im Land gebliebenen Deutschen hätten auf sich nehmen müssen. Dafür aber hätten sie in den Spiegel blicken müssen, und das wollten sie nicht. So wurde, wie man heute sagen würde, das schlechte Gewissen kollektiv „ausgesourct“ und Reue auf feierliche Weise, pro forma im weihevollen Air außeralltäglicher, gravitätisch-steifer Gedenkstundenrituale bloß ausgestellt und monstranzartig vor sich hergetragen.
Revolution und revolutionärer Geist
Hinzu trat, dass Arendts angeblicher Anti-Kommunismus der Restauration der Adenauer-Zeit sehr gelegen kam. Genau betrachtet handelt es sich bei ihrem „Anti-Kommunismus“ um eine dezidierte Gegnerschaft zum Bolschewismus. Sehr anschaulich geht diese Gegnerschaft z.B. aus ihrem Essay über Rosa Luxemburg (27) hervor, der voll Hochachtung, ja Bewunderung und Liebe über diese außerordentliche Frau und Kommunistin spricht. Luxemburg, die sich zusammen mit Karl Liebknecht im entscheidenden Moment gegen den Bolschewismus stellte und 1919 nach Niederschlagung des Spartakisten-Aufstandes von konterrevolutionären Soldaten mit Billigung des SPD-Reichsinnenministers Noske ermordet wurde, wurde früh für Arendt zum Vorbild ihres Politik-und Revolutionsverständnisses. Die tiefe Abscheu gegen Stalin hingegen kommt besonders deutlich in ihrem feinfühligen, lyrisch-verständigen und dichten Brecht-Porträt (28) – Arendt begegnete ihm im Pariser Exil – zum Ausdruck.
Arendt, die aus sozialdemokratischem Haus stammte und im Geiste eines selbstbewussten liberalen Reformjudentums aufwuchs, hat später darauf hingewiesen, dass sie erst durch die nationalsozialistische Machtübernahme ein politischer Mensch wurde. Dennoch kam sie schon in der Weimarer Republik mit linken, marxistisch orientierten Intellektuellen in Berührung. Spätestens im Pariser Exil wurde dieses Milieu auch zu dem ihren, wobei sie sich geistig durch ihren zweiten Ehemann, Heinrich Blücher (1899–1970), rätekommunistischen Positionen annäherte. Den Berliner Arbeitersohn Blücher, der sich im November 1918 dem Spartakistenaufstand angeschlossen hatte und Anfang 1919 zunächst Mitglied der Kommunistischen Partei (KPD), danach der Kommunistischen Arbeiter Partei (KAPD) wurde (die KAPD spaltete sich als linker, antiparlamentarischer Flügel der KPD aus Protest gegen den Ausschluss ihrer Vertreter vom Heidelberger Parteitag der KPD 1919 ab), hatte sie 1936 in Paris kennengelernt, das Paar heiratete 1940.
Blücher wurde im französischen Exil von der Auslandsorganisation der KPD wegen Ablehnung der Volksfrontpolitik und seiner Unterstützung für eine „deutsche Sowjet-Republik“ ausgeschlossen. Obwohl Blücher nach dem Krieg zu einem scharfen Kritiker des doktrinären Marxismus wurde, ist er den rätekommunistischen Vorstellungen treu geblieben. Damit beeinflusste er Arendts Denken nachhaltig. Die intensive Beschäftigung mit dem Revolutionsthema, das sich von „Vita activa“, „Über die Revolution“ bis zu „Macht und Gewalt“ und den späten Essays über zivilen Ungehorsam – kritischen Bestandsaufnahmen zur politischen Lage in den USA seit dem Vietnam-Krieg bis zur Watergate-Affäre und ihren Folgen – als roter Faden durch ihr Werk ziehen sollte, ist sicher zu einem nicht unwesentlichen Teil auf Blüchers Erste-Hand-Erfahrungen als „Berufsrevolutionär mit dem Tarnnamen ‚Heinrich Larsen‘ “ zurückzuführen. Als solcher
(…) beschaffte er Informationen über die illegale Aufrüstung der Reichswehr und bildete Funker für den sowjetischen Nachrichtendienst (…) im illegalen Militär-Apparat der KPD (…) aus.“ (29)
Arendt verband diese Erfahrungen mit dem von Heidegger übernommenen Denken in existenzialontologischen Kategorien, welche sie allerdings radikal reformulieren sollte: Arendt lag es sehr daran, Heideggers monologische Konstituierung von Welt zugunsten eines radikal intersubjektiven Weltbegriffs und seine metaphysische Todesverfallenheit („das Sein zum Tode“) zugunsten einer emergenztheoretischen Sichtweise, die die Offenheit aller sozialen und geschichtlichen Entwicklungen und ihre prinzipielle politische Gestaltbarkeit betont, der Natalität, zu überwinden. Unter Natalität (Gebürtlichkeit) versteht Arendt die existenziale Bedingung bzw. Gegebenheit, die es dem Menschen ermöglicht Neues zu beginnen, weil der Mensch laut Arendt „der Anfang des Anfangs oder des Anfangens selbst“ (30) ist. Oder wie es der Theologe Jochen Teuffel ausdrückt:
„Der Neubeginn, der mit jeder Geburt in die Welt kommt, kann sich in der Welt nur darum zur Geltung bringen, weil dem Neuankömmling die Fähigkeit zukommt, selbst einen neuen Anfang zu machen, d.h. zu handeln. (…) Und da Handeln (…) die politische Fähigkeit par excellence ist, könnte es wohl sein, daß Natalität für politisches Denken ein so entscheidendes (…) Faktum darstellt, wie Sterblichkeit seit eh und je und im Abendland zumindest seit Plato der Tatbestand war, an dem metaphysisch-philosophisches Denken sich entzündete.“ (31)
Was die Natalität in Bezug auf den einzelnen Menschen ist, das ist die Revolution in Bezug auf die menschliche Gemeinschaft:
„Der Sinn von Revolution ist die Verwirklichung einer der größten und grundlegendsten menschlichen Potenziale, nämlich die unvergleichliche Erfahrung, frei zu sein für einen Neuanfang.“ (32)
Daran sieht man, dass es Arendt nie um eine Kritik der Revolution im „bürgerlichen“ Sinne der Ablehnung, Abschwächung, Eindämmung – auch nicht um ihre Relativierung im historischen Sinn – vielmehr stets um das politisch richtige Verständnis von Revolutionen ging. Vom obsiegenden Teil der revolutionären kommunistischen Bewegung in Russland unterschied sie sich durch das Festhalten an der Forderung, eine klassenlose, herrschaftsfreie Gesellschaft tatsächlich durch soziale Kontrolle über die Produktionsmittel und den Produktionsprozess zu verwirklichen. Die Menschen sollten durch die Revolution selbst als Handelnde, insoweit sie die politischen Entwicklungen und Geschicke jederzeit und uneingeschränkt mitbestimmen können, d.h. als vollgültige, im vollen Besitz ihrer geistigen und sozialen Kräfte interagierenden Menschen, in ihr Recht gesetzt werden. Alles andere, ob auf dem Gebiet der Wirtschaft oder der Politik, sei Enteignung und ziele auf die Schwächung der menschlichen Potentiale ab. So äußerte sie die Auffassung:
„Natürlich dürfen Produktionsmittel anderer Menschen nicht mir gehören; sie müssen vermutlich von einer dritten, unparteiischen Instanz verwaltet werden, was heißt, daß sie niemandem gehören. Am schlechtesten aber sind wir zweifellos dran, wenn der Staat, sei es im Staatssozialismus oder im Staatskapitalismus, im Namen des Proletariats oder im Namen der Nation, zum Eigentümer wird.“ (33)
Geschichtlich verlief die Entwicklung so, dass in Russland die Bolschewiki, unter Lenins Führung zur Macht gelangt, den Einfluss der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte („Sowjets“), die sie zuvor geschickt als revolutionäre Massenbasis zu nutzen wussten („Alle Macht den Räten!“), zugunsten ihrer Ein-Parteien-Doktrin zurückdrängten. (34)
Wie ihre Biographin Elisabeth Young-Brühl bemerkt hat, befasste sich Arendt „nicht mit den Revolutionen, um ihre Geschichte zu umreißen oder um sie typisieren“ zu können, „sondern um ein Ideal für die Praxis darzustellen.“ (35)
Der Satz: „Das Wesen, wie mir scheint, der modernen Revolution (…) ist, dass man nicht sagte, wir wollen herrschen, sondern wir wollen nicht mehr, dass es Herrschaft gibt“, drückt ihr Credo aus. (36)
Und in der Studie „Macht und Gewalt“ (1969) bezeichnet sie den Ruf nach „Mitbestimmungsdemokratie (...) aus dem Besten der Revolution stammend“ und nennt das „Rätesystem, die immer wieder vernichtete, einzig authentisch aus der Revolution geborene Staatsform.“ (37)
Für sie waren also zunächst die Voraussetzungen und Bedingungen zu klären, die gegeben sein müssen, damit das „Reich der Freiheit“, welches von jeder Revolution versprochen wird – und wodurch die Menschen erst als Akteure revolutionärer Bewegung in Erscheinung treten – sich tatsächlich dann auch neu gründen und dauerhafte Gestalt annehmen kann. Dass der „radikalste Revolutionär ein Tag nach der Revolution zum Konservativen“ (Arendt) wird, dieser zunächst paradox anmutenden Ironie ging sie auf den Grund, nicht nur um die quasi-gesetzmäßige, ernüchternde Wandlung des Berufsrevolutionärs, die dahinter steckt, intellektuell verstehen zu wollen, sondern um daraus endlich die Mittel zu gewinnen, sie durchbrechen und beenden zu können.
Anhand der amerikanischen und Französischen Revolution zeigt sie, wie das revolutionäre Handeln sich schon im Gestus der Proklamation der Freiheit verausgabt und im Moment des Herbeiführens am revolutionären Scheitelpunkt erschöpft hatte, um fatalerweise schon im nächsten Augenblick in sein Gegenteil umzuschlagen. Statt dass durch die Befreiung das Reich der Freiheit Verwirklichung erfährt, werden in der unmittelbar dem revolutionären Aufstand folgenden Zeit neue Herrschafts- und Kontrollzentren errichtet, die bestrebt sind, die neue Ordnung mit überkommenen Mitteln zu sichern und so zu konsolidieren, dass die überwunden geglaubten Herrschaftsmuster reaktiviert und wiedereingesetzt werden. Das Beispiel der Sansculotten und Jakobiner in der Französischen Revolution lehrt, wie daraus neues Unrecht und neue Unterdrückung entsteht. Aber mit der Französischen Revolution setzte auch ein Überbietungswettbewerb auf dem Feld von Macht und Gewalt ein, mit dem – durch die Mittel des Terreurs, als zentralem Element der Diktatur des Wohlfahrtsausschusses unter Führung Maximilien de Robespierre (38) – neue despotische Verhältnisse geschaffen wurden. Dem Terreur des Wohlfahrtsausschuss fiel eine erschreckend hohe Anzahl von Menschen binnen eines einzigen Jahres zum Opfer. (Man beziffert die Opfer des Terreur-Regimes, das zwischen Juni 1793 und Juli 1794 herrschte, auf etwa 40.000 – bei einer damaligen Bevölkerung Frankreichs von ca. 27 Millionen Menschen).
Mit anderen Worten: Arendt wollte zur Rettung und Auf-und Errichtung der Freiheit als oberstem politischen Prinzip des Zusammenlebens, dass die Revolution nicht bloß sinnbildlich – das emblematischste Bild der Revolution, das Gemälde von Eugéne Delacroix heißt: „La Liberté guidant le peuple“(39) – „Die Freiheit führt das Volk“– sondern ihrer ganzen Logik nach und ihrem tiefen Verständnis des Sinns von gemäß vom Engagement zur Verwirklichung der Freiheit angeführt und geleitet werde. Es ging ihr darum, hinter den Mechanismus und seine Dynamik zu kommen, der in ernüchternder Regelmäßigkeit dafür verantwortlich war, „dass die Revolution ihre Kinder frisst“.
Doch all das, was zu den wahren Antrieben, den tieferen Beweggründen und ethischen Motiven ihres Denkens gezählt werden muss, überblickte und verstand man in Deutschland nicht und – viel entscheidender – man wollte es auch gar nicht verstehen. Was sollte man schließlich auch mit einer Politikwissenschaftlerin jüdischer Abstammung anfangen, die ein „Recht auf Revolution“ (40) postulierte? Die – als Quintessenz aus den korrumpierten und enttäuschten Hoffnungen der Revolutionen – klipp und klar einen „Geist des Widerstandes“ des Volkes für den Fall legitimierte, dass „die Scheidung des Volkes in Regierende und Regierte (…) als der eigentliche Sinn des Repräsentantensystems“ (41) nicht aufgehoben wird? Was soll man von einer sehr selbstbewussten Frau, die die Forderung Lessings „sich selbst zu leben“ (42) zur Maxime ihres Handelns gemacht hatte, halten, die 60 Jahre vor uns Sätze formulierte, die heute – noch oder wieder? – absolut aktuell und äußerst brisant klingen? Sie wurden damals schon als Provokation empfunden, begeisterten aber andererseits die vom Sinnvakuum der „verwalteten Welt“ (Adorno) heimgesuchte, aufbegehrende Jugend in den industrialisierten Gesellschaften:
„Wieder wird das Volk aus dem Bereich der Öffentlichkeit ausgeschlossen, wieder sind die öffentlichen Angelegenheiten zum Privileg der Wenigen geworden (…). Die Folge (…) ist, dass das Volk dazu verdammt ist, entweder ‚in Lethargie zu versinken, welcher der Tod der öffentlichen Freiheit auf den Fuß folgt‘, oder den ‚Geist des Widerstandes‘ gegen jede von ihnen gewählte Staatsmacht zu bewahren, da die einzig ihnen verbleibende wirkliche Macht die in ‚Reserve gehaltene Macht der Revolution‘ ist.“(43)
Frühe BRD-Kontinuität mit dem Nazismus
Das kollektive Selbst wollte in der Nachkriegs-BRD jedoch nur schnell zurück zur „Normalität“, d.h. zurück zu dem, was vor dem Krieg dafür gehalten wurde, und man wollte dieses Ziel mit so wenigen Friktionen wie nur möglich erreichen (44). Für Revolutionen hatte man schon gar keinen Sinn. Schließlich hallte in dem Wort ja noch die „völkische“ Revolution von 1933 nach und davon wollte man erst recht nichts mehr hören, sehen und wissen. Ohnehin stieß im westdeutschen Frontstaat des Kalten Krieges, zu dem die Adenauer-Regierung die Bundesrepublik im Handumdrehen, sehr zu Arendts Entsetzen gemacht hatte, jede Differenzierungsbemühung in Bezug auf die Themen und das angestammte Terrain der politischen Linken auf taube Ohren. Man hatte alsbald, zumindest zum Teil, mit der neuen bundesrepublikanischen Staatsräson gleich ab 1949 eine Kontinuität zur nationalsozialistischen Zeit wiederhergestellt. Noch ehe die Demokratie sich einspielen und den öffentlichen Raum für sich erobern konnte und sie wirklich durch neue Strukturen zu Leben erweckt worden wäre, stand die bundesdeutsche Staatsräson als Produkt der geostrategischen Interessenlagen Washingtons schon fest. Diese nahmen dem zarten Geschöpf demokratischer Erneuerung sogleich die Luft zum Atmen.
Das kontinuitätsstiftende Moment der Politik war daran zu erkennen, dass man sofort nicht nur wieder zur Verfolgung der Kommunisten (45) blies – deren politische Spitzenfunktionäre damals noch als frei gewählte KPD-Abgeordnete in den Landtagen der Bundesländer und im Bundestag saßen – sondern diese Verfolgung generalstabsmäßig mit Hilfe in- und ausländischer Geheimdienste organisierte und durchsetzte. Dazu passte es gut, Arendts komplexe Haltung zum Kommunismus verzerrt und einseitig überzeichnet wiederzugeben. Alles, was sie sorgsam schied – ihre Kritik am Staatssozialismus im Allgemeinen und dem Stalinismus im Besonderen – landete in einem Topf. Dazu gehört, dass man Falschinformationen über „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (die deutsche Ausgabe erschien 1955) zur eigenen Entlastung kolportierte, vor allem solche, nach denen Arendt in diesem Werk dargelegt hätte, dass Nationalsozialismus und Kommunismus von gleichem Übel seien, was Arendt tatsächlich nie behauptete – im Gegenteil!
Wenn man sich näher mit Hannah Arendts Verhältnis zu Deutschland und vice versa beschäftigt (ein Forschungsgebiet, welches trotz Hochkonjunktur der Arendt-Exegesen merkwürdigerweise brach liegt), kommt man um die Frage nicht herum, ob die Bundesrepublik, die sich in einer Mixtur aus gedankenloser Bequemlichkeit und Überforderung ihrem politischen Denken gegenüber ebenso unsensibel wie ignorant zeigte, gerade deshalb der Person H.A. einen sozusagen unbefristet gültigen, auf Reputation, Ruhm und Ehre abonnierten Freifahrtschein ausstellte? War das dieselbe Bundesrepublik, die sie in den Briefen von ihren Besuchen und teils längeren Aufenthalten dort, ab 1949 beschrieb? Schon die Eindrücke der ersten Reise, die sie zurück nach Deutschland brachte, aus dem sie 16 Jahre zuvor in äußerster Lebensgefahr – bereits im Frühjahr ’33 hatte die Gestapo sie für kurze Zeit verhaftet – geflohen war, beschrieb sie in bemerkenswert ungeschminkter Diktion:
„Die Deutschen leben von der Lebenslüge und der Dummheit. Wenn du hier eine Woche lang sämtliche Zeitungen von rechts bis links gelesen hast, dann bist du reif für die Rückfahrt. Und alles im Tone der Schadenfreude geschrieben. Wahr ist, dass jeder gegen den Krieg ist (Anm. B.S.: Arendt spielt hier auf die frühen Diskussionen zur Wiederbewaffnung an). Das drücken die Zeitungen etwa so aus: Seht Ihr, nun wollt Ihr auf einmal, daß wir Soldaten werden, aber hä, hä, jetzt sind wir gerade Pazifisten (...) sie sehnen sich halt nach Hitlern ohne Krieg zurück, verstehen überhaupt nichts – die Studenten so wenig wie die Arbeiter.“ (46)
An der deutlichen Sprache in Bezug auf ihre Wahrnehmung Nachkriegs-Deutschlands ändert sich auch in den Briefzeugnissen der späteren Besuche nichts:
„(...) das Gefühl, das alles nur Fassade ist, hat man wieder einmal nirgends so stark wie hier. Ziemlich unheimlich! Alles überdeckt von einer verstunkenen Restauration! (...) Geistig ist nicht viel los, außer einer starken Restauration alles Klassischen. Ansonsten immer noch nur Heidegger, aber auch dies ziemlich abscheulich (...), das Durchschnittspublikum verschlafener als in Amerika. (…) das Land treibt, wie mir scheint in ein neues Rapallo, (…) niemand will es so eigentlich. Die Fassade so verspießert, daß ich dauernd leise vor mich hersinge: Der Zopf, der hängt ihm hinten.“ (47)
„Die Entwicklung in Deutschland ist recht unheimlich. Bei allen Kommunalwahlen, wo die Wähler nicht fürs Ausland wählen, kommen alte Nazis wieder ans Ruder (...). (...) in der deutschen Bundesbahn gibt es Plakate und Karten, in denen die Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie als ‚z.Z. unter polnischer Verwaltung’ fungieren!! Dies hält innerhalb der Bundesrepublik ein jeder für notwendig wegen der 10 Millionen ‚Flüchtlinge’. Man meint es nicht ernst, solange nämlich, bis diejenigen ans Ruder kommen, die es ernst meinen, und der ganze verlogene Saftladen auffliegt (…) Ansonsten eben Wirtschaftswunder weit und breit, und was darunter vorgeht, weiß kein Mensch.“ (48)
„Man darf (...) nicht vergessen, daß auch die dann sehr anständig geleisteten Wiedergutmachungszahlungen ursprünglich nur unter starkem Druck des von den Juden mobilisierten Auslands zustande kamen. Aber Du hattest ganz recht (...) die Existenz der Bundesrepublik in den Mittelpunkt zu stellen, denn allein darum geht es ja. Und da muß man, fürchte ich, eben doch sagen: von irgendeiner Revolution der Denkungsart keine Spur! Die Ansätze, die es dazu gab, hat Adenauer vernichtet, und zwar bewußt, indem er reine Interessenpolitik betrieb, nämlich sagte: Die Mehrheit des Volkes hat mitgemacht, ist also interessiert daran, an nichts zu rühren.“ (49)
Auch Scheinfrieden haben Nachspiele
Die Eingemeindung in das offiziell den West-Deutschen von den US-Amerikanern übergestülpte Wertesystem und die ob ihrer Substanzlosigkeit (durch das innere Unbeteiligt-Seins derer, die es eigentlich doch anging) etwas geisterhaft-schematisch vor sich gehende Subsumtion unter den Überbau des westlichen Demokratiemodells – bildeten die äußeren Grundlagen, auf denen die Bundesrepublik ihren Scheinfrieden mit Hannah Arendt schließen konnte. Denn ungeachtet dessen, dass man sie nicht bekämpfte, tat man in Deutschland doch alles dafür, um ihren aufrührerischen Geist einzufangen und gleichsam in die Flasche „zurückpfropfen“ zu können. Das hatte durchaus seine höhere, sozusagen objektive Richtigkeit, denn Arendts Grundsätze, Überzeugungen und Prinzipien konfligierten mit der repräsentativen Demokratie, die in Deutschland auf Geheiß der West-Alliierten eingeführt worden war, tatsächlich in vielerlei Hinsicht.
Zentrale Rollen in Arendts kritischer Beurteilung der repräsentativen Demokratie 50 spielen die Parteien, die oligarchische Strukturen begünstigen und die Tendenzen zur Abnabelung und Verselbständigung der Exekutive von den anderen Gewalten. Für sie scheinen beide Probleme in diesen Institutionen quasi wesensmäßig als eine Art Geburtsfehler angelegt zu sein.
„Ich bin“, so Arendt, „zu der Schlußfolgerung gelangt, daß es die Parteiapparate sind, die uns in Wirklichkeit ohnmächtig machen.“ (50)
In „Macht und Gewalt“ findet sich mit Blick auf die Bürokratie als Staatsform, die Arendt als „Tyrannis ohne Tyrannen“ charakterisiert“ die Bemerkung:
„Schließlich ist es den ungeheuren Parteiapparaten überall gelungen, die Staatsbürger inklusive der Parteimitglieder völlig zu entmachten, und dies gilt auch für Länder, in denen der Schutz der elementaren Bürgerrechte noch funktioniert. Das Absterben des (...) Gemeinsinns hat eine lange Geschichte, die mit der Neuzeit anhebt. Aber dieser Prozeß ist in den letzten hundert Jahren durch das Aufkommen der riesigen Parteibürokratien (...) erheblich beschleunigt worden.“ (51)
„Das ‚Ärgernis‘ der Parteibürokratien“ werde allerdings noch „durch die Gefahren der Regierungsbürokratien überschattet, die Arendt in ihrem (…) politischen Essay: ‚Lying in Politics, Reflections on the Pentagon Papers‘ (…) vornahm“, so Biographin Brühl-Young, d.h. die Exekutive bereitete ihr – zunächst auf die US-amerikanische Innenpolitik spätestens nach dem Mord an John F. Kennedy und die Tonkin-Lüge bezogen, mit der der Vietnam-Krieg begann – noch mehr Sorgen als die korrumpierten Parteien. (52)
Folgte man böse gesagt im Hinblick auf das Verhältnis, das man ihrem Denken gegenüber eingenommen hatte, dem Motto „Tod durch Umarmung“, blieb diesem Motto der große Erfolg dennoch verwehrt. Das lag daran, dass Hannah Arendt sich nur von Freunden, nicht aber von Staaten oder Kollektiven umarmen ließ. Auch lugte hinter der Umarmungsstrategie für den unvoreingenommenen Beobachter die eigentliche Intention dann doch zu deutlich hervor: Wurde dieser Umgang mit ihr doch aus rein pragmatischen Gründen gewählt, um sich schmerzvolle Auseinandersetzungen zu ersparen und um dem eigenen Bestreben, den ersehnten Schlussstrich unter die Vergangenheit schnell ziehen zu können, bestmöglichen Dienst zu erweisen. Zugleich war der Vorteil damit verbunden, dass die Bundesrepublik vor aller Welt sich als gelehriger Musterschüler der westlichen Demokratie-Umerziehung präsentieren konnte, was dem neuen Staat und seinen „Phönix aus der Asche“ – Wunschprojektionen eine frühe, in seiner Wirkmächtigkeit nicht zu unterschätzende Aufwertung und Bestätigung verschaffte.
Was im Mittelpunkt dieser schmerzvollen Auseinandersetzung, der man so aus dem Weg ging, hätte stehen müssen, hatte Jaspers 1965 benannt. Im Kontext der Diskussionen um die Gesetzesinitiativen und Debatten des Bundestages um die Aufhebung der Verjährungsfristen für Mord und andere schwere Straftaten, die im NS-Staat und im Namen der NS-Ideologie begangen wurden, hatte der aus Enttäuschung über die Entwicklung, die die junge Bundesrepublik genommen hatte, von Heidelberg nach Basel „ausgewanderte“ Jaspers mit einer Streitschrift interveniert. Jaspers’ Schrift veranlasste Heinrich Blücher zu der Aussage, sie sei das mutigste, was je nach 1945 von einem Deutschen veröffentlicht worden sei. Ihr Titel: „Wohin treibt die Bundesrepublik?“ (53) Jaspers geht darin, in großer Übereinstimmung, ja Einmütigkeit mit Arendt (sie schrieb das Vorwort für die amerikanische Ausgabe) von der Prämisse aus, dass
„(...) nur ein zur Freiheit drängendes, seiner selbst darin bewußtes Volk (...) die Demokratie in freier republikanischer Verfassung, die bisher nur eine Chance ist, verwirklichen (...) kann.“ (54)
Nicht nur Jaspers’ Anspruch, mit dem er die Bundesrepublik konfrontierte, nach dem angesichts der totalitären Vergangenheit der Bruch mit dem NS-Staat und der NS-Ideologie sich daran messen lassen müsse, ob im „neuen Staat (...) der größte Grad an Freiheitskraft, den ein Grundrecht entfalten kann, zur Geltung gebracht“ werden könne (55) wurde von Arendt – wie das auch aus ihren hier auszugsweise zitierten Briefen hervorgeht – genauso gesehen. Darüber hinaus stimmte sie dem von Jaspers formulierten Passus zur „Klärung der Schuldfrage“ inhaltlich voll zu. Arendt plädierte dafür, dass nur politisch Unbelastete in der Bundesrepublik Zugang zu öffentlichen Ämtern haben sollten. Das Kriterium für eine politische Belastung machte sie an der Mitgliedschaft zur NSDAP und ihren gesellschaftlichen, insbesondere berufsständischen, im Geiste der NS-Ideologie gleichgeschalteten Organisationen fest (insoweit die Mitgliedschaft als freiwillig angesehen werden konnte, auch wenn sich eine Nicht-Mitgliedschaft natürlich nicht gerade karriereförderlich erwies). (56)
Jaspers wurde zum Fixstern der Debatte um die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit ab Mitte der 1960er und während der 1970er Jahre. Sein damaliger Beitrag stellt das aktuell Wenige von Jaspers‘ noch vorhandener öffentlicher Präsenz dar. Überhaupt nur mit der Kollektivschuldfrage wird sein Name heute öfter noch in Verbindung gebracht – seine Philosophie spielt kaum noch eine Rolle.
Zur Frage der Kollektivschuld führte Jaspers aus:
„Belastet ist jeder. Zum mindesten hat er nicht rechtzeitig erkannt und gehandelt, hat er dann seit 1933 nicht eingegriffen und nicht sein Leben eingesetzt, als die Verbrechen geschahen, sondern hat dabeigestanden. Meine 1946 veröffentlichte Besinnung auf die Schuldfrage unterschied kriminelle, moralische, politische, metaphysische Schuld. Für die kriminelle Schuld kann es die gerichtliche Sühne je für den einzelnen Täter geben; für die moralische Schuld ist die innere Selbstreinigung des Einzelnen möglich; für die politische Schuld gibt es die Haftung aller Staatsangehörigen; es gibt zwar keine moralische Kollektivschuld, wohl aber eine kollektive politische Haftung (…). Die politische Haftung betrifft alle, die im Staate durch ihn lebten.“ (57)
An diese Gedanken wäre bei dem, was „Aufarbeitung der Vergangenheit“ heißen und beinhalten sollte, vorrangig zu denken gewesen, wenn es von vorneherein um eine aufrichtige und tiefgreifende Auseinandersetzung mit der Verantwortung, dem Versagen und der Frage nach der Schuld der Deutschen unter dem Nationalsozialismus gegangen wäre. Arendt traf hingegen auf ein Ausmaß an Selbstgerechtigkeit und Gleichgültigkeit in Deutschland, das sie schockierte:
„Nirgends wird dieser Alptraum von Zerstörung und Schrecken weniger verspürt und nirgendwo weniger darüber gesprochen als in Deutschland. Überall fällt einem auf, dass es keine Reaktion auf das Geschehene gibt, aber es ist schwer zu sagen, ob es sich dabei um eine absichtliche Weigerung zu trauern oder um den Ausdruck einer echten Gefühlsuntätigkeit handelt.“ (58)
Jaspers Resümee angesichts der politischen und moralischen Spitzfindig-und Doppelbödigkeiten der Verjährungsdebatte des Bundestages, an dessen Ende die Parlamentarier sich schließlich nur zu einer vierjährigen Verlängerung der Verjährungsfrist für diese NS-Verbrechen durchringen konnten (noch dazu nur unter der Bedingung eines ins Gesetz aufgenommenen Junktims, nach dem im Gegenzug zur Verlängerung gleichzeitig eine Amnestie minder schwerer Straftaten von NS-Tätern beschlossen wurde), fällt sorgenvoll, ja bitter aus. Dies auch angesichts der Neigung der Politiker von links bis rechts, diesen Minimalkonsens als bestandene „Bewährungsprobe“ der neuen deutschen Demokratie und die Debatte als „große Stunde des Parlaments“ zu feiern. Dagegen gibt Jaspers zu bedenken:
„Man hat den eigentlichen Kampf, dessen Sinn im Grund der Sache lag, vermieden. Man hat unabsichtlich, aber mit sicherem Instinkt, als man die großen Fragen (der Aufarbeitung der Vergangenheit, Anm. B.S.) berührte, sie nicht zur Klarheit kommen lassen. (…) Man vermied nicht nur, die Dinge grundsätzlich bis in die Fundamente unserer Staatlichkeit zu treiben; man verschleierte, wo es dahin hätte kommen können. (…) Jetzt aber frage ich: Warum weichen die Politiker zurück?
Ich vermute etwa: Weil der Grundakt der Umkehr nicht vollzogen ist und nicht gefordert wird – weil man fortmacht und nichts ändert, während man behauptet, nationalsozialistische Art überwunden zu haben oder nie dabei gewesen zu sein, – weil man in dem Wahn lebt, die parlamentarischen Institutionen als solche garantierten schon einen freien Staat, weil man an Sicherheit denkt und an nichts als Sicherheit, aber die Grundunwahrheiten in der inneren Verfassung fortbestehen läßt. Weichen die Politiker zurück, weil sie spüren, daß im Fundament nichts ist oder eine Lüge? Weil sie die ungeheure Aufgabe, die den Bundesrepublikanern gestellt und zu lösen möglich ist, nicht zu ergreifen wagen? Kommt daher die große wachsende Unsicherheit und Verwirrung, die man dem Blick entzieht, und der man vergebens durch die Gebärde von Selbstbewusstsein, Stolz, Anmaßung begegnet?“ (59)
Die Crux (mit) der deutschen Arendt-Rezeption
Spätestens seit der neoliberalen Wende ist die Historisierung und – mit ihr einhergehend – die popkulturelle Idolisierung Hannah Arendts zum traurigen Common Sense in der Bundesrepublik geworden. Glücklicherweise ist das nicht allen Interpreten verborgen geblieben. Anlässlich der beiden Arendt-Doppelgedenkjahre“ 2005 (30. Todestag) und 2006 (100. Geburtstag) bemerkte der österreichische Politologe Oliver Marchart:
„In Arendts Fall macht solch Gedenken nur sichtbar, was schon länger zu beobachten war: die weltweite Herausbildung einer publizistischen Arendt-Industrie.“ Die Gedenkevents, organisiert als „generalstabsmäßig inszeniertes Erinnern“ (...) produzieren (...) noch tieferes Vergessen. Im gnadenlosen Abfeiern wird unsichtbar, was das eigentlich Provokante eines Werks ausmacht. Fast möchte man hinzufügen, diese habe sich zu einer gut geölten Maschine entwickelt, die standardisierte und kaum noch unterscheidbare Produkte auswirft. Wiederholt der populärphilosophische Industriezweig die immer gleichen, Arendt zugeschriebenen Stehthesen, so flüchtet der fachphilosophische Industriezweig in rein philologische Arbeit. Während Letztere durchaus verdienstvoll sein kann, verkommt sie schnell zu einer Thanatologie, die Arendt vom Tod, nämlich vom mortifizierten Text her denkt und nicht von der Kategorie der Geburt und des Neubeginns, die (...) für Arendt selbst zentral war. (60)
Die Crux an dieser Rezeption ist nicht nur, dass sie bis heute den Umgang mit der politischen Theoretikerin in Deutschland bestimmt. Vielmehr drückt sich darin etwas aus, was über das eigentliche rezeptionsgeschichtliche Problem weit hinausgeht, da es das allgemeine Verhältnis der Deutschen zur politischen Welt betrifft. Nimmt man die nachkriegsdeutsche Doppelmoral genauer in Augenschein, so wie sie einerseits aus der unbearbeitet gebliebenen, latent traumatisierend als verdrängt weiter wirkenden Vergangenheit entstanden ist, andererseits sich als die unselige Neigung des deutschen Sozialcharakters zum Musterschülerhaften in der Form von Überlegenheitsgefühlen trotz Nazismus fast ungestört innerhalb der Bahnen der jungen Bundesrepublik erneut ausprägen konnte, dürfte gerade dieses Musterschülerhafte, das spezielle „Am-deutschen-Wesen-soll-die-Welt-genesen“-Sendungsbewusstsein verantwortlich dafür sein, dass eine Mehrheit der Deutschen auch heute noch glaubt, menschlich über anderen zu stehen und moralisch befugt zu sein, über sie zu richten. In der aktuell sich zuspitzenden Krise sehen wir, wie „die deutsche Überlegenheit“ als Produkt uneingestandener, nicht aufgearbeiteter Traumatisierung und von ins Leere laufender moralischer Kompensationen ungebremst mit voller Wucht wieder auf die geschichtliche Bühne zurückkehrt. Allem Anschein nach lässt sie sich, aufgrund der ihr inkarnierten Doppelmoral, nicht davon abbringen, auch ein drittes Mal innerhalb eines Jahrhunderts toxisch auf die Welt einzuwirken. Wobei die langfristigen Konsequenzen auf die globalen Konfliktlagen des 21. Jahrhunderts zum jetzigen Zeitpunkt noch gar nicht richtig abgeschätzt werden können. (61)
Es liefert – wohl gepaart mit dem den Deutschen nachgesagten Effizienzdenken sowie jenem Phänomen, das man im Angelsächsischen „the german Angst“ nennt – auch den Schlüssel zur tiefenpsychologischen Erklärung, warum in Deutschland das Corona-Pandemie-Narrativ auf so eine große innere Bereitschaft zur Gefolgschaft wie nirgends sonst stoßen konnte, und weiterhin laut aktuellen Meinungsumfragen (Stand Dezember 2020) von einer Mehrheit unterstützt wird (62). Bemerkenswert ist, mit welcher quasireligiösen Inbrunst in Deutschland noch die absurdesten hygienepolitischen Regeln (63), nicht nur aufgestellt, durchgesetzt und bei Nicht-Befolgung streng bestraft, sondern – und das vor allem – gehorsam befolgt wurden.
„Coronismus“ und der unbedingte Glaube an die Autorität
Spiegelbildlich zur Verfolgung der Corona-Maßnahmenkritiker, gibt es heute nirgendwo sonst – wie es alleine die Tatsache bezeugt, dass in Deutschland (Stand Januar 2023) immer noch Maskenzwang in wichtigen Bereichen des öffentlichen Lebens herrscht und Masken zuhauf auch freiwillig weiterhin getragen werden (das obwohl sie nachweislich keinen Nutzen haben und bei unsachgemäßem, zu langen Tragen gesundheitsschädlich sind) – eine so große Gemeinde an Corona-Gläubigen. Sie hat der Mathematik-Didaktiker Wolfram Meyerhöfer auf den trefflichen Namen der „Coronisten“ getauft. Meyerhöfer erkennt in der Ideologie des „New Normal“ ein dogmatisches Glaubenssystem und weist auf die autoritaristischen Wurzeln und Implikationen dieses Glaubens hin:
Für den Coronisten, so Meyerhöfer, könnten die Maßnahmen allenfalls auslaufen, wenn „eine medizinische Autorität sagt, dass die Pandemie vorbei ist.“ Die Sache hat aber einen Haken:
„Eine solche Autorität wird es nicht geben. Seit dem Februar 2020 gab es für medizinische Autoritäten sehr viele günstige Zeitpunkte, um zu sagen: Die Gefahr, die wir angenommen haben, hat sich als deutlich geringer erwiesen als wir anfangs glaubten, wir können einfach zu unserem alten Leben zurückkehren. Auf allen Ebenen (…) – von Laien bis hin zu Experten für alle möglichen Fachgebiete – haben Menschen sich Positionen zu Corona erarbeitet, die sie wahrscheinlich im Wesentlichen nicht mehr verlassen werden. (…) Sobald eine medizinische Autorität einem coronistischen Laien sagt, dass die Gefahr vorüber ist, wird dieser Laie der Autorität ihren Autoritätsstatus absprechen. Der Coronist wird sagen: Oh, jetzt ist der auch zu den Verharmlosern übergelaufen.“(64)
Daran lässt sich zeigen, dass der Glaube an die Autorität bei diesen Menschen stärker und getrennt, ja isoliert vom Glauben an einzelne Autoritäten wirkt und ihnen besonders tief eingepflanzt ist. Dementsprechend muss zwischen Relation und Objektkonstanz differenziert werden: Während die Objekte des Autoritätsglaubens volatil sein und ausgetauscht werden können, wird der Gehorsam selbst beständig mit absolutem Gehorsam befolgt. Darin korrespondiert der Glaube der Coronisten mit der Rationalisierung des Irrationalen, der Haltung der kleinen und der großen Eichmänner, die ihren Gehorsam damit verteidigten, nur „ihre Pflicht getan“ zu haben. Hannah Arendt hat in der Unfähigkeit zur Kommunikation des Autoritätshörigen – die heute ja als Sprachlosigkeit zwischen Maßnahmenbefürwortern und den Maßnahmenkritikern, den „Geimpften“ und „Ungeimpften“ herrscht (und diese Unterscheidung hat die bundesrepublikanische Gesellschaft tiefer als alle anderen Unterscheidungen je zuvor gespalten) – das eigentliche Problem erkannt, das sie dafür verantwortlich hielt, dass „menschliche Wesen sich weigern Personen zu sein“ – wobei Arendt Person-Sein als „Befähigung“ versteht, „überhaupt Überzeugungen auszubilden“. (65)
Wer heute aber überhaupt noch Überzeugungen ausbildet – und an dem Punkt sind wir wieder beim „gefährlichen Denken“ angelangt – könnte Gefahr laufen als „Querdenker“ an den gesellschaftlichen und leitmedialen Pranger gestellt zu werden und als „Delegitimierer des Staates“ schnell ins Visier der Verfassungsschutzorgane zu geraten.
Zur Causa Eichmann hat sie als Beobachterin des Prozesses gegen den SS-Obersturmbannführer (der 1961 in Jerusalem stattfand und mit der Verurteilung Eichmanns zum Tod endete) die Hermetik des autoritären Charakters, die Eichmann seine „wahnhaft normalen“ Züge gab, so beschrieben:
„Eine Verständigung mit Eichmann war unmöglich, nicht weil er log, sondern weil ihn der denkbar zuverlässigste Schutzwall gegen die Worte und gegen die Gegenwart anderer, und daher gegen die Wirklichkeit selbst, umgab: absoluter Mangel an Vorstellungskraft.“ (66)
Eichmann war für Arendt der typische Mitläufer,
„der Lust am ‚Funktionieren‘ hatte. Er wollte ‚mitmachen. Er wollte ‚Wir‘ sagen, und dies Mitmachen und dies Wir-sagen-Wollen war ja ganz genug, um die allergrößten Verbrechen möglich zu machen. [...] In diesem Handeln gibt es ein ganz großes Lustgefühl.‘ Hannah Arendt war empört über Eichmanns Dummheit, weil er Befehle ausführte, ohne sich vorzustellen, was sie auslösten. ‚Gedankenlosigkeit‘ (…) wird in den folgenden Jahren für Hannah Arendt zu einem Kernbegriff ihres philosophischen Denkens.“ (67)
Allen Mitläufern und Nutznießern des Nazi-Regimes war gemein, dass sie einen solchen „Schutzwall gegen die Worte und gegen die Gegenwart anderer“ errichtet hatten. Diese Abschottung hielt über den Zusammenbruch von 1945 hinaus dauerhaft an. Darauf, dass die Bundesrepublik von Beginn an nicht nur die Mitläufer und das Mitläufertum deckte – und mit ihnen sogar gegen jene kollaborierte, die das Land wahrhaft erneuern wollten – zielte Arendts Kritik auf die durch den breiten Fluss eines unbedingten Vergessenwollens unterspülten moralischen Fundamente bei Wiederherstellung der Staatlichkeit im westlich-demokratischen und kapitalistischen Teils Deutschlands.
„Aushalten, Wissen, Nacherzählen“ – Zum Elend deutscher „Vergangenheitsbewältigung“
In puncto „Vergangenheitsbewältigung“ – der Lebenslüge der Bonner Republik – konfrontierte Arendt 1959 in ihrer Rede aus Anlass der Entgegennahme des schon erwähnten Hamburger Lessing-Preises die deutsche Öffentlichkeit mit unbequemen Wahrheiten:
„Hier (in der Verwendung des Ausdrucks „Vergangenheitsbewältigung“, Anm. B.S.) hat natürlich auch die dem Außenstehenden so auffällige tiefe Ungeschicklichkeit der Deutschen ihren Grund, sich in einem Gespräch über die Frage der Vergangenheit überhaupt zu bewegen. Wie schwer es sein muss, hier einen Weg zu finden, kommt vielleicht am deutlichsten in der gängigen Redensart zum Ausdruck, das Vergangene sei noch unbewältigt, man müsse erst einmal daran gehen, die Vergangenheit zu bewältigen. Dies kann man wahrscheinlich mit keiner Vergangenheit, sicher aber nicht mit dieser. Das höchste, was man erreichen kann, ist zu wissen und auszuhalten, dass es so und nicht anders gewesen ist, und dann zu sehen und abzuwarten, was sich daraus ergibt.“ (...) „Sofern es überhaupt ein ‚Bewältigen’ der Vergangenheit gibt, besteht es im Nacherzählen dessen, was sich ereignet hat.“ (68)
Genau von diesem „Nacherzählen“ – es hätte das Ende der Kommunikationsblockade bedeutet, deren Ursachen in der Autoritätsgläubigkeit begraben lagen – wollte man aber im Rausch des bundesrepublikanischen Wirtschaftswunders und der „Wir-krempeln-die-Ärmel-hoch-und-steigern-das-Bruttosozialprodukt“-Stimmung nichts hören. Der Refrain der Adenauer-Zeit lautete vielmehr: „Vorwärts, vorwärts immer! Rückwärts nimmer und schnell vergessen!“ Und so verwundert es nicht, dass Arendt auf ihren Fahrten durch Deutschland und an den verschiedenen Orten, die sie besuchte, vor allem immer wieder eines wahrnahm: die Abwehr gegen das Vergangene.
Auch gab sie zur Debatte um die sogenannte Vergangenheitsbewältigung zu bedenken,
„ (...) dass wir alle an der Vergangenheit (...) die Schäbigkeit dieser Massenmörder ohne Schuldbewußtsein (wie Eichmann, Anm. B.S.) und die gedankenlose Minderwertigkeit ihrer sogenannten Ideale (...) gerade nicht bewältigen können.“ (69)
Hinzu komme
„“(...) die Unbekümmertheit, mit der man in Deutschland bis zur Gefangennahme von Eichmann sich offenbar damit abgefunden hatte, die Mörder ‚unter uns‘ zu wissen, ohne ihnen den Prozeß zu machen, ja ihnen vielfach zu ermöglichen, ihre Karrieren ruhig fortzusetzen – nun natürlich ohne Mord und Totschlag – als sei nichts oder doch beinahe nichts passiert.“ (70)
„Politisch, scheint mir", so Arendt im Fernseh-Gespräch mit Thilo Koch,
„wird das deutsche Volk berechtigt sein, diese furchtbare Vergangenheit für bewältigt zu erklären, wenn es die Mörder, die immer noch unter ihm unbehelligt leben, abgeurteilt und alle wirklich Belasteten aus den Positionen des öffentlichen, nicht des privaten und Geschäftslebens entfernt hat. Wenn das nicht geschieht, wird die Vergangenheit trotz allen Geredes unbewältigt bleiben – oder man wird warten müssen, bis wir alle tot sind.“ (71)
Praktisch sah das dann so aus:
„Fünfzehn Jahre gingen ins Land der Täter, Mitläufer und Zuschauer, ins Land des fleißigen Wiederaufbaus und des unverhofften Wirtschaftswunders – (…) obschon die Strafverfolgungsbehörden von Amts wegen [StPO § 152] verpflichtet waren, die von Deutschen begangenen Verbrechen zu ahnden – (…) bis eine bundesdeutsche Staatsanwaltschaft erstmals systematische und umfassende Ermittlungen gegen SS-Personal des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau (1940–1945) einleitete und im Rahmen eines Sammelverfahrens den Versuch unternahm, den Verbrechenskomplex Auschwitz aufzuklären.“ (72)
Erst in den 1970er-Jahren sollte durch Bewusstseinsveränderung – eine der Folgen der Studentenproteste – die deutsche Justiz aufwachen. Die Studenten hatten sich in ihrem Kampf die Kritik an der Ignoranz und Verweigerungshaltung von Politik und Gesellschaft sich einer Aufarbeitung der Vergangenheit – gerade auch innerhalb der Justiz und den Universitäten („Unter den Talaren, der Muff von tausend Jahren“) zu stellen, ganz oben auf ihre Fahnen geschrieben. Der Konflikt wurde seitens der Studenten teilweise falsch adressiert (statt der Eltern-, hätte viel stärker eigentlich die Großeltern-Generation den Referenzpunkt für die kritischen Nachfragen der 68er bilden müssen, dessen männlicher Teil war durch den Krieg aber stark dezimiert wurden) und im Rahmen eines intergenerationell vielschichtigen Problems, bei dem Autorität und Autoritätsversagen eine wichtige Rolle spielten, ausgetragen.
Auch wenn es in dem Konflikt bei näherer Betrachtung nicht allein um Schuld, Sühne, Verantwortung und Verdrängung in Bezug auf die faschistische Vergangenheit, sondern auch noch um andere tiefenpsychologische Probleme ging – was zum Resultat hatte, die Komplexität des Konflikts lange Zeit für beide Seiten undurchschaubar und dadurch besonders belastend zu machen – war es dennoch ein großes Verdienst der Studentenbewegung, die Diskussion um die Aufarbeitung der Vergangenheit überhaupt ins Rollen gebracht zu haben. Nicht zufällig fiel dies ja auch mit dem einzigen Demokratisierungsschub zusammen, den die Bundesrepublik erleben und der bis zur heißen Phase des RAF-Terrorismus trotz einiger Rückschläge, wie die Einführung des „Radikalenerlasses“ im öffentlichen Dienst, der Rücktritt Willy Brandts und der frühe Tod des linksliberalen FDP-Reformers Karl-Hermann Flach anhalten sollte.
Das alles – um hier den Faden hier wieder aufzunehmen – konnte den Frieden, den die Politik mit Arendt qua Umgarnung und Beförderung ihrer Person in den – gemeinen Sterblichen ja bekanntermaßen verwehrt bleibenden – Klassikerhimmel machte, nicht stören. Im Gegenteil: Unbequeme Geister „wegzuloben“ war hierzulande schon immer eine der probatesten Methoden sie unschädlich zu machen, bevor sie der deutschen „Volksseele“ wirklich gefährlich werden – Goethe ist ein weiterer, höchst lehrreicher Fall dafür. (73)
Die Verkennung Arendts: Kein Missverständnis, sondern motivierte Fehlleistung
Meine rezeptionsgeschichtliche These beruht also nicht auf der Annahme, dass es sich beim Umgang mit Arendts Werk um ein Missverständnis handelt – mag dies auch in der verschärften Form eines nicht zufälligen, sondern strukturellen Missverständnisses unterstellt werden – sondern geht darüber hinaus:
Das Schicksal, das Hannah Arendts Werk in Deutschland widerfuhr, liegt an einer teils absichts-, teils ahnungsvollen Verkennung, die in dem Maße immer festere Formen annahm, in dem der republikanische Anspruch und die demokratische Substanz sich in der Bundesrepublik verflüchtigten. Der revolutionär-freiheitliche, radikal-demokratische, emanzipatorisch-herrschaftskritische Geist Hannah Arendts – der klar beweist, dass Arendts politisches Denken im besten Sinne links ist, jedenfalls dann, wenn man die sogenannte Linke – ihr finales autoritäre Outing in der Corona-Krise gilt es dafür noch näher zu untersuchen – und damit einen Großteil dessen, was sich früher und heute als links bezeichnet, von dem Begriff abzieht, ist bis heute in Deutschland nicht erfasst, geschweige denn gewürdigt worden. Dies Nicht-Begreifen ist in erster Linie dem Verstrickt-Sein der deutschen Nachkriegsöffentlichkeit in die Verbrechen des Nazi-Regimes geschuldet. Dieses Verstrickt-Sein ist als der eigentliche, bis heute ungelöst gebliebene gordische Knoten anzusehen, der eine immanent textkritische und unvoreingenommene Lektüre ihres Werkes zu einem derart schwierigen Unterfangen machte. Es lehrt uns, dass Reflexion eben immer nur um den Preis der Selbstreflexion des oder der Handelnden zu haben ist.
Aus diesem Grund habe ich Wert daraufgelegt, eingangs ausführlicher zu referieren, wie die psychopolitische Verfasstheit und der Umgang der Bundesrepublik mit der totalitären Vergangenheit von Anfang an die angemessene Rezeption des politischen Denkens Hannah Arendts untergruben. Darauf, dass seitdem das totalitäre Erbe sich höchstwahrscheinlich als das Demokratie-Problem der Deutschen perpetuiert haben dürfte, wodurch es höchst virulent bis in unsere Gegenwart hineinwirkt und sie unbewusst beeinflusst, macht das folgende Zitat aufmerksam. Es ist einem jüngst erschienenen Sammelband kritischer Texte zur Corona-Krise entnommen:
„Eine echte demokratische Kultur hat sich in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg nie entwickelt, sie blieb stets auf Teilsegmente der Gesellschaft beschränkt. Hinzu kommt offensichtlich eine über viele Generationen eingeübte und im Tiefenbewusstsein verankerte Autoritätshörigkeit und Staatsgläubigkeit.“ (74)
Am Schluss des ersten Kapitels, das die speziellen Probleme der deutschen Hannah Arendt-Rezeption näher zu beleuchten versuchte, lautet das Resümee daher:
Die Bundesrepublik Deutschland machte es sich leicht mit Arendt.
Hannah Arendts Werk aber hat man es dadurch besonders schwer gemacht.
Denn wer sich näher mit dieser klugen, faszinierenden Frau und unbestechlichen Denkerin auseinandersetzt und dabei die üblich gewordenen Scheuklappen ablegt – wer sich also einen unvoreingenommenen Zugang auf ihr Leben und Werk erarbeitet, was am besten dadurch gelingen kann, dass man sie einfach beim Wort nimmt – der weiß, dass nichts weniger dieser streitbaren Intellektuellen gerecht werden kann, als wenn man sie aus den Wirren und Kämpfen der politischen Gegenwart, ihrer Nachwelt, herauszuhalten oder herauszuziehen versucht. Dem Ansatz affirmativ-historisierender, ikonografischer Stilisierung folgt aber die Methode, die bevorzugt immer dann Anwendung findet, wenn Denker, deren Theorien für die herrschende Gesellschaftsordnung „Dynamit“ (Nietzsche) sind, weihevoll auf hohe Sockel postiert und ins Museum, wie hier z.B. in die Abteilung „große Staatsphilosophen“ abgeschoben und entsorgt werden. Abgeschoben und entsorgt wurde und wird auch „der Fall“ Hannah Arendts. Dabei ist ihr Denken, so formuliert es der bereits erwähnte Politologe Oliver Marchart, gerade wegen seines „unzeitgemäßen Optimismus aktuell“. Denn Arendt
„verteidigt einen emphatischen Begriff des Politischen, wo dieses Politische längst abgeschrieben wurde – und sich doch immer wieder zurückmeldet (...). In ihrem Werk wird die Tatsache evident, dass die Welt verändert werden kann, dass nichts so bleiben muss, wie es ist, und dass, im Pathos der Globalisierungskritiker gesprochen, eine andere Welt möglich ist.“ (75)
Der revolutionäre Gestus ihres Denkens lässt sich in mehrfacher Hinsicht unter die Kategorie intellektuellen „Sprengstoffs“ fassen. Dazu gehört die Überzeugung, dass der Mensch als Handelnder den Maßstab aller (politischen) Dinge darstelle - und nicht etwas Äußerliches, seien es die Gesetze oder die Ideen.
Keiner Rezeption, die als Teil eines vorherrschend restaurativen und reaktionären, autoritätshörigen und staatstragenden Überbaus, der Demokratie in praxi nur gutheißt, wenn sie auf Sparflamme gesetzt ist und auf Sparflamme bleibt – d.h. in wenigen, eingehegten Reservaten der Gesellschaft, an Spezialisten delegiert, berufsmäßig ausgeführt und in inneren, abgedunkelten Räumen der Macht statt an der lichten und frei zugänglichen Öffentlichkeit der Polis verhandelt wird – konnte das je genehm sein noch genehm werden. Die Demokratie in der Bundesrepublik wurde gleich zu Beginn der Bundesrepublik dazu verurteilt, sich als politische Handlungs-und Lebensform gerade nicht entwickeln zu können.
Die neue politische Klasse bestand überwiegend aus der alten – wirkliche Ausnahmen bildeten nur die wenigen Unbelasteten, die im neuen Staat aber ständig übler Nachrede und Diffamierung ausgesetzt wurden und die freien, unabhängigen Geister, die man in der Rolle von Politikern aber nie ganz ernst zu nehmen gewillt war. Diese politische Klasse bekannte sich von Beginn der Bundesrepublik an nur halbherzig zur Demokratie. Sie nahm den republikanischen Geist und damit das revolutionäre Erbe der Demokratie nie an. Die Spannung, die politisch daraus entstand, durchzieht Hannah Arendts Werk sozusagen seismographisch und lotet sie nach allen Richtungen hin aus. Die Spannung besteht zwischen ihrer Erkenntnis der Freiheit als dem Sinn von Politik und dem faktischen Dementi dieses Sinns durch die repräsentative Demokratie. Es handelt sich dabei, wie sie in „Über die Revolution“ schreibt,
„um den Kampf des Volkes gegen den erbarmungslos zentralisierten Staatsapparat, der unter der Vorgabe, die souveräne Nation zu verkörpern, daranging, das Volk aller Macht zu berauben. (...) Das Recht, zu den öffentlichen Angelegenheiten zugelassen zu werden, wurde und wird dem Volk weiterhin verwehrt“. (76)
Was liegt unter solchen Umständen näher,
„als der (...) gefährlichen Theorie zuzustimmen, derzufolge zwar alle Macht vom Volke stammt, das Volk aber diese Macht nur am Wahltag besitzt, wonach sie Eigentum der Regierenden wird“? – Aber: „(...) politische Freiheit (...) ist nie verwirklicht, wenn das Recht auf aktive Teilhabe an den öffentlichen Angelegenheiten den Bürgern nicht garantiert ist.“ (77)
Nach diesen Worten scheint es fast überflüssig zu sein, am Schluss des Kapitels noch einmal zu betonen, dass genau diese Einsichten (und einige weitere, die wir im Verlauf der Darstellung noch kennenlernen werden) es sind – welche Arendts Denken so aktuell und weiterhin „gefährlich“ machen.
III Hannah Arendts Befreiung aus der Musealität
Die Gegenwehr der überflüssigen Menschen
Nun erleben wir gerade heute, in einer Zeit, in welcher auf bedauerungswürdige Art und Weise die Demokratie und der Republikanismus selbst zu Schatten ihrer selbst verkümmert sind, wie Hannah Arendts Werk ganz praktisch von einer engagierten, Partizipation und Mitbestimmung fordernden, basisdemokratischen Graswurzelbewegung, aus ihrer sterilen Musealität befreit wird:
Einer Bewegung, die sich rund um den Erdball als Antwort auf das Wiedererstarken totalitärer Tendenzen innerhalb demokratischer Systeme – genau dem Phänomen, vor dem Arendt immer wieder gewarnt hatte – in kürzester Zeit formiert hat.
Eindrücklich beschreibt Arendt die Gefahren eines neuen Totalitarismus, der hervorgetrieben wird durch eine unheilige Allianz zwischen dem technologischen Fortschritt und der Atomisierung und Entwurzelung der Subjekte in den modernen Massengesellschaften. Unter der Ägide einer bürokratisch-technokratisch verkürzten Zweck-Rationalität, die Vernunft in ihr Gegenteil umschlagen lässt, werden die Bedingungen für ein politisch-gestaltendes Miteinander-Handeln immer schwieriger, die Räume dafür immer enger gezogen. Was sich nun aber, wenige Minuten – oder sind es Sekunden? – vor zwölf beim Ausschlag des Pendels auf der Weltkatastrophen-Uhr zeigt, ist die Emanation einer Erhebung der Vielen im Bild der ansteigenden Welle. Sie schlägt den Wenigen entgegen, welche die Überzeugung gewonnen haben, die Vielen nicht mehr zu benötigen. Ja, die Wenigen glauben, dass die Vielen nicht einmal mehr im Konjunktiv in Zukunft als „humankapitalistische Ressourcenreserve“ noch zu gebrauchen sein werden – woraufhin man sie einfach für „überflüssig“ erklärt:
„Die ungeheure Gefahr der totalitären Erfindungen, Menschen überflüssig zu machen, ist, daß in einem Zeitalter rapiden Bevölkerungszuwachses und ständigen Anwachsens der Bodenlosigkeit und Heimatlosigkeit überall dauernd Massen von Menschen im Sinne utilitaristischer Kategorien in der Tat ‘überflüssig‘ werden. Es ist, als ob alle entscheidenden politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Tendenzen der Zeit in einer heimlichen Verschwörung mit den Institutionen sind, die dazu dienen könnten, Menschen wirklich als überflüssig zu behandeln und zu handhaben (…) Ganz gleich wie lange die gegenwärtigen totalitären Systeme sich halten können (…) steht zu befürchten, daß die Konzentrationslager und Gaskammern, welche zweifellos eine Art Patentlösung für alle Probleme von Überbevölkerung und ‚Überflüssigkeit‘ darstellen, nicht nur eine Warnung, sondern auch ein Beispiel bleiben werden.“ (78)
Zu den „überflüssigen Menschen“ in ihrer zeitgenössisch aktuellsten Fassung – und wie aufgrund der Logik des technologischen Fortschritts mit ihnen in Zukunft umgegangen werde – hat der israelische Historiker und Bestseller-Autor Yuval-Noah Harari („Homo Deus. Eine Geschichte von morgen“, deutsche Ausgabe 2017), ein führender intellektueller Kopf hinter der transhumanistischen Global Governance-Agenda, die vom World Economic Forum (WEF) vorangetrieben wird, kürzlich folgendes bemerkt:
„Die beiden Prozesse – Biotechnologie gekoppelt mit dem Aufstieg künstlicher Intelligenz – könnten (...) im Zusammenspiel dazu führen, dass sich die Menschheit in eine kleine Klasse von Übermenschen und eine riesige Unterschicht nutzloser Homo Sapiens aufspaltet. Diese ohnehin bereits düstere Lage könnte sich noch weiter verschlimmern, denn wenn die Massen ihre ökonomische Bedeutung und ihre politische Macht verlieren, dann könnte der Staat zumindest teilweise den Anreiz verlieren, in ihre Gesundheit, Bildung und Wohlfahrt zu investieren. Es ist höchst gefährlich, überflüssig zu sein. Die Zukunft der Massen wird somit vom guten Willen einer kleinen Elite abhängen. Vielleicht besteht dieser gute Wille ein paar Jahrzehnte lang. Doch im Falle einer Krise – etwa einer Klimakatastrophe – wäre es ziemlich verführerisch und nicht besonders schwer, die überflüssigen Menschen einfach über Bord zu werfen.“ (Hervorhebungen im Text von mir, B.S.) (79)
Abgesehen davon, dass es schon erstaunlich ist, wie ein Jude – selbst einer, der sich wie Harari von den religiösen Wurzeln seines Judentums erklärtermaßen gelöst hat (80) –angesichts der Erfahrungen seines Volkes mit der Shoah dazu kommt, dieses Problem und die davon betroffenen Menschen in solch kaltschnäuziger Art und Weise zu behandeln, zeigt das Statement des WEF-Chefberaters Harari, was beim durchschlagenden Erfolg der Artificial Intelligence und der biotechnologischen Revolution ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung (Harari spricht sogar von der „Zukunft der Massen“) „von einer kleinen Elite“ zu gewärtigen hat.
Wenn Harari für „die meisten Menschen (…)“, die man dann „nicht mehr brauchen kann“ an anderer Stelle die (Zwischen?-)Lösung parat hat, sich in Zukunft „in virtuellen Realitäten zu tummeln“ und „sich mit 3D-Computerspielen zu unterhalten“, verrät das nicht nur viel über sein zynisches Menschenbild, sondern signalisiert auch, wohin die Reise auf dem Ticket der „vierten industriellen Revolution“ gehen soll. (81)
Harari, der genau wie Klaus Schwab betont hat, dass die Corona-Krise ein window of opportunity sei, um die Global Governance-Agenda implementieren zu können, sieht ein wichtiges Ergebnis der Pandemiepolitik darin, dass sie zur wachsenden Bereitschaft in der Bevölkerung geführt habe, sich umfassend überwachen zu lassen. Durch die Virusangst seien Veränderungen im Bereich der Einstellungen und des Verhaltens möglich geworden, von denen Politiker und Konzernlenker in normalen Zeiten nur hätten träumen können:
„In dieser Zeit der (Corona-)Krise wird alles überwacht, in dieser Zeit wird der Wissenschaft gefolgt. Es wird gesagt, dass man eine Krise nie ungenutzt verstreichen lassen sollte, denn eine Krise ist auch eine Gelegenheit Gutes oder auch Falsches zu tun. In normalen Zeiten würden die Menschen dem niemals zustimmen, aber in einer Krise haben wir eine Chance, also lasst es uns tun!“ (82)
Damit sprechen Harari und Schwab wiederum lediglich aus, worauf bereits die Pandemieplanspiele wie z.B. „Clade X“ (2018) und „Event 201“ (2019) ausgelegt waren. So spielte die Frage, wie man etwaigen Widerstand gegen eine Beschneidung oder Aufhebung von Grundrechten im Pandemiefall erst in Schach halten und dann unterbinden bzw. brechen könne, bei den Ernstfall-Vorbereitungen eine wichtige Rolle. Die aus früheren Informationskriegen gewonnenen Erkenntnisse sollten in den Pandemieszenarien nun direkt gegen die eigene, möglicherweise sich renitent verhaltende Bevölkerung, geprobt, durchgespielt und konzertiert zum Einsatz kommen. Trotzdem wurden einerseits die Widerstände und Proteste dann in der Realität des „offenen Feldversuchs“ vom Pandemiemanagement unterschätzt. So gelang es letztlich den beiden Regierungen, die am weitesten in Europa politisch in diese Richtung vorpreschen sollten, Österreich und Deutschland, nicht, ihre Impfpflichtpläne aufgrund des öffentlichen Widerstandes durchsetzen. Millionen von „Impfunwilligen“ (jeweils etwa 20% der Gesamtpopulation beider Länder) zu kriminalisieren, schien den Regierungen dann doch nicht möglich zu sein.
Die meisten anderen Länder drehten schon früher bei und „beendeten“ die sog. Pandemie im Frühjahr 2022. Bedingt durch die föderal-bundesstaatliche Ordnung, waren in den USA schon 2020 starke Unterschiede im Umgang mit Covid-19 auf der Ebene der einzelnen Bundesstaaten zu sehen. (Dieses Schisma in der Politik in den USA ist übrigens auch dem Zweiparteien-System geschuldet, was „große Koalitionen“, die im Ausnahmezustand über größere Zeiträume hinweg paktieren etwas weniger wahrscheinlich machen.) Andererseits führten Maßnahmen wegen ihrer Sinnlosigkeit und Übergriffigkeit – wie lebensfeindlich-rigide Verbote und der Einsatz brutaler Polizeigewalt in mehreren Ländern zeigten – in den Teilen der Bevölkerung, die nicht hundertprozentig hinter dem offiziellen Narrativ standen, statt zur abschreckenden, Gehorsamkeit trainierenden Verhaltenskonditionierung, zum gegenteiligen Effekt: maßnahmenkritische Kundgaben erhielten durch spontane Solidarisierungseffekte mehr Unterstützung und Zulauf; doch vor allem drehte sich die Stimmung im Laufe der sog. Pandemie: ein Effekt, der durch das unverhältnismäßig harte Durchgreifen der Staatsmacht mit ausgelöst wurde.
Das defizitäre Menschenbild des Transhumanismus und die „Herrschaft des Niemand“
Je mehr auf den alternativen und Social-Media-Kanälen über die Hintergründe des Great Reset bzw. der Agenda 2030 und ihrer Zusammenhänge mit den Impfprogrammen der GAVI-Impfallianz und den Gates-und Rockefeller-Stiftungen bekannt wurde –einschließlich der brisanten Rolle, die die Pharma-und Biotechnologie-Lobby in der durch sie gekaperten Weltgesundheits-Organisation (WHO) spielt – desto stärker kamen auch die problematischen Züge des transhumanistischen Menschenbildes an die Oberfläche. Denn der Transhumanismus, der den wissenschaftlich-ideologischen Hintergund für die Bestrebungen und Ziele der Global Governance liefert, beruht auf einem defizitären Bild vom Menschen:
"Im Transhumanismus verdichtet sich das negative Menschenbild zu einer Ideologie der Lieblosigkeit, in der der Mensch schlichtweg als suboptimales Auslaufmodell angesehen wird",
so Sarah Spiekermann, Professorin für Wirtschaftsinformatik an der Wirtschaftsuniversität von Wien. (83)
Nach Auffassung der Transhumanismus-Anhänger in den Spitzenpositionen vieler führender IT-Konzerne im Silicon Valley seien Menschen Wesen, die „ähnlich wie vorhersehbare Computersysteme funktionieren“. Dies, so Spiekermann, „beeinflusse die Entwicklung digitaler Technologien, die wiederum großen Einfluss auf unser Leben“ hätten:
"Der Transhumanismus geht oft von der Annahme aus, dass Menschen unglücklich sind, dass sie suboptimal sind und dass sie rein rationale Präferenz-Optimierer sind. (…) Das ist ein unschönes Menschenbild, und wir müssten in der Spätmoderne ein besseres entwickeln, das mehr Vertrauen in den einzelnen Menschen setzt",
so lautet Spiekermanns Plädoyer. (84)
Seit fast drei Jahren erleben wir nun, dass sich hinter den Losungen für und den Forderungen nach Freiheit und Gleichheit und für Selbstbestimmung und Teilhabe am politischen Prozess, kritisch fühlende, denkende und handelnde Menschen versammeln. Sie können als der lebendige Gegenbeweis für das von einer tiefen Seinsvergessenheit (Heidegger) durchdrungene transhumanistische Menschenbild angesehen werden. Dessen Cyborgs erzeugende Transplantationsszenarien sind selbst Ausdruck eines in naiver Technikgläubigkeit befangenen Komplexitätsreduktionismus, der deshalb letztlich auch zum Scheitern verurteilt sein wird. (Die Prognose ist nur scheinbar beruhigend, denn die entscheidende Frage wird dabei sein, welchen Preis wir alle für das Scheitern dieser ultramodernen Hybris bezahlen müssen, und er könnte sehr hoch sein).
Auch wenn der Transhumanismus zunächst nicht im Vordergrund der Proteste stand, wurde in zahlreichen Ländern ein neues Kapitel im Kampf eines – im besten Sinne – populistischen, d.h. von der Basis der Gesellschaft kommenden, parteipolitisch nicht instrumentalisierbaren demokratischen Widerstandes gegen Staatsautoritarismus und die Gefahren eines neuen, „smarten“ Totalitarismus (85) aufgeschlagen. Die seither nicht mehr verebbenden, selbstorganisierten Proteste verweisen deutlich darauf, dass die totalitaristische Bedrohung nicht vorüber ist – auch nach dem Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen in repräsentativ verfassten Demokratien nach Ende des Faschismus und dem zweiten Weltkrieg nicht. Hannah Arendt hatte das bereits im Jahr 1955 vorausgesehen. Am Ende von „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ heißt es:
„So wie in der heutigen Welt totalitäre Tendenzen überall und nicht nur in totalitär regierten Ländern zu finden sind, so könnte diese zentrale Institution der totalen Herrschaft leicht den Sturz aller uns bekannter totalitärer Regime überleben.“ (86)
Im Vergleich zu Arendts Lebzeiten richtet der Protest sich gegen die unter monopolkapitalistischen Bedingungen im transnationalen Maßstab weiter entwickelten, unter dem Dach von Big Money und Big Data wesentlich national und regional entgrenzt operierenden technologischen und bürokratischen Apparate. Deren Eigenheit besteht darin, die „Herrschaft des Niemand“ (Arendt) auf die Spitze zu treiben:
„Je mehr die Bürokratisierung des öffentlichen Lebens zunimmt“ (für die heute die Digitalisierung den Schlüsselbegriff liefert, Anm. B.S.) „desto stärker wird die Versuchung sein, einfach zuzuschlagen. Denn in einer vollentwickelten Bürokratie“ (lies: der Digitalisierung oder „Herrschaft der Algorithmen“, Anm. B.S.) „gibt es, wenn man Verantwortung verlangt oder auch Reformen, nur den Niemand. Und mit dem Niemand kann man nicht rechten, ihn kann man nicht beeinflussen oder überzeugen, auf ihn keinen Druck der Macht ausüben. Bürokratie ist diejenige Staatsform, in welcher es niemanden mehr gibt, der Macht ausübt; und wo alle gleichermaßen ohnmächtig sind haben wir eine Tyrannis ohne Tyrannen.“ (87)
Arendt selbst sah die durch die ungeheure Beschleunigung der technischen Produktivkräfte-Entwicklung zu globalen Dimensionen sich ausweitende, bündelnde und fortschreitend zentralisierte Macht für bedrohlich an. So schreibt sie in „Nationalstaat und Demokratie“:
„Wirkliche Demokratie (…) kann es nur geben, wo die Machtzentralisierung (…) gebrochen ist und an ihre Stelle die dem föderativen System eigene Diffusion der Macht in viele Machtzentren getreten ist. Gegen das Machtmonopol eines zentral organisierten Staatsapparats ist nicht nur der Einzelne, sondern auch die aus Einzelnen bestehende Gruppe fast immer ohnmächtig, und die Ohnmacht des Bürger, selbst bei Wahrung aller seiner bürgerlichen Rechte, steht in einem grundsätzlichen Gegensatz zur Demokratie in all ihren Formen.“ (88)
Als Antwort auf die wachsende Gefahr der Entmündigung und Enteignung des Menschen durch eine Apparatelogik, deren Modalitäten Herrschaft zu funktionalisieren nach Auffassung Arendts für den Sinnverlust und die Zerstörung „einer mit anderen (Menschen) in der Perspektivenpluralität (…) geteilten Welt“ (89) stehen, schließen die Menschen sich zu spontanen, herrschaftsfreien Aktionsgruppen-und Bündnissen zusammen. Sie weisen eine durchaus schillernde und neue soziologische Qualität auf. (90) In jedem Prozess politischer Subjektwerdung werden sie sich aufs Neue ihrer Macht gewahr: Sie und nur sie sind Arendt zufolge imstande die ungerechte, gegen die Freiheit gerichtete Ordnung zu zerschlagen, „und zwar aus dem einfachen Grund, weil sie die große Zahl und die wirkliche Macht auf ihrer Seite haben“ (91).
Fundamental artikuliert sich für Arendt darin die menschliche Fähigkeit, „nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln“. Trotz aller Verschiedenheit, die wesensmäßig bei ihr die eine Seite des Begriffs der Pluralität ausmacht – die Gruppen setzen sich sehr heterogen aus Individuen, breit über das Spektrum (fast) der gesamten Gesellschaft gestreut zusammen; gehören, abwärts der Oberschicht, verschiedenen Schichten und Milieus an, spiegeln dabei mehrheitlich aber durchaus das wider, was als bürgerliche Mitte zu bezeichnen ist – eint sie ihr Eintreten für die verfassungsmäßige Ordnung, für die Wahrung und Achtung der Menschenwürde und die Forderung nach Schutz und Einhaltung aller Grundrechte.
So verbinden und verbrüdern sie sich im Kampf für Freiheit und Selbstbestimmung gegen eine globalistische Kamarilla, die sich anmaßt, immer stärker in jedes Leben hineinzuregieren und es zu reglementieren. Die Grundrechtebewegung will dagegen den Gemein- und Bürgersinn, die souveräne Autonomie der Subjekte und die selbstorganisierte, demokratische Kultur – die die „Gleichheits-Seite“ der Pluralität bezeichnen – stärken. Die Gemeinwohlorientierung soll anstelle übermächtig gewordener Partikularinteressen – wie sie durch die Eliten, von der Global Governance ausgehend, überall verfolgt, propagiert und durchgesetzt werden – wieder als allgemeine Richtschnur anerkannt bzw. als verbindliche regulative Idee des politischen Handelns aufs Schild gehoben werden.
Darüber hinaus wird – gerade unter dem Eindruck des Ukraine-Krieges – die Rückbesinnung auf eine dem Frieden und der Abrüstung dienende Politik verlangt, die aktiv zur Entspannung und Deeskalation internationaler Konflikte beiträgt, z.B. durch eine Diplomatie der kleinen Schritte, das verloren gegangenes Vertrauen auf beiden Seiten vorsichtig wieder herzustellen versucht („Wandel durch Annäherung“).
Die Protestierenden sprechen sich für ein gewaltfreies, friedliches und gedeihliches Zusammenleben aller Völker und Staaten – bei Anerkennung ihrer kulturell und religiös unterschiedlich geprägten Wertvorstellungen und Weltzugänge aus. Die Schaffung einer unipolaren Weltordnung, in der die pax americana imperialistisch-aggressiv mit dem Ziel exportiert wird, hegemonialen US-amerikanischen Anspruch auf alle Weltregionen zu erheben und gegenüber allen Menschheitsfamilien durchsetzen zu wollen, wird eine klare Absage erteilt.
Dagegen wird das Modell einer multipolaren Ordnung gesetzt, mit mehreren, möglichst gleich starken Machtzentren – ein Ordnungsmodell, dessen Vorteile durchaus in Analogie zur Organisation und dem Regelwerk der Gewaltenteilung auf nationaler oder international-regionaler Ebene zu sehen sind. Nur das multipolare Modell ist in der Lage, Willkür und Tyrannei durch ein bestimmtes Land im supranationalen, globalen Maßstab zu verhindern; durch ein Land, das seine Interessen, sein Wertesystem und Weltbild allen anderen Nationen, sei es durch wirtschaftliche („Freihandel“, Korruption, Sanktionen), politische (Regime Change) oder militärische Gewalt (Krieg, Stellvertreterkrieg, Interventionen) aufzwingen will. An diesem Punkt muss hinzugefügt werden, dass es realpolitisch auf der ganzen Welt nur einen einzigen Vertreter dieses Oktroyismus gibt: Die Vereinigten Staaten von Amerika.
Schließlich dürfte – nicht zu vergessen – ein ganz wichtiger, alle verbindender Handlungsantrieb in dem sehnlichen Wunsch nach Erneuerung der Politik aus dem Geist von Wahrheit und Wahrhaftigkeit liegen. Zum Thema Wahrheit und Lüge in der Politik wies Arendt ausdrücklich darauf hin, dass auch in Demokratien immer wieder Tatsachenwahrheiten wie bloße Meinungen behandelt würden. (92)
In Anbetracht des heute im Dreieck von Politik, Verwaltung und Big Business (Rüstung, IT, Pharmaindustrie, Biotechnologien/Human-Enhancement-Wissenschaften) global herrschenden, gigantischen Ausmaßes an institutionalisierter Korruption (93) , kann der allgemein etablierte äußerst „flexible“, rein taktische Umgang mit Lüge und Wahrheit, bei der die Wahrheit notwendigerweise auf der Strecke bleiben muss, nicht verwundern. Besonders ruchbar wurde das in der Corona-Krise, die politischen Entscheidungen begleitet es aber schon länger. So schreibt der Politikwissenschaftler van der Pijl: „Täuschung und Propaganda in Bezug auf wichtige historische Ereignisse sind seit den 1990er Jahren zur Routine geworden.“ (94)
In der Folge davon werden Institutionen, die eine Kontrollfunktion für den Schutz der Bevölkerung ausüben sollen – die also ihrer Satzung nach im Auftrag und Dienst des nationalen oder europäischen Souveräns (im Rahmen der EU) zu handeln verpflichtet wären – wie z.B. die EMA (European Medicines Agency), so stark durch finanzielle Abhängigkeiten und lobbyistische Einflussnahmen ins Fahrwasser mächtiger privatkapitalistischer Interessen dirigiert, dass sie der Erfüllung ihrer Aufgaben nicht oder nicht mehr hinreichend nachkommen können. Das gilt auf globaler Ebene auch für die Welt-Gesundheits-Organisation (WHO), die politisch im Zuge gravierender Umstrukturierungen innerhalb der Global Governance-Institutionenarchitektur, sehr weit reichende Befugnisse auf dem Public Health-Sektor erhalten hat. Geht es nach den Vorstellungen der USA, Deutschlands und einigen anderen einflussreichen Staaten, soll die WHO zu einer globalen Super-Gesundheitsregierung mit vielerlei Sondervollmachten bei Gesundheitsgefahren und -notständen um- und ausgebaut werden, die nur sie an den nationalen Parlamenten und Regierungen vorbei definieren bzw. selbst nur ausrufen können soll. (95)
Auch die Nicht-Regierungsorganisationen (NGO), die so etwas wie das zivilgesellschaftliche Rückgrat der demokratischen Länder bildeten, stehen seit etwa zehn bis zwanzig Jahren immer stärker im Fadenkreuz institutionalisierter Korruption. Seither haben außerordentlich finanz-und reichweitenstarke Netzwerke, die für die Global Governance arbeiten, ihre Bemühungen zur Unterwanderung kritischer NGO intensiviert. Das führt in immer mehr Fällen dazu, dass der kapitalismus-und globalisierungskritischen Arbeit dieser Organisationen die Spitze abgebrochen wird. Die Umlenkung erfolgt z.B. durch Personalrochaden, in deren Zusammenhängen unbestechlich-integre, auf ihre politische Unabhängigkeit pochende Aktivisten kaltgestellt bzw. anhand fingierter Beschuldigungen gezwungen werden, die NGO zu verlassen.
Beliebt sind auch Mittel des Sponsorings wie sonstiger sog. Incentives, die die NGO nicht nur finanziell an die Leine informeller und intransparent agierender „Relaisstationen“ der Global Governance legen und für das Politik-Establishment steuerbar machen. Dadurch werden sie als potenziell politisch gefährliche Faktoren neutralisiert. Moritz Müller hat kürzlich in einem Artikel über das auffallend zurückhaltende Engagement von Amnesty International, für die Freiheit und das Leben Julian Assanges, insbesondere auf der Leitungsebene dieser bekannten und wichtigen NGO, auf den Nachdenkseiten den Eindruck geäußert,
„dass es in der Welt der Nichtregierungsorganisationen ein Karussell gibt, mit dem das Führungspersonal von einer Organisation zur anderen, dann in Regierungsämter und wieder zurück wechselt.“ (96)
Um den NGO entsprechende Stromlinienförmigkeit zu verpassen, muss in den meisten Fällen nicht einmal deren Status angetastet, geschweige denn ihre Existenz in Frage gestellt werden. Das gilt gleichermaßen für Umwelt, Natur-und Tierschutzinitiativen, soziale Bewegungen, Organisationen, die gegen Lobbyismus und Korruption aktiv werden, wie für Bewegungen, die sich für stärkere Bürgerbeteiligung und Basisdemokratie einsetzen.
Arendts Republikanismus und das Fehlen eines „konkreten Organs der Demokratie“
Das Versagen der NGOs macht das Problem und die Dringlichkeit, hier Abhilfen zu schaffen, nur noch deutlicher: In schmerzhafter Weise drehen sich heute die Anliegen der Protestierenden wiederum um das, was die amerikanische und Französische Nach-Revolutionsgesellschaften schon rund 250 Jahren vor uns durchlebt haben und als politische Kollektive bearbeiten mussten. (97) Letztlich kreist alles um das Fehlen „eines konkreten Organs der Demokratie“ (Arendt), ein Organ, in dem die Bürger ihre öffentlichen Interessen in Form von Kritik, Verbesserungsvorschlägen oder als Eingaben und eigene Initiativen nicht nur wirksam im Rahmen der republikanischen Verfassung formulieren und an die Regierung adressieren können, sondern mit der Republik ein konstitutives Organ bereitsteht bzw. bereitgestellt wird, das garantiert, dass die Menschen selbst sich zum politischen Handeln aufgerufen fühlen (können) und tatsächlich dazu berufen sind, öffentlich und frei an der Gestaltung und Entwicklung ihres Gemeinwesens zu partizipieren. Anhand der
„Bilder von Tausenden von Menschen auf den Straßen, die sich der Gewalt und den Schikanen der Polizei widersetzen (…) sehen wir bereits eine populistische Bewegung, die von Tag zu Tag wächst.“
Sie hat die Macht, auf die geschichtliche Lage entscheidenden Einfluss zu nehmen, weil in ihr laut der Hamburger Philosophin Elena Louisa Lange der folgende Erkenntnisprozess heranreift:
Denn diese Menschen und viele andere, die zu erkennen beginnen, dass die entfesselte Macht des Staates eine gespaltene, schwache und willfährige Masse von Sujets, nicht von Citoyens, hervorbringt, sind die größte Gefahr für die herrschende Klasse. Die Macht der Eliten mag stärker sein als 1989, als das letzte Mal eine Massenbewegung zivilen Ungehorsams ein Regime zu Fall brachte. Aber die Parallelen sind offensichtlich. Und wir sind immer noch der Souverän.“ (98)
Im Hinblick auf den Souveränismus, der sowohl dem Begriff der Demokratie wie dem des Republikanismus – wenn auch auf unterschiedlich akzentuierter Weise zugrunde liegt – entwickelte sich in Arendts Denken als ein Resultat der Auseinandersetzung mit der amerikanischen und der Französischen Revolution der Republikanismus zur entscheidenden und wichtigeren Idee, da sie im Republikanismus – darin Thomas Jefferson, einem der Gründungsväter der US-amerikanischen Revolution und späteren Präsidenten (1801-1809) folgend – „die Gründung eines neuen öffentlichen Raumes, (...) in dem jeder ‚participant in government’ (Teilnehmer an der Regierung) werden konnte“, erblickte. (99)
Die republikanische Idee, jeder müsse „Teilnehmer an der Regierung werden können“ ist voraussetzungsreich, insofern als dass diese Idee zunächst einmal besagt, dass eine republikanische Regierung verpflichtet ist, die Meinungen aller der Republik angehörenden und an deren Diskursen aktiv teilnehmenden Bürgern zu achten, indem sie sie anhört, d.h. in die Entscheidungsprozesse mit aufnimmt. Mithin ist jede republikanische Regierung an der Bereitschaft zu messen, diese Meinungen frei und ohne Einschränkungen oder gar Zensur öffentlich zu diskutieren.
Man kann ohne Übertreibung sagen, dass Hannah Arendts republikanische Idee seit dem Frühjahr 2020 wieder hunderttausendfach Menschen inspiriert und bewegt. Menschen, die nicht bereit sind, ihrer Entmachtung als Souverän und der Zerstörung des republikanischen Souveränismus tatenlos zuzusehen, sondern stattdessen ihren Protest dagegen lautstark auf die Straße bringen.
Dies begann unter dem skeptischen und nach dem ersten Schock zunehmend ungläubigen Eindruck, den die Menschen unabhängig voneinander – da sie während der Covid-Krise ja tatsächlich voneinander separiert wurden – bezüglich der zur Eindämmung des SARS-CoV-2-Virus gewählten Maßnahmen gewonnen hatten. Nachdem auf historisch einmalige, nämlich global-synchronisierte Weise die Regierungen die Parlamente – bzw. diese sich selbst – ausschalteten und nicht nur illiberale, sondern illegitime Vorgehensweisen aus, wie heute bekannt ist, fingierten Katastrophenschutzgründen zur Staatsräson erklärt wurden, hätten angesichts der leidvollen historischen Erfahrungen mit dem Ausnahmezustand („Souverän ist der, der über den Ausnahmezustand entscheidet“, Carl Schmitt) für alle überzeugten Demokraten und Konstitutionalisten, d.h. für die Freunde der Verfassung, die Alarmglocken läuten und Zweifel und Kritik Einzug in den öffentlichen Diskurs halten müssen.
Zentraler Kritikpunkt dabei war und ist, dass ohne freie, pluralistische Diskurse und ohne eine auch nur auf diesem Weg sicherzustellende wissenschaftliche Evidenz hinsichtlich einer realistischen Gefahrenabschätzung in Bezug auf einen respiratorischen, die oberen Atemwege betreffenden Infekt, handstreichartig massive Grundrechtseinschränkungen – die weitreichendsten der Nachkriegsgeschichte – vorgenommen wurden. Der eigentlich aufgrund der Eingriffstiefe zwingend gebotene Abwägungsprozess zwischen einer akut gegebenen Gesundheitsgefahr und anderen schützenswerten gesellschaftlichen Gütern und Rechtgütern fand nicht statt, ernsthafte Prüfungen des Gesamtnutzens und der Gesamtkosten verhängter Maßnahmen unterblieben und stehen bis heute wegen einer nach wie vor nicht oder nicht zureichend ermittelten Datenlage aus. Grundsätzlich können pandemiepolitische Entscheidungen aber sinnvollerweise überhaupt nur auf der Basis solch gesicherter Daten getroffen werden (100). Dieses von ihnen selbst verschuldete Manko hielt die Politiker jedoch nicht davon ab, die Grundrechtseingriffe und Einschränkungen über einen Zeitraum von fast drei Jahren zu verstetigen.
Der Hauptvorwurf gegen die Regierungen lautet, dass sie dadurch ihre Kompetenzen und Befugnisse weit – viel zu weit – überschritten haben. In Deutschland, dessen Regierung im Vergleich schon früh durch einen besonders rigiden Kurs gegen die sog. Pandemie auffiel, folgten der Politisierung aufgrund des Grundrechtediebstahls schnell erste Demonstrationen. Die Demonstranten bekamen bereits im März/April 2020 die eiserne Hand der Staatsgewalt zu spüren, obwohl ihre Kundgebungen völlig gewaltlos abliefen und sie sich gegenüber den Ordnungskräften kooperativ und deeskalierend verhielten. Höhepunkt war dann die Demonstration am 1. August 2020 in Berlin, an der wohl deutlich mehr als hunderttausend Menschen teilnahmen.
Damit stellte sie die weltweit größte Manifestation maßnahmenkritischer, explizit sich auf die Grundrechte berufener Demonstranten im ersten Jahr der sog. Corona-Pandemie dar. Auffällig war, dass es sich – wie sich das schon zuvor bei globalisierungskritischen, sich gegen den internationalen Finanzkapitalismus und dessen Agenda gerichteten Demonstrationen während der Weltfinanzkrise 2008/09, und dann im Anschluss an sie, vor allem gegen die Freihandelsabkommen TTIP und CETA in den 2010er Jahre gezeigt hatte – bei den Protestierenden in der Regel nicht um die „üblichen Demo-Verdächtigen“ handelte, die sozusagen ohnehin aus ideologisch festgezurrten und traditionell-parteiagitatorischen Gründen die Straßen und Plätze bevorzugt zum Ort ihrer Proteste machen und diese „bespielen“.
Vielmehr kam es zu einer Politisierung von vor allem abstiegsgefährdeten oder den Abstieg selbst als besonders bedrohliches Syndrom wahrnehmenden Bevölkerungsteilen. Diese gehörten vorher nicht zum typischen Kern der gesellschaftlichen Protestmilieus. Folgerichtig organisierten sie ihren Protest auch spontan und losgelöst von parteiisch-sektiererischen, ideologisch stark, z.T. bis zur Militanz geprägten system-oppositionellen Subkulturen. Zusammengebracht wurden sie durch das individuelle Betroffensein – etwa aus Sorge um Rechtsstaat und Demokratie sowie durch die von den Maßnahmen hervorgerufenen materiellen Nöte und Abstiegsängste – und eine weitgehend sich überschneidende Situationswahrnehmung: merkwürdige Gleichzeitigkeiten und Gleichförmigkeiten bei der politischen Behandlung der Virusgefahr, Gleichausrichtung bei den Reaktions- und Kommentierweisen in den Massen- bzw. Leitmedien). Schlussendlich lag den Protesten übereinstimmend die Einschätzung zugrunde, dass wir es bei alldem mit einer gesteigerten Qualität und neuen Gestalt einer „Katastrophenpolitik“ zu tun haben, die in der Tat eine „Zeitenwende“ gegen die Interessen der breiten Mehrheit der Bevölkerung markiert.
Der Griff der Großkonzerne nach der Weltherrschaft
Ich bin bereits darauf eingegangen, wie durch die republikanische Idee, die Hannah Arendt in „Über die Revolution“ als das erkämpfte Recht der Bevölkerung participator in government zu sein, beschrieben hat, dafür Sorge getragen werden soll, dass „ein auf Wahl beruhender Despotismus, der ein ebenso großes und vielleicht noch größeres Übel (...) als die Monarchie“ darstellt – so Thomas Jefferson, den Arendt hier zitiert – vom Gemeinwesen nicht Besitz ergreifen kann. Nun sind gegen die spätestens seit dem Corona-Fehlalarm offensichtlich gewordene neue Form „der uralte(n) Unterscheidung von Herrschern und Beherrschten (...) die sich wieder durchgesetzt (...) hat“ (101), aufs Neue in hunderttausendfacher Zahl durch die Ereignisse Menschen wachgerüttelt und wieder inspiriert worden, unmittelbar als politisch Handelnde in Erscheinung zu treten, um sich „mit allem zu beschäftigen, was die Freiheit, Gleichheit, Einheit und Unteilbarkeit der Republik angeht.“ (Über die Revolution, S. 311).
Wenn ich „wieder“ geschrieben habe, so will ich damit etwas ansprechen, was im Zusammenhang mit der Protestbewegung gegen die globale Herrschaft der Global Corporate Governance eine wichtige Rolle spielt, aber in der überwiegenden Anzahl der Diskurse bzw. den landläufig verbreiteten Interpretationen über die Protesthistorie m.E. bislang unterbelichtet bzw. absichtlich verdeckt blieb. Tatsächlich stehen die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen mit den antiglobalistischen Kämpfen, die gegen eine konzernkapitalistisch getriebene Globalisierung geführt werden – welche allein deren Oligarchenklasse begünstigt und auf Kosten von 99% der Weltbevölkerung geht – im engsten Zusammenhang. (102) Diese Kämpfe nahmen Ende der 1990er Jahre mit der Occupy-Bewegung gegen die Politik der WTO (Welthandels-Organisation) in Seattle Fahrt auf.
Was sich schon lange vor der Corona-Krise abzeichnete – dass auf der Rückseite der Übermacht, die aus dem historisch singulären Reichtum resultiert, den die Spekulanten und shareholder des Finanzkapitalismus anhäufen, steigende Armut, extreme Verelendung und, insbesondere in der jungen Generation, zunehmend Perspektivlosigkeit und psychische Deprivation entsteht sowie außerdem eine Enteignung der besonders in den Zangengriff der Oligarchen genommenen Mittelschichten stattfindet – wurde mit dem vorläufigen Pandemie-Ende, wie jüngst in einer Studie von Oxfam International anhand neuester Zahlen untermauert wurde – mehr als bestätigt. Laut der Studie gehen die Superreichen und Großkonzerne nicht nur einmal mehr als große Gewinner aus der Krise hervor – und das trotz monatelanger Lockdowns und Unterbrechungen der internationalen Lieferketten. Das alleine dürfte aber niemanden noch groß überraschen.
Jedoch konnte die „plutokratische Internationale“ selbst im Vergleich zu den überdurchschnittlichen Profiten, die sie schon aus früheren Katastrophen schlug, nochmals in der Corona-Krise kräftig draufsatteln und sensationell rekordverdächtige Vermögensgewinne einfahren. Während sich das Vermögen der zehn Reichsten der Welt in der Corona-Krise – im Zeitraum von nur zwei Jahren – von siebenhundert Milliarden auf 1,5 Billionen Dollar mehr als verdoppelte (!), leben über 160 Millionen Menschen mehr in extremer Armut als vor Corona (103). Auf Deutschland bezogen entfielen von den Vermögenszuwächsen, die 2020 und 2021 erwirtschaftet werden konnten, 81% auf die reichsten ein Prozent der Bevölkerung, weltweit sind es nach Angaben von Oxfam 67%. Alarmierend laut Oxfam sei auch, „dass zuletzt erstmals seit 25 Jahren extremer Reichtum und extreme Armut gleichzeitig zugenommen habe“.(104)
Seit Ende der 1990er Jahre richtet sich der Protest gegen die Strukturen, die durch die exorbitant gestiegene Macht-und Entscheidungsgewalt transnationaler Institutionen und ihrer intermediären PR-und Lobbygruppen sowie ihren Boten in Kultur und Medien geschaffen werden, durch jene Institutionen und Think Tanks, die die Interessen der tonangebenden anglo-amerikanischen Oligarchien in der Welt vertreten. Sie rekrutieren sich seit dem Ende des Systemantagonismus zwischen West und Ost im Jahr 1990, durch Deregulierungen im Finanz-und Wirtschaftssektor eingeleitet und angetrieben, aus der Geld- und Wirtschaftselite, die das schon sprichwörtlich gewordene „one percent“ („Richest 1% gained $6.5 trillion in wealth last year“ - CNBC).
Es bezeichnet die Spitze der globalen Vermögens-und Einkommenshierarchie. An den Hauptkritikpunkten, dass der Expansionismus dieser Elite eine immer größere soziale Ungleichheit schafft und – zieht man dabei die Folgen des erreichten Levels an Ungleichheit in Betracht – dadurch immer weniger Freiheit, soziale Teilhabe und politische Repräsentation für die Masse der Bevölkerung bei gleichzeitig immer höherer Machtkonzentration sowie immer neofeudaler anmutenden Privilegien für die winzig-kleine Spitze der Gesellschaftspyramide übrig bleibt, hat sich nichts geändert. Nachweislich empirisch aber verhärteten sich die Unterschiede zwischen den ganz Wenigen ganz oben und dem „Rest“ innerhalb der letzten 30 Jahre mehr und mehr, schneller und schneller.
Wirft man einen Blick darauf, was auf Ebene des Governance-Buildings zur gleichen Zeit vorging, erkennt man, was der Wirtschaftsjournalist Norbert Häring als den „Ausverkauf der UN an die Konzerne“ genau beschrieben hat.(105)
Dieser Ausverkauf läutete die Neofeudalisierung auf dem Gebiet der Global Governance-Politik ein: Nachdem eine private Stiftung zur Unterstützung der UN, aufgrund ihrer akuten Geldnot gegründet wurde, in die sie dadurch geraten war, weil sich wichtige Staaten, allen voran die USA, von der Finanzierung der UN und ihrer Einzelorganisationen immer stärker zurückgezogen hatten – bekamen private Interessen immer stärkeren Einfluss auf UN-Programme. Das ging so weit, bis sie vollständig seit 2019, ratifiziert durch ein „weitgehend (…) von der Öffentlichkeit (…) unbemerkt“ (106) gebliebenes Abkommen zur Vertiefung der Zusammenarbeit zwischen den Vereinten Nationen und dem Weltwirtschaftsforum, durch letzteres klar dominiert werden. Wie Häring nachweist, spielt die UN seitdem „in der Umgestaltung der globalen Governance im Sinne des Weltwirtschaftsforums“ (107) eine Rolle, die zwar in der UN-Charta nicht vorgesehen ist, ihr aber durch die vom Fuß auf den Kopf verdrehten Machtverhältnisse zwischen privaten Groß-Investoren und den Staaten als vorgesehenen Geldgebern und Förderern den Vereinten Nationen zugewiesen wurde:
„Im Fall der Multinationalen Konzerne hat ihre Reichweite als de-facto-Institutionen der globalen Governance schon lange die Tätigkeit des UN-Systems überflügelt. (…) Multinationale Konzerne und zivilgesellschaftliche Organisationen müssen als vollwertige Akteure im globalen Governance System anerkannt werden, nicht nur als Lobbyisten.“ (108)
Zugleich war damit „der Griff der Großkonzerne nach der Weltherrschaft“ (Häring) endgültig vollzogen. Zusätzlich flankiert und unterstützt wird der Auftritt der Großkonzerne als „Weltregierung“, durch den die nationalen Regierungen immer mehr eigene Handlungsspielraum einbüßen, durch die Übernahme der Rekrutierung politischen Führungspersonals in den Zuständigkeitsbereich des Weltwirtschaftsforums:
„Die unabhängige Nicht-Regierungs-Organisation Young Global Leaders Forum bringt ihre Mitglieder zusammen, um die potenzielle Elite der Zukunft zu fördern und zu vernetzen. (…) Das Young Global Leaders Forum zählt zu den einflussreichsten NGOs der Welt. Es zählt mittlerweile über 1.400 Mitglieder (Stand 01.02.22, Quelle: younggloballeaders.org). (…) Die amtierende, deutsche Außenministerin (Stand: 01.02.22) Annalena Baerbock von Bündnis 90/Die Grünen gehört ebenso zu den Alumni des Young Global Leaders Forums wie change.org-Gründer Gregor Hackmack und der französische Präsident (Stand: 01.02.22) Emmanuel Macron. Hubertus Heil (SPD) und Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen) waren ebenso Teilnehmer des Forums wie Thomas de Maizière und Jens Spahn von der CDU.“ (109)
Der hier ausschnittsweise zitierte Focus-Artikel ist insofern selektiv und lückenhaft, als dass darin Klaus Schwabs „größter Stolz“ in Bezug auf die Young Global-Leadership-Programm nicht vermeldet wurde, den nämlich, dass diese Young Global-Leader inzwischen die einzelnen nationalen Regierungen erfolgreich „penetrieren“ (110) würden. In der Tat sind aus den Reihen der Young-Global-Leader schon zahlreiche Personen in die obersten Ränge der nationalen politischen Machteliten aufgestiegen bzw. in die Regierungskabinette und Ministerien eingeschleust worden, um dort das Wort im Sinne von WEF & Co. zu führen.
Das wird, sofern es nicht gleich faktenwidrig als „Verschwörungserzählung“ wie unlängst in der „Tagesschau“ abgetan wird, von den Medien einfach so ohne kritisches Nachfragen goutiert, obwohl es keinerlei Legitimation durch einen demokratischen Souverän dafür gibt. Demokratische Politiker müssten demokratietheoretisch sauber ihre Führungsqualitäten eigentlich im politischen Wettbewerb unter Beweis stellen, z.B. durch den Gewinn von Wahlen. Geflissentlich in den Leitmedien ausgespart bleibt auch die Frage, wer denn das Weltwirtschaftsforum und seine Netzwerke eigentlich dazu beauftragt hat, für die Weltpolitik zuständig zu sein bzw. sich inzwischen als hauptzuständige Stelle für sie zu gebärden.
Nach zwei Dekaden des Virus der politischen Unruhe kam Corona
Aus Anlass der Corona-Krise hat der niederländische Politikwissenschaftler Kees van der Pijl die Entwicklung von der Global Governance zur Global Corporate Governance nachgezeichnet und ihre Hintergründe in dem schon erwähnten, äußerst lesenswerten Buch mit dem Titel „Die belagerte Welt“ dargelegt. (110)
Van der Pijl, der bis 2019 als Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Sussex lehrte, weist auf die signifikant gestiegene Zahl von Protesten seit der Jahrtausendwende hin. Besonders seit der Weltfinanzkrise 2008 hätten
„Streiks Unruhen und Anti-Regierungs-Demonstrationen in jeder Kategorie Rekorde gebrochen. Die Wiederherstellung der Ordnung ist daher die grundlegende Erklärung für die Verhängung des globalen Ausnahmezustandes, für den im Sommer 2020, als das SARS-CoV-2-Virus überstanden war, keine gesundheitlichen Gründe mehr bestanden.“ (112)
Ähnlich äußert er sich in einem Interview über sein Buch zur Ursache der im März 2020 durch die WHO ausgerufenen Covid-19-Pandemie, die er als „biopolitische Machtergreifung“ deutet:
„Die Welt ist von den Kräften in einen Belagerungszustand gebracht worden, die sich durch die wachsende Unruhe der Völker bedroht fühlen. (…) In meinem Buch schlage ich vor, dass mit dem Zusammenbruch des Sowjetsystems 1989/91 die Notwendigkeit einer neuen Methode des Regierens anerkannt wurde ( …) Dabei sollte Angst — statt wie bisher materielle Vorteile kombiniert mit Ablehnung des Kommunismus — die Basis der legitimen Regierungsfähigkeit sein.( …) Mit dem 11. September 2001 und danach wurde dann die schon national wie in Italien ausprobierte Strategie der Spannung internationalisiert. Das wurde fortgesetzt über den Terrorismus bis heute zur Angstmache mit dem ‚Virus‘. Ich denke übrigens, dass die Unruhe, die ich als Anlass zur Entfesselung des Pandemieszenarios auffasse, gerade wie in beziehungsweise nach den zwei Weltkriegen, nach dem Ausnahmezustand verstärkt zurückkehrt. Klaus Schwab warnt davon auch in seinem ‚Great Reset‘.“ (113)
Zur Weltfinanzkrise 2008 merkt van der Pijl an, dass diese „den sozialen Kampf auf globaler Ebene nur beschleunigt“ habe. So sei es im selben Jahr noch in mehr als 20 Ländern zu schweren Unruhen gekommen, weil die Menschen keine Grundnahrungsmittel mehr bezahlen konnten. Alle Indikatoren, so van der Pijl, hätten in den Folgejahren einen Aufwärtstrend für soziale Unruhen gezeigt:
Ab 2011 verzeichnet van der Pijl
„(...) einen starken Anstieg der Streiks. (...) Auch die Zahl der regierungskritischen Demonstrationen nahm nach 2011 rapide zu, und die Zahl der Unruhen stieg nicht minder spektakulär an (sie versechsfachte sich) und brach 2013 den Rekord von 1968/69.“ (114)
Der niederländische Politikwissenschaftler referiert des Weiteren auf Aussagen des US-Sicherheitsberaters und Chefstrategen Zbigniew Brzezinski. Für Brzezinski seien die Aufstände des sog. arabischen Frühlings „Anlass für die Warnung“ gewesen, nach der
„der globale Bevölkerungsüberschuss in Verbindung mit der Informationsrevolution ein neues 1848 ankündige (das Revolutionsjahr in Europa, in dem auch das Kommunistische Manifest erschien). Es könne durchaus sein, argumentierte er (...). ‘dass die Millionen junger Menschen in der Welt von heute das Äquivalent zu Marx’ Proletariat sind; während ihre Aussichten auf ein menschenwürdiges Dasein minimal sind, sind sie durch das Internet über die politische und soziale Realität, die ihre Misere verursacht, reichlich informiert.’ Auch andere erkannten die Ähnlichkeit mit 1848, aber in einem Bericht von 2013 kam die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) zu dem Schluss, die akuteste Gefahr einer solchen Explosion bestehe nicht im Nahen Osten, sondern in der EU (...). Vor allem Frankreich schien auf eine revolutionäre Krise zuzusteuern – bis die ‚Pandemie’ ausgerufen wurde.“ (115)
Kontinuitäten und Diskontinuitäten im globalisierungskritischen Widerstand
Wie der Verlauf der Corona-Krise und die Dynamiken der Protestbewegung zeigen sollten, ging die Rechnung durch die Inszenierung einer weltweiten Pandemie die sozialen Unruhen in den Griff zu bekommen, nicht auf. Den Regierungen, in enger Kooperation mit den Organen der Global Governance und deren Werkzeugen, gelang es trotz des machtvoll und geballt eingesetzten propagandistischen Apparats, auf den sie sich bei ihrem konzertiert erfolgenden, staatsstreichähnlichen Vorgehen im transnationalen Rahmen stützen konnten, nicht, einen vollständigen gesellschaftlichen Konformismus á la chinesischem Modell oder gar nach nordkoreanischem Vorbild erzwingen zu können.
So suchte sich bekanntlich, um es am heimischen Beispiel aufzuzeigen, nachdem die meisten Demonstrationen in der Phase in und um den zweiten Lockdown im Herbst/Winter 2021-22 aus „Infektionsschutzgründen“ verboten worden waren – der Protest in Deutschland bei den sog. Montagsspaziergängen trotzig neue, aber wiederum friedliche Bahnen. Die dezentralen Spaziergänge fanden an so vielen Orten in Deutschland gleichzeitig statt, dass die Einsatzleitungen der Polizei sich kaum noch imstande sahen, genügend Ordnungskräfte dafür abstellen und einsetzen zu können. Von der Friedfertigkeit im Zusammenhang mit den Corona-Protesten ausdrücklich auszunehmen sind allerdings verstörende Fälle von Polizeigewalt, die sogar dazu führen sollten, dass der UN-Sonderbeauftragte für Folter, der Schweizer Rechtsprofessor Nils Melzer, bei der deutschen Regierung intervenierte (116). Mehrere Demonstranten verloren durch solche brutalen Polizeieinsätze ihr Leben. Bis auf ganz wenige Ausnahmen mauert die Justiz bei den Versuchen der rechtlichen Aufklärung und Aufarbeitung möglicher Straftaten durch Polizeibeamte. Ebenfalls trägt der schlimme Korpsgeist, der bei der Polizei herrscht, dazu bei, Aufklärung in der Richtung zu vereiteln. Dass dieser unsägliche Korpsgeist Duldung bei der Politik findet, kann nicht anders als ein riesengroßer, beschämender Skandal für unseren Rechtsstaat bezeichnet werden.
Als Reaktion darauf, dass die Versammlungsfreiheit zu dieser Zeit in Deutschland de facto für tot erklärt werden musste – obwohl schon im April 2021 durch Gutachten der Aerosolforscher bekannt war, dass die Ansteckungsgefahr mit dem SARS-CoV-2-Virus im Freien äußerst gering ist (Zitat aus dem Offenen Brief der Deutschen Gesellschaft für Aerosolforschung an Bundeskanzlerin Merkel: „Ansteckungen im Freien finden so gut wie gar nicht statt“ (117)) – hätte man noch vor Corona, in Zeiten der „alten Normalität“ erwartet, dass die Presse zur Verteidigung dieses Grundrechts eine scharfe Lanze bricht, da die Versammlungsfreiheit ein Herzstück der Demokratie darstellt. Indes geschah das Gegenteil: Insbesondere die „bürgerlichen“ und die im Mainstream als „linksliberal“ geltenden Presseorgane taten sich damit hervor, die Proteste zu skandalisieren und zu kriminalisieren und die Stimmung gegen die außerparlamentarische Opposition besorgter Bürger anzuheizen. So schrieb, um nur ein Beispiel zu nennen, die Frankfurter Rundschau:
„Verschwörungstheoretiker und Coronaleugner immer gewaltbereiter: ‚Es ist verdammt ernst’ (...) Querdenker, Rechtsextreme, Antisemiten und Neonazis sind Feinde der Freiheit (...) und als solche sollten sie behandelt werden.“ (118)
Noch ein Wort zu den rühmlichen Ausnahmen: Schon am 16. April 2020 schrieb die Journalistin und Publizistin Sabine Beppler-Spahl den Medien und der Politik eine Erkenntnis ins Stammbuch, die lange als Selbstverständlichkeit gegolten hatte – genau solange, bis man sich offenkundig entschied, diese gleichzeitig über Nacht aus den Zeitungsredaktionen und öffentlichen Rundfunkanstalten für die gesamte weitere Pandemiedauer zu verbannen, bis zum heutigen Tag. Denn es steht weiterhin eine Entschuldigung dafür aus:
„Es ist an der Zeit, unsere Politiker daran zu erinnern, dass sie gewählt wurden, um unsere Grundrechte zu garantieren. Kein Virus sollte uns dieses wichtige Prinzip vergessen lassen.“ (119)
Und, um noch zwei weitere, relativ bekannt gewordene Fälle zu nennen: Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung mahnte immer wieder rechtsstaatliches Augenmaß und Gewaltenkontrolle an – vergebens. Und die Chefredaktion des Berliner Tagesspiegels löschte Harald Martensteins Kolumne und mobbte ihn wegen seines bedingt geäußerten Verständnisses dafür, dass sich Corona-Maßnahmenkritiker als Opfer staatlicher Willkür und Ausgrenzung empfinden (120), aus dem Haus. Und wie zum Hohn prangt über diesem Haus der schöne Satz: „Rerum cognoscere causas“ : Den Sachen auf den Grund gehen.
Durch den Schachzug, eine internationale Gesundheitskrise zum Vorwand zur Durchführung und Intensivierung einer Agenda zu machen, die auf umfassende digitale Überwachung, ökonomische Enteignung und das transhumanistische Neudesign von Mensch und Gesellschaft abzielt, gelang es der Global Corporate Governance, das stark angewachsene globalisierungskritische Lager in Corona-Maßnahmenbefürworter und -gegner zu spalten. Wiederauferstehung erlebte der alte Machiavellismus des „Divide et impera!“, ein Machiavellismus, der wegen seines beispiellosen Framings in die Geschichte eingehen wird:
Das Framing fand Anwendung in der Absicht, die Proteste umgehend ausschalten, unschädlich machen, respektive bestenfalls im Keim ersticken zu können. „Corona-Leugner“, „Rechte/Rechtsextreme“, „Antisemiten“ „Nazis“, „Reichsbürger“, „Schwurbler“, „Verschwörungstheoretiker“ (121) lauteten die ständig wiederholten, einem verunsicherten und orientierungslos gemachten Publikum eingehämmerten Stereotypen. Dafür griff man in den Administrationen auf Techniken der Beeinflussung zurück, die Arendt schon in den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft zum Gegenstand ihrer Untersuchung gemacht hatte. Die Regelhaftigkeit dieser Cancel-Culture-Praxis ist lehrbuchartig. Sie offenbart, wie und womit eine an sich ja völlig unsubtile Manipulationsmethode mittels ständig gebrauchter, mit einer sinnentleerten (Pseudo-) Bewertung versehener und mechanisch wiederholter Begriffe nicht nur inflationäre Verbreitung findet, sondern trotz oder gerade wegen ihrer enervierenden, geisttötenden Plattheit und Dumpfheit so äußerst erfolgreich ist. Es scheint, als hätte Edward Snowden den Nagel auf den Kopf getroffen, wenn er dazu bemerkt:
„Das ganze System beruht auf der Idee, dass man der Mehrheit alles einreden kann, solange man es laut und oft wiederholt. Und es funktioniert.“
Der Ausschluss läuft über den abstrusen Kontaktschuld-Vorwurf, der noch dazu an der politischen Realität vorbei konstruiert wird; es nehmen nämlich nicht mehr, sondern weniger Leute mit rechtsextremer Gesinnung als das gemessen am durchschnittlichen Anteil von Rechtsextremen relativ zur Gesamtbevölkerung eigentlich statistisch zu erwarten wäre, an den Corona-Protesten teil. Was auch weiter nicht verwunderlich ist, da Aufstände gegen staatliche Autorität oder gegen Kadavergehorsam, so wie man ihn der Bevölkerung während der Corona-„Pandemie“ abverlangte, gerade nicht in die Domäne der Rechten fallen und gerade Rechte vielmehr im begründeten Ruf stehen, diese Autorität und diesen Gehorsam besonders verinnerlicht zu haben. U.a. der Evangelische Pressedienst (dem man wohl kaum eine intime Nähe zum „Querdenkermilieu“ unterstellen kann) titelte dann auch: „Corona-Demos: Laut Behörden 90 Prozent nicht rechtsextrem“ (123).
Daraus lässt sich lernen, dass auf diese Weise allen für die Erhärtung dieses Verdachts fehlenden Belegen zum Trotz der Versuch unternommen wird, Bürger-Demokraten mit Aplomb in die gesellschaftliche Ecke zu verfrachten, in der man sie am besten zu Parias stempeln kann. Unter derartigen Generalverdacht gestellt werden die Demonstranten in z.T. rufmörderischer Absicht diskreditiert: „Wer mit Nazis läuft, ist ein Nazi!“. Ausgerechnet beim politischen Nachwuchs der SPD und der Grünen tat man sich – neben der sogenannten Antifa – dadurch hervor, Corona-Maßnahmen-Demonstranten, die sich bei ihrem Protest auf das Grundgesetz beriefen, als „Nazis“ niederzubrüllen und zu beschimpfen.
Die Spaltungspolitik, die mittels dieser Einrahmungs- und Diffamierungskampagnen während der gesamten Corona-Zeit praktiziert wurde, kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich hier eine neue, weder in Begriffen von Partei-Orientierungen zu erfassende, noch nach Partei-Ideologien einzuordnende, sondern Parteienpolitik und Parteienloyalitäten sowie eine alles Denken entlang Parteikategorien gerade ablehnende Protestkultur heraus gebildet hat, durch die sich der Parteienstaat logischerweise natürlich besonders angegriffen und herausgefordert sieht. Die neue Form zeitigte aber zugleich den Effekt, dass das Protestspektrum, die Gruppe, der mit dem Zustand der Republik Unzufriedenen, welche diese Unzufriedenheit aber auch nach außen hin artikuliert, also in politisches Handeln übersetzt, sich insgesamt noch einmal deutlich vergrößert hat.
Da dieser Protest-Ansatz sich auch gegenüber orthodoxen altlinken Protestformen neu positioniert (die eigentlich neulinks sind; genauer wäre es hier wohl, von den „neuen Linken als progressive Fraktion innerhalb des neoliberalen Establishments“ zu sprechen) – und in dieser Position sich eine unübersehbare Diskrepanz zu ihnen auftut – ist es aus der Herrschaftsperspektive betrachtet ungleich schwerer, diesen Protest zu kanalisieren bzw. mit schon bewährten Mitteln aus dem Arsenal hybrider Kriegsführung möglichst schnell und wirkungsvoll neutralisieren zu können. Das dürfte auch der entscheidende Grund dafür sein, ihn in die äußere rechte, geschichtlich vorbelastete und tabuisierte Ecke zu schieben.
Den gleichen Mechanismus sehen wir jetzt übrigens bei den Friedensdemonstrationen am Werk, wobei der Unsinn dieses Framings hier vielleicht noch offensichtlicher zutage tritt, da Rechten noch nie der Ruf große Friedensfreunde oder gar Pazifisten zu sein, voraus ging. In Wahrheit ist die kriegstreiberische Russland- und Aufrüstungspolitik und ihre Zeitenwende-Proklamation für Militarisierung und deutsche Großmachtspolitik – womit die Scholz-Regierung vor einem Jahr einen brutalen Traditionsbruch mit der bundesrepublikanischen raison d’être vollzogen hat – sowie die von den Leitmedien ohne Sinn und Verstand gepushten Bemühungen zur (Wieder-)Herstellung eines geschlossen bellizistischen Weltbildes einschließlich massiver Feindbild-Propaganda eindeutig rechts. Die Zeitenwende-Proklamation und was seither regierungspolitisch daraus folgt, stellt, um es auf den Punkt zu bringen, den stärksten Rechtsruck in der Geschichte der Bundesrepublik zumindest seit der Wiederbewaffnung 1955 dar.
Einiges spricht vor diesem Hintergrund dafür, dass sich die zunächst erfolgreiche Spaltungspolitik der Eliten mittel-und langfristig als Pyrrhus-Sieg herausstellen könnte, da in the long run die Ausgrenzungs-und Diskriminierungsmittel ihre Wirkung verfehlen und neue nicht ohne weiteres zur Verfügung stehen werden. Ändern ließe sich das wohl nur, wenn man in ein offenes Bürgerkriegs- oder Kriegsszenario wechseln würde.
Ein nicht zu unterschätzender Nebeneffekt der Entwicklung, so wie sie die außerparlamentarische Protestbewegung bis jetzt genommen hat, ist, dass sich nunmehr Prognosen zur Frage, wer sich an einer auf dem Boden des Grundgesetzes immer dringlicher erscheinenden Verfassungs-und Demokratieerneuerung beteiligen würde – und wer dafür ausfällt (z.B. die Partei der Linken) – weitaus verlässlicher anstellen lassen. Auch wenn der Spaltpilz des polit-medialen Establishments gegenüber den an der gesellschaftlichen Basis aufbegehrenden demokratischen – Arendt würde sagen: republikanischen – Kräfte mit Erfolg grassierte; Familien, Ehen, Partner-und Freundschaften wegen der Einstellung zu Corona zerstörte und namenlos viel Leid und Schmerz produzierte, lässt sich nun – positives Resultat eines negativen Prozesses – immerhin viel leichter die pseudokritische Spreu vom revolutionären Weizen trennen. Auch wenn der Preis immens hoch dafür war, dürfte das der Freiheits-und Grundrechtsbewegung für die anstehenden nächsten Phasen im gesellschaftlichen Großkonflikt zwischen Bürger-Republikanismus und korporatistisch-elitärer Gouvernementalität mehr Vor- als Nachteile bringen.
So kristallisiert sich aus den hier nachgezeichneten Entwicklungen – und den Schlussfolgerungen, die mit Arendt daraus gezogen werden können – die Idee einer „Republik der Engagierten“ heraus. Dieser Idee möchte ich im dritten Teil meiner Darstellung aus einer radikaldemokratischen und linksrepublikanischen Perspektive, die sich maßgeblich aus Arendts Denken speist, Gestalt geben. Im Vorgriff seien die Kriterien, die für ein mit ihrem Denken übereinstimmendes, unorthodox-linkes, nachmarxistisches Programm in Anschlag zu bringen wären, genannt: Demnach wäre das politische Denken als links zu definieren, insoweit es (1) strukturelle Herrschaftskritik auf Grundlage eines sowohl empirisch wie philosophisch-anthropologisch gehaltvollen Handlungs- und Emergenzbegriffs übt, (2) für den Primat der Freiheit gegenüber jedem (noch so gut gemeinten) Zwangskollektivismus eintritt und für die Verwirklichung dieses revolutionären Primats, alle Menschen zu befreien, kämpft und (3) dem Ideal eines „partizipatorischen gesellschaftlichen Holismus“ verpflichtet ist, d.h. Mitbestimmung in allen Bereichen der öffentlichen Angelegenheiten, ob in Politik, Wirtschaft oder Gesellschaft, einfordert und zu verwirklichen bestrebt ist.
Diese Kriterien lassen sich aus Hannah Arendts historisch-kritischer Phänomenologie des Handelns sowie ihren damit im Zusammenhang stehenden Überlegungen zur Bedeutung des Engagements für eine Neubegründung der politischen Praxis ableiten bzw. können aus ihren Vorstellungen über die Geburt des Politischen aus der zwischenmenschlichen Pluralität gewonnen werden. Die drei Kriterien und ihre Bedeutung im Kontext einer Revitalisierung linker Politik werden wir an späterer Stelle noch näher beleuchten. Dort wird auch gezeigt werden, worin konkret sich diese Kriterien von jenen unterscheiden, die für die orthodoxe bzw. autoritäre Linke als leitend angesehen werden müssen.
Das Problem einer Realisierung vorhandener Veränderungsenergien in eine befreiende und (be-)glückende Praxis wieder gewonnener politischer Handlungsmöglichkeiten – die zugleich die Exit-Strategien aus dem neoliberalen „There-is-no-alternative-TINA“– Dogma bedeuten würden – scheint in der heute vorzufindenden vorrevolutionären Gemengelage gleichzeitig nahe und doch unendlich weit von einer Lösung entfernt zu sein. Auf einen nicht bloß denkbaren, sondern in der Tat naheliegenden und gut einzuschlagenden Weg dorthin – für den aus meiner Sicht jedenfalls mit Nachdruck geworben werden sollte – weisen uns die Autoren des Offenen Briefes des neuen, lagerübergreifenden Protestbündnisses gegen die sog. Münchener Sicherheitskonferenz am 18. Februar 2023 hin.
In dem Offenen Brief wird die Münchener Sicherheitskonferenz als ein wichtiges Forum für Aufrüstung und Kriegspropaganda und als entscheidender Think Tank der NATO zur weiteren Militarisierung von Politik, Wirtschaft, Medien und Gesellschaft benannt und kritisiert. Der Brief entwickelt darüber hinaus Vorschläge, wie eine Gegenstrategie aussehen muss, die genügend Einfluss auf die öffentliche Debatte erlangt, um den Kriegskurs unserer Regierung erfolgreich zu stoppen. Das Bündnis „Macht Frieden“ hat sich aus der Corona-Grundrechtsbewegung heraus entwickelt. Seine Antwort auf die Absage des parteiendominierten Demonstrationsbündnisses „Anti-Siko“, zu kooperieren – „Macht Frieden“ war an das „Anti-Siko“-Bündnis mit dem Vorschlag im Vorfeld der Organisation der Proteste für den 18. Februar herangetreten, um Voraussetzungen dafür zu schaffen, an diesem Tag ein möglichst starkes und öffentlichkeitswirksames gemeinsames Zeichen gegen den Krieg zu setzen – verdient es auszugsweise zitiert zu werden:
„Es sind nicht die nationalen Identitäten, nicht die Unterschiede in Hautfarbe, Religion oder sexueller Orientierung, die die Menschen trennen. Der Kampf der Völker, der Demokratischen Souveräne, gegen die Oligarchie um die Kontrolle der Staaten findet überall auf der Welt statt. Viel mehr trennen uns die politischen Ideologien und die damit verbundenen Assoziationen. Sie manifestieren sich gerne in politischen Parteien. Wir sehen das auch hier, da sich unsere Unvereinbarkeiten um Parteien drehen. Wir möchten das Verbindende betonen, nicht das Trennende.“ (124)
Freiheit versus „Supergrundrecht“ Leben
Diese Erkenntnisse führen uns wieder zu Hannah Arendt zurück. Sie war nicht bereit, Einschränkungen der Freiheit aus ideologischen Gründen oder Gründen der Partei- oder Staatsräson zu akzeptieren. Auch war sie nicht gewillt, Postulaten zuzustimmen, die eine Vorrangigkeit anderer, gleichwelcher Zwecke, über die Freiheit behaupten. Solche Postulate wurden stattdessen einer ideologiekritischen Lektüre unterzogen: Die Geschichte habe hinlänglich bewiesen, dass so etwas nur der Festigung der Herrschaft von Menschen über Menschen diene und regelmäßig dafür herhalten müsse, aus machtpolitischen Interessen vorgeschoben und missbraucht zu werden. Skepsis und Kritik an der Berufung auf „höhere Werte“ (als den der Freiheit) dürfte auch als Ghostwriter bei der Niederschrift ihres oft zitierten Satzes „Die Freiheit, frei zu sein“ Pate gestanden haben.
Schließlich ist Freiheit für Arendt mehr als ein Recht oder ein Wert, sie ist eine existenzielle Herausforderung. Eine Antwort auf diese Herausforderung zu geben, dazu wird man vor allem dann mit seiner ganzen Existenz gezwungen, wenn sich der politische Antagonismus zwischen dem Ich und den Vielen (Alexander Mitscherlich) krisenhaft zuspitzt. Dann sieht sich das Ich alleine und isoliert vor die Undurchdringlichkeit und Hermetik einer apparatehaft, anonym gewordenen bürokratischen Herrschaft gestellt und durch sie in existenzieller Weise abgewiesen. In dem ganz auf sich selbst Zurückgeworfen-Sein dieser Situation verliert der Mensch sich vollends oder aber er findet und er erfindet sich neu.
Arendt wendet sich auch kritisch – so z.B. in ihrer Vorlesungsreihe „Some Questions of Moral Philosophy“ an der New York School for Social Research 1965, die in Deutschland 2007 unter dem Titel „Über das Böse“ veröffentlicht wurde (125) – gegen eine Priorisierung des Lebens oder Überlebens gegenüber allen moral-, tugend-und rechtsphilosophischen Gütern. In der Corona-Krise stellte das als „Supergrundrecht Leben“ die Begründungsfigur dafür dar, der Legitimität einer unter „Ausnahmebedingungen“ erfolgenden, dem Schutz des „nackten Lebens“ verpflichteten Aufhebung von Grundrechten das Wort zu reden und eine Berechtigung von nicht grundrechtsgemäßen Verordnungen zu statuieren, mit denen tief in die Privatsphäre der Individuen eingedrungen oder diese Privatsphäre rein nach Ermessen des Gesetzgebers sogar ausgehebelt werden kann.
„Das Leben als höchstes Gut anzusetzen ist, was die Ethik angeht, fragwürdig“. (...) Wenn „durch menschliches Verhalten je die Existenz der Menschheit als ganzer aufs Spiel gesetzt werden könnte, und hinsichtlich dieses Grenzfalles, könnte man in der Tat behaupten, dass das Leben, das Überleben der Welt und der menschlichen Spezies, das höchste Gut sei. Doch das würde nichts anderes bedeuten, als dass Ethik oder Moral einfach zu existieren aufhörten. (126)
Das impliziert – und gibt im Übrigen auch einen wichtigen Fingerzeig für die Klimadebatte – dass wir uns nur als Menschen, die eine Wahlfreiheit besitzen und von dieser auch Gebrauch machen, moralisch bewähren und ein Leben führen können, das den ethischen Ansprüchen gerecht werden kann.
Arendts Freiheitsbegriff steht dabei im Gegensatz zu einer nur formal negativen und rechtlich rein abstrakten Bestimmung („Freiheit als Abwesenheit von….“). Dies wird z.B. in folgender Äußerung prägnant von ihr zum Ausdruck gebracht:
„Freiheiten im Sinne von Bürgerrechten sind das Ergebnis von Befreiungen, aber sie sind keineswegs der tatsächliche Inhalt von Freiheit, deren Wesenskern der Zugang zum öffentlichen Bereich und die Beteiligung an den Regierungsgeschäften sind.“ (127)
Neue Methoden und hybride Strategien der Kriegsführung
Die Demonstrationen und Protest-Spaziergänge gegen die Corona-Politik trugen ebenso plötzlich und nicht vorhersehbar, wie sie entstanden waren, jedoch keinesfalls zufällig den Namen Hannah Arendts und wesentliche ihrer Gedanken und Mahnungen, vor allem aber ihren freiheitlichen Geist, auf die Straßen und Plätze. Damit wurden sie dorthin zurückgebracht, wo Arendt – wie ihr großes antikes Vorbild Sokrates – den Geburtsort des politischen Denkens und Handelns lokalisiert hat: Die Straßen und Plätze der Polis.
Sie sind der Raum der Pluralität, in dem das Individuelle in seiner Vielfalt erscheint und der Ort des Austausches von differenten Meinungen. Aus diesen bildet sich der menschliche Reichtum an Perspektiven und Weltansichten und jeder Mensch selbst bildet durch sein Hineingeborenwerden in diesen Reichtum sinnhafter Weltbezüge Geist und Urteilsvermögen nach den Maßgaben aus, durch die es ihm lebenspraktisch konkret gelingt, seine Fähigkeiten zum Perspektivenwechsel zu kultivieren. Perspektivreichtum und die Möglichkeit des Perspektivwechsels sind für Arendt ein Synonym für Politik, sofern man sich denkend und ordnend einen Überblick auf die Perspektiven verschafft und auf dieser Grundlage lernt, selbständig, d.h. souverän zu urteilen:
„Einsicht in einen politischen Sachverhalt heißt nichts anderes, als die größtmögliche Übersicht über die möglichen Standorte und Standpunkte, aus denen der Sachverhalt gesehen und von denen her er beurteilt werden kann, zu gewinnen und präsent zu haben.“ (128)
Da hatten einige der sich spontan zusammenschließenden Bürgerinnen und Bürger wohl „ihre“ Hannah Arendt am über uns hereingebrochenen, „leibhaftigen“ zeitgeschichtlich-disruptiven Objekt studiert und die Zeit des ersten Lockdowns vielleicht sogar dafür nutzen können, das eine oder andere bei ihr noch einmal nachzulesen. Umso stärker musste man sich die Augen reiben, als dann reflexartig die Versammlungen („Hygienedemos“), auf denen Hannah Arendt, Rosa Luxemburg, Sophie Scholl, Theodor W. Adorno, Erich Fromm, Ignazio Silone, Antonio Gramsci, Henry David Thoreau, Willy Brandt, Gustav Heinemann und das Grundgesetz – im wahrsten Sinne des Wortes – „hochgehalten“ wurden, von Mainstream-Medien und der Politik als „rechts“ oder rechtsextrem“ geframed (129) und die Demonstrationen als verantwortungslose Aufzüge eines Leib und Leben leichtfertig aufs Spiel setzenden Mobs von „Covidioten“ – so die SPD-Vorsitzende Saskia Esken (130) – verurteilt wurden.
In dem Essay „Sokrates. Apologie der Pluralität“ legt Arendt ihre Vorstellungen zur Pluralität als zentralen Aspekt der conditio humana dar. Von dieser Warte aus expliziert und akzentuiert sie ihren Begriff des Politischen und gibt ihm philosophische Tiefenschärfe. Das Besondere an der Pluralität bei Arendt ist, dass aus diesem Begriff ihre ganze politische Theorie zur Entfaltung gebracht werden kann:
„Das Ziel des Sokratischen Dialogs (...) besteht vor allem darin, eine gemeinsame Grundlage aus den verschiedenen Perspektiven zu gewinnen, also eine Grundlage, die sich aus der Verständigung über plurale Sichtweisen auf die Welt ergibt. Der Pluralismus formiert sich dementsprechend als ein spezifischer Perspektivismus in einem zwischenmenschlichen, einem öffentlichen Raum.“ (131)
Mit anderen Worten, entsteht Politik für Arendt nicht im (einzelnen) Menschen, sondern zwischen den Menschen, gerade aus ihrer Verschiedenheit. Der öffentliche Raum, der sich im Austausch der Menschen erst bildet, sein Perspektivismus, ist heute in großer Gefahr, da er nicht nur von zunehmend autoritär agierenden Regierungen und einer Agenda, die auf einen smarten Totalitarismus hinausläuft, sondern auch durch die Cancel Culture zur Disposition gestellt wird. Inzwischen muss von einem ganzen Cancel-Culture-Kartell gesprochen werden, das unsere politischen Freiheiten bedroht:
Unter dem Dach dieses Kartells finden sich die Vertreter und Anhänger woker Identitätspolitik, ihre journalistischen Lautsprecher und medialen Multiplikatoren, die Gilde selbstautorisierter „Fakten-Checker“ und Diskurspolizisten, die im Dienst höherer Mächte die staatlichen und überstaatlichen Stellungen und Gräben im information warfare befestigen, halten und den Kampf immer wieder befeuern sowie sämtliche weiteren staatlichen, staatsnahen oder privatwirtschaftlichen Akteure mitsamt des von ihnen angeheuerten Heers an Informationskriegs-Söldnern:
kurzum alle, die sich dazu berufen fühlen (oder die dafür bezahlt werden), den Meinungskrieg gegen das vermeintlich Böse zu führen. Ohne deren unermüdlichen Kampfeinsätzen gegen Trump-Anhänger, Putin-Trolle, Querfrontler, Corona-Leugner, Wissenschaftsfeinde und wütende weiße alte Männer droht – so soll suggeriert werden – den westlichen Gesellschaften eine staatszersetzende Durchseuchung mit Fake-News und Desinformation. Dabei sind gerade sie es, die die öffentliche Meinungsbildung – und zwar systematisch – manipulieren, wie zuletzt die Enthüllungen um den Russiagate-Skandal und die Twitter-Files eindrucksvoll gezeigt haben.
Erst wenn es gelingt, die Methoden und Mechanismen zu durchdringen, die hinter der gegen die eigene Bevölkerung gerichteten hybriden Kriegsstrategie stehen, lässt sich die eminent große Bedeutung der Informationspolitik im Kontext des heute herrschenden Katastrophenkapitalismus und seiner Agenda, realistisch ermessen, einordnen und einer adäquaten Bewertung unterziehen. Und nur dann lassen sich auch richtige Schlüsse für die Verteidigung der Freiheit daraus ziehen.
Was diese Einordnung und Bewertung angeht, so hat der italienische Philosoph Giorgio Agamben („An welchem Punkt stehen wir heute? Die Epidemie als Politik“, Wien 2020) im Dezember 2022 einen Beitrag unter dem Titel „Libertá e insicurezza“– Freiheit und Unsicherheit – veröffentlicht. In diesem unternimmt er den Versuch, die Dialektik des zeitgenössischen Sicherheitsstaates herauszuarbeiten.
Für Agamben, der als Philosoph schon in jungen Jahren in seinem Denken von Arendt nachhaltig beeinflusst wurde (in „Macht und Gewalt“ zitiert sie Agamben), stehen sich im modernen Sicherheitsstaat „Freiheit und Sicherheit nicht mehr polarisierend entgegen“, weil die Regierungen „nur noch zwischen Freiheit und Unsicherheit (…) abwägen“. Was wir heute erleben, so Agamben, sei eine „extreme Entfaltung des Sicherheitsparadigmas (dem Bürger glauben zu machen, dass die Regierung über ihren Seelenfrieden und ihre Zukunft wacht) bei (…) gleichzeitiger radikaler Umkehr“. Agamben bezeichnet das als die „Dialektik des zeitgenössischen Sicherheitsstaates“ und führt näher dazu aus:
„Die Hauptaufgabe der Regierungen scheint darin zu bestehen unter den Bürgern ein Gefühl der Unsicherheit und sogar der Panik zu verbreiten, das mit der extremen Einschränkung ihrer Freiheit einhergeht, die gerade in dieser Unsicherheit ihre Rechtfertigung findet. (…) Es ist daher nicht mehr von Belang, dass sich die Regierungen als fähig erweisen, Probleme und Katastrophen zu meistern: Die Unsicherheit und der Notfall, die heute die einzige Grundlage ihrer Legitimität sind, dürfen keinesfalls beseitigt werden, sondern – wie wir heute mit der Ersetzung des Krieges gegen das Virus durch den Krieg zwischen Russland und der Ukraine sehen – nur auf eine Art und Weise artikuliert werden, die konvergiert, aber jedes Mal anders ist. Eine solche Regierung ist im Wesentlichen anarchisch in dem Sinne, dass sie keine Prinzipien hat, an die sie sich halten kann, außer dem Ausnahmezustand, den sie produziert und perpetuiert.“ (132)
Übergänge und Ausblicke
Nachfolgend wird zu zeigen sein, wie der information warfare, die „hybride Kriegsführung gegenüber der eigenen Bevölkerung“, die mit dem War on terror – „the ongoing international counterterrorism military campaign initiated by the United States of America“ (133) – nach Zerstörung der Twin-Towers des World Trade Centers mit Datum des 11. September 2001 einsetzte, durch das Corona-Narrativ eine neue Stufe erreicht hat. Was bedeutet diese neue Stufe? Was folgt aus der Elevatio, die der Informationskrieg und seine zunehmende Bedeutung im Kontext der Global Governance-Aktivitäten erfährt? Und was sagt diese den Neoliberalismus noch einmal verschärfende Kriegsdoktrin über den Allgemeinzustand von Politik und Öffentlichkeit im Post-Corona-Interregnum aus? Ich werde versuchen, auf diese Fragen im Licht der Überlegungen, die Arendt u.a. über die Beziehung zwischen Macht, Herrschaft und Gewalt („Macht und Gewalt“, deutsche Ausgabe 1970), das „Verstehen (in) der Politik“ und die spezifischen Merkmale der totalitären Herrschaftstypologie angestellt hat, im zweiten Teil meines Textes Antworten zu geben.
Trotz der medialen Dominanz des Ukraine-Krieges und seiner Ersatz-und Ablenkungsfunktion, durch die die gesamtgesellschaftliche Aufarbeitung der Schäden, die die Pandemiepolitik angerichtet hat und weiter anrichtet (134), behindert wird, ist es so, dass die schlimmen gesundheitlichen Nachwirkungen der gentherapeutischen Injektionen nach und nach dennoch in den Fokus der Printmedien und öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten geraten. Denn in dem Maße, wie die Problemdimensionen in puncto Unsicherheit der Vakzine und Schäden durch die publik werdenden Behandlungsfolgen wachsen, entsteht zunehmend eine Art Überdruck auf dem medialen Kessel. Auch die Frage nach den Ursachen und Verantwortlichkeiten für die seit 2021 statistisch nachweisbare Übersterblichkeit, die eine Korrelation zwischen der Höhe der jeweiligen Injektionsquoten in den Ländern, in denen die gentherapeutischen Präparate gegen Covid-19 verabreicht wurden und dem Anstieg der allgemeinen Mortalitätsrate aufweist (135), stellt sich immer drängender.
Ebenso verdichten sich die Verdachtsmomente auf durch Korruption hervorgerufene Fehlentscheidungen und Fehlverhalten bei der EU-Kommission hinsichtlich der unaufgeklärten Umstände beim über 70 Milliarden Euro teuren Deal zur Beschaffung der sog. Impfstoffe gegen Covid-19. Es wäre nicht der erste Korruptionsskandal in den letzten zwölf Monaten, der die EU erschüttern würde. Die geheim gehaltenen Vertragsklauseln im Zusammenhang mit der Verpflichtung zur Abnahme von 1,8 Milliarden sog. Impfdosen, die die EU-Kommission eingegangen ist, obwohl diese experimentellen Stoffe vorher nicht auf ihre Wirksamkeit gegen das SARS-CoV-2-Virus getestet worden sind (136), geben insbesondere im Hinblick auf die dubiose Rolle, die die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen beim Einfädeln des „Impfstoff“-Mega-Deals mit Pfizer-CEO Albert Bourla gespielt hat, viele Fragen auf.
Durch den Ankauf von viel zu viel Präparaten (die Menge reicht aus, um die experimentellen Stoffe jeden in der EU lebenden Menschen – vom Säugling bis zum Greis – sechs Mal zu injizieren) zu negativen Bedingungen für die EU, hat die EU-Kommission möglicherweise Milliarden von Steuergeldern verschwendet. (137) Da die Nachfrage nach den Präparaten seit Monaten äußerst gering ist (138), könnte die bevorstehende Vernichtung großer Mengen an Präparaten, deren Haltbarkeitsdauer in der Bundesrepublik schon einmal durch Gesundheitsminister Lauterbach verlängert wurde, womöglich wie ein Brandbeschleuniger für eine Art Purgatorium wirken, das uns von dem Dickicht der Schwärzungen, Verschleierungen, Vertuschungen sowie des Verschweigens und der Ausreden, die uns die Sicht auf den mutmaßlich mit Abstand größten Arzneimittelskandal in der Geschichte der Europäischen Union noch verstellen, befreit.
Dass das Licht in diesen, wie in viele andere Skandale gebracht wird, die das Pandemiemanagement ja von Anfang an begleitet haben, ist dem großen Engagement und den couragierten Recherchen zahlreicher Zeitgenossen mit großer Expertise aus den unterschiedlichsten Bereichen der Gesellschaft zu verdanken. Die unermüdliche und meist auch unbezahlt geleistete Arbeit ist als entscheidender Beitrag zur Aufdeckung der dem Pandemienarrativ inhärenten und z.T. auch zugrundeliegenden mafiös-verbrecherischen Strukturen anzusehen. Dank ungezählter, von unten entstandener und sich vernetzender Initiativen, die in der Regel nicht nur ohne Unterstützung durch staatliche Institutionen und Leitmedien, sondern oft sogar gegen sie, wichtige Aufklärungsarbeit leisten, werden sowohl die wahren Gründe als auch die negativen Folgen des bereits vom Ansatz her verfehlten Pandemiemanagements und seiner sowohl unverhältnismäßigen als auch ineffizienten und inkompetenten Durchführung nach und nach öffentlich immer sichtbarer. Sei es durch das einzelne Engagement couragierter Mitmenschen oder durch Initiativen in kleinen Teams und Arbeitsgemeinschaften, die zusammen gefunden haben: Insgesamt wurden in fast allen Bereichen elementar wichtige Grundlagen zur dringend erforderlichen gesamtgesellschaftlichen Aufarbeitung der Corona-Krise gelegt. Und das, obwohl diese Aufgabe eigentlich den staatlichen Institutionen obliegt bzw. hätte obliegen müssen. Man kommt daher nicht umhin, hier den wirklich dramatischen Fall eines multiplen Staatsversagens attestieren zu müssen.
Der Aufklärungsprozess wird sicher noch einige Zeit mehr benötigen, bis er das Zentrum bzw. die Mehrheitsöffentlichkeit wirklich erreicht haben wird. Das liegt vor allem daran, dass durch die Spaltung der Gesellschaft, insbesondere infolge des Impfnarrativs, hohe psychische Barrieren errichtet worden sind. Diese Barrieren verhindern vorerst noch, dass man sich mit den gebrochenen Versprechen der Politiker und dem verletzten Vertrauen in die Institutionen in der notwendigen gesellschaftlichen Breite (und Tiefe) auseinandersetzt. Die Menschen, die der sog. Impfung vertraut haben, sind ja in äußerst zynischer Weise belogen, betrogen, hintergangen und als Mittel zum Zweck missbraucht worden. Angesichts dieser Erfahrung, die jetzt schon reihenweise Menschen zu Opfern, die ihre Gesundheit eingebüßt haben wie zu Opfern von Traumatisierung gemacht hat und in vielen weiteren Fällen Menschen noch zukünftig krank machen und traumatisieren wird, braucht es viel Kraft und großen persönlichen Mut, um sich eingestehen zu können, Opfer einer so massiven Manipulations- und Missbrauchskampagne geworden zu sein. Wer – frei nach Gustave le Bons „Psychologie der Massen“ (1895) – die Menschen zu täuschen versucht, wird leichter ihr Herr, als wer sie darüber aufklärt, dass sie getäuscht wurden. Dies kognitiv und vor allem seelisch vor den Erkenntnis-und Gewissensinstanzen des Ich zu ratifizieren, bedeutet, dass man sich eine in Mark und Bein gehende narzisstische Kränkung erst einmal überhaupt eingestehen und als Wahrheit für sich zulassen können muss:
„ICH habe mich täuschen lassen, ICH war so ‚dumm’ oder so schwach, die Lüge und das Manipuliert-Werden nicht zu durchschauen. Daher konnte ICH so leicht zum Opfer werden.“
Damit sind große Ängste assoziiert, die vor ihrer Bewusstwerdung sozusagen noch „eingefroren“ sind, also erst einmal „auftauen“ müssen. Zu diesen Ängsten muss man sich zunächst einmal so stellen können, dass es möglich wird, sich zu ihnen zu bekennen, womit sie seelisch überhaupt erst bearbeitbar gemacht werden.
Aus diesem Grund wird es, wie gesagt, noch länger dauern, bis diese Barrieren abgebaut und überwunden werden können. Freilich wird das Gelingen dabei von weiteren konkreten, nicht vorhersagbaren Umständen und Ereignissen abhängig sein. Dass dennoch das Interesse und die Aufmerksamkeit gegenüber dem, was unter dem Begriff der hybriden Kriegsführung gegenüber der eigenen Bevölkerung verstanden werden muss, in den letzten Monaten nicht ab-, sondern zugenommen hat, kann vor dem Hintergrund nur als ein gutes Zeichen gedeutet werden.
Der „drohende Verlust, das Mögliche zu tun“ oder „ein neues Beispiel an Mitbestimmungsdemokratie“?
Beim derzeitigen Stand der Aufklärung – und unter Berücksichtigung der Eigendynamik, den dieser Prozess entwickelt – ist davon auszugehen, dass die hybride Kriegsstrategie der Global Governance weiter unter Druck geraten wird. Dabei scheint vorgezeichnet zu sein, dass diese unvermittelt und noch offensichtlicher in naher Zukunft mit den Kernelementen der Demokratie und ihrer immerhin über siebzig Jahre alten Praxis kollidieren wird: dem Element einer pluralistisch verfassten Öffentlichkeit und den Prinzipien der Gewaltenteilung. Beide hatten allerdings unter den jüngsten Angriffen der pandemischen Katastrophenpolitik bereits schwer zu leiden.
Auf den z.T. schon jetzt hochkochenden, möglicherweise kurz vor der Eskalation bzw. Explosion stehenden Kollisionsfall möchte ich im zweiten Teil das Augenmerk richten. Dieser Teil wird sich nicht nur mit der Krise der Öffentlichkeit, sondern auch mit dem bedrohlich nah uns bevorstehenden Ende der Politik befassen. Man kommt jedenfalls nicht darum herum, den bald eintretenden Tod des Politischen – der Patient ist schon auf der Intensivstation– zu antizipieren, wenn wir als Beurteilungsmaßstab für die Analyse Arendts empathischen Politikbegriff anlegen. Denn Politik ist bei Arendt nicht durch Herrschaft, sondern, wie wir bereits gesehen haben, durch Handeln definiert:
„Was den Menschen zu einem politischen Wesen macht, ist seine Fähigkeit zu handeln; sie befähigt ihn, sich mit seinesgleichen zusammenzutun, gemeinsame Sache mit ihnen zu machen, sich Ziele zu setzen und Unternehmungen zuzuwenden, die ihm nie in den Sinn hätten kommen können, wäre ihm nicht diese Gabe zuteil geworden: etwas Neues zu beginnen (...) Keine andere Fähigkeit außer der Sprache (...) unterscheidet uns so radikal von jeder Tierart. Alle dem Leben zugeschriebenen schöpferischen Qualitäten, die sich angeblich in Macht und Gewalt manifestieren, sind in Wahrheit einzig der Fähigkeit zu handeln geschuldet.“ (139)
An diesem Punkt ist es sehr aufschlussreich und auch berührend zu sehen, wie Arendt das neuzeitliche Epochenproblem der Herrschaft thematisiert. Sie macht dieses Problem an der schwierigen, brüchig und prekär gewordenen Beziehung der Herrschaft zum Handeln fest und formuliert ihre Diagnose als Statement, das sich für uns heute wie ein vielsagendes, Prophezeiung und Bekenntnis amalgamierendes zeithistorisches Zeugnis liest. In den 1960er Jahren, „zwischen Vergangenheit und Zukunft“ (140), sieht Arendt am Horizont der Geschichte jene ominösen Kräfte schon machtvoll heraufziehen, die – wenn sie sich durch die Interventionen, ein Dazwischen-Gehen und Sich-Einmischen freiheitsliebender Menschen nicht stoppen lassen – ewige Nacht über das Politische zu legen drohen. Erschreckend hellsichtig – so dass wir beim Lesen dieser Sätze unweigerlich an die zeitgenössische Transhumanisten-Agenda und die durch sie zwar vollmundig und sehr sendungsbewusst, aber zugleich auch trivialisiert adaptierte Losung: „Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll!“ (141) aus Nietzsches „Also sprach Zarathustra“, denken müssen – heißt es am Ende von „Macht und Gewalt“:
„Ich glaube, es läßt sich nachweisen, daß keine andere menschliche Fähigkeit in solchem Ausmaß unter dem ‚Fortschritt’ der Neuzeit gelitten hat wie die Fähigkeit zu handeln. Denn Fortschritt nennen wir den erbarmungslosen Prozeß des Mehr und Mehr, Größer und Größer, Schneller und Schneller, der immer gigantischerer Verwaltungsapparate bedarf, um nicht im Chaos zu enden. Woran Macht heute scheitert, ist nicht so sehr die Gewalt als der prinzipiell anonyme Verwaltungsapparat. (...) Sollen die nächsten tausend Jahre nicht zu einem Zeitalter ‚überzivilisierter Affen’ führen – bzw. die Menschen, wie der (...) russische Physiker Sacharow ausführt, zu Hühnern oder Ratten werden, denen man ‚mittels mit dem Gehirn gekoppelten Elektroden angenehme elektronische Reize versetzt’, die von den ‚weisen Ratschlägen ihrer zukünftigen geistigen Helfern, den künstlichen Denkautomaten regiert werden’, (...) bedürfe die Welt offenbar eines ‚neuen Beispiels’ (...) an Mitbestimmungsdemokratie – participatory democracy – (...) um nicht die Fähigkeit das Mögliche zu tun, (zu) verlieren.“ (142)
Quellen und Anmerkungen
(1) Im Text folge ich der Definition der Global Governance, die die Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) gegeben hat: „Als Global Governance bezeichnet man alle Entscheidungs-und Umsetzungsmechanismen- und -prozeduren auf globaler Ebene. Akteure der Global Governance sind nationale Regierungen, internationale (z.B. UNO, Weltwirtschaftsforum, Weltbank) und regional internationale (z.B. die EU) Organisationen, multinationale Unternehmen, NGOs (Nicht Regierungs-Organisationen) aus der sog. Zivilgesellschaft, Think Tanks, Stiftungen, Interessenverbände, einflussreiche Lobbyorganisationen und Medien, Kirchen, religiöse und weltanschauliche Gruppen. Ich verwende den Begriff der Global Governance hier „als technisch und technologisch gestützte, informelle Weltregierung.“ https://www.bpb.de/veranstaltungen/netzwerke/teamglobal/67457/global-governance – Zur Präzisierung gebrauche ich ferner den Begriff der Global Corporate Governance. Damit soll der hohe Verschmelzungsgrad zwischen den politischen und großökonomischen Macht-und Interessenssphären (Einfluss multinationaler Konzerne, Schattenbanken, Hedge-Fonds usw.) und wie beide ihre Macht dadurch ausdehnen, angezeigt werden. Dieses Macht-und Herrschaftsamalgam stellt auf globaler Ebene die Verwirklichung von Mussolinis Diktum: „Der Faschismus sollte Korporatismus heißen, weil er die perfekte Verschmelzung der Macht von Regierung und Konzernen ist, dar. Siehe dazu auch: Rainer Rupp, „Der Faschismus soll Korporatismus heißen“ – Die Allianz zwischen FBI und globaler Finanzelite, https://www.freidenker.org/?p=15097, 31.1.2023.
(2) https://www.deutschlandfunkkultur.de/hannah-arendt-und-wolfram-eilenberger-diese-buecher-wollen-100.html. Diese Entwicklung setzte erst nach ihrem Tod 1975 in New York ein.
(3) Ich umkreise das Problem an dieser Stelle nur, da ich im Verlauf meiner Darstellung näher begründen werde, warum ich die Diagnose von Marchart teile und worin ich die Gründe für diese „Depolitisierung“ im Umgang mit Hannah Arendts Werk sehe.
(4) Oliver Marchart, Die Welt und die Revolution, https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/29517/die-welt-und-die-revolution/, S.2
(5) Siehe näher dazu: Bernd Schoepe, Cancel Culture macht Schule, insb. Kap. 3: Change-Management und die undurchsichtigen Strategien zur Umsetzung eines fragwürdigen Werte-und Einstellungswandels für Schule und Unterricht, https://bildung-wissen.eu/wp-content/uploads/2021/12/NVBSCancel-Culture-macht-Schule-Endfassung-B.S.-–-08.12.2021.pdf.
(6) https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-98221
(7) https://www.youtube.com/watch?v=ULBeVYBcUTs, letzter Zugriff am 01.02.2023
https://www.n-tv.de/politik/Vertrauen-in-Politik-sinkt-vor-allem-in-den-Kanzler-article23036025.html
(9) Adalbert Reif, Interview mit Hannah Arendt, in: Hannah Arendt, Macht und Gewalt, München 1996, S.125.
(10) Rainer Mausfeld, Das Schweigen der Lämmer. Wie Elitendemokratie und Neoliberalismus unsere Gesellschaft und unsere Lebensgrundlagen zerstören, Frankfurt/M. 2018.
(11) Sabine Beppler-Spahl (Hg.), Cancel Culture und Meinungsfreiheit. Über Zensur und Selbstzensur, Frankfurt/M., 2022. Darauf, dass Cancel Culture nicht dem Schutz von Minderheiten dient, sondern durch das Canceln ganz etwas anderes auf dem Spiel steht, hat der Schriftsteller Matthias Politycki in seinem Essay „Abschied von Deutschland“ hingewiesen: „Nichts Geringeres wird gerade in der westlichen Welt verhandelt als unser Begriff von Freiheit. Wo manche noch glauben, es ginge lediglich um die Verbannung gewisser Wörter und Formulierungen, geht es in Wirklichkeit um die Art und Weise, wie wir in Zukunft leben wollen.“
(12) Hannah Arendt, Macht und Gewalt, Interview mit Adalbert Reif, a.a.O., S. 124.
(13) Brigitte Pick, Orwell und das Heute, https://www.nachdenkseiten.de/?p=88386, 24.9.2022.
(14) In George Orwells „1984“ heißt es: „Begreifst du denn nicht, dass Neusprech nur ein Ziel hat, nämlich den Gedankenspielraum einzuengen? Zu guter Letzt werden wir Gedankendelikte buchstäblich unmöglich machen, weil es keine Wörter mehr geben wird, um sie auszudrücken.“
(15) Bertolt Brecht, Die Lösung, aus: Buckower Elegien, in: Ders.: Gesammelte Werke in 20 Bänden, Bd. 10: Gedichte 3, Frankfurt/M. 1968. Siehe auch: Michael Andrick, https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/olaf-scholz-waehlt-sich-ein-neues-volk-li.305208, 9.1.2023. Auszug Andrick: „Scholz geht (...) vom Grundsatz aus, den Brecht 1953 der DDR-Regierung ironisch andichtete: dass ‚das Volk // Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe // Und es nur durch verdoppelte Arbeit // zurückerobern könne.’ (...) Diese Haltung ist exemplarisch am Entwurf zum ‚Demokratiefördergesetz’ abzulesen: Nicht die politischen Institutionen und Akteure, denen die große Mehrheit nicht mehr vertraut, sind das Problem der Republik; das Problem ist die Bevölkerung. Denn Sie, werter Leser, und ich haben eine ‚Vielzahl demokratie-und menschenfeindlicher Phänomene’ zu verantworten, als da wären: ‚die gegen das Grundgesetz gerichtete Delegitimierung des Staates’, die ‚Verbreitung von Verschwörungsideologien, Desinformation und Wissenschaftsleugnung, Hass und Hetze im Internet’, kurz: unseretwegen nehmen (...) ‚multiple Diskriminierungen und Bedrohungen’ immer weiter zu.“
(16) Tariq Ali, Heiner Flassbeck, Rainer Mausfeld, Wolfgang Streeck, Peter Wahl, Die extreme Mitte. Wer die westliche Welt beherrscht. Eine Warnung. Wien, 2020.
(17) Julia Kristeva, Das weibliche Genie I, Hannah Arendt, Hamburg 2021.
(18) https://www.infosperber.ch/politik/welt/__trashed-525/, 20.10.2022. https://www.rubikon.news/artikel/stilbluten-und-scheingefechte, 23.1.2023.
(19) Auf der anderen Seite hat sich eine trotz schwieriger Arbeits-und Finanzierungsbedingungen blühende, vielgestaltige alternative Online-Medienszene herausgebildet, die – während die Mainstream-Medien ausnahmslos tief in der Krise stecken – mehr Interesse, Zuspruch und Unterstützung finden, weil ein unabhängiger und mit Idealismus betriebener gesellschaftskritischer Journalismus die mächtigen Narrative hinterfragt, erschüttert und immer stärker herausfordert, und das auch honoriert wird. Solange man sich nicht in den großen Redaktionsbüros in Deutschland und andernorts daran erinnert, dass Journalismus heißt, etwas zu bringen, von dem andere – nach Orwell – nicht wollen, dass es veröffentlicht wird (alles andere nennt er „Public Relations“) wird die Krise des Mainstream-Journalismus fortdauern.
(20) Bernd Schoepe, Die Pandemie ist – nicht – zu Ende. I: Von der Post-Corona-Zeit in den totalitären Reset? Annäherungen an ein merkwürdiges Interregnum.
https://www.gew-ansbach.de/2022/07/die-pandemie-ist-nicht-zu-ende/
(21) Arendt zitiert nach „Am Abgrund der Moderne“, Interview von Antonia Grunenberg mit Catherine Newmark, 9.7.2015 https://www.philomag.de/artikel/am-abgrund-der-moderne.
Newmark weiter: „Diese Abwendung vom Politischen bei gleichzeitigem Machtopportunismus gegenüber faschistischen bzw. totalitären Herrschaftssystemen, das ist es, was Arendt als fatale Tendenz nicht nur der Philosophie, sondern der gesamten europäischen Intelligenz diagnostiziert.“
(22) Damit ist gemeint, dass die „Pandemie“ als politisch verabredeter und nach einer Art „Drehbuch“ ausgearbeiteter und in Szene gesetzter Ausnahmezustand einen Versuch darstellt, „die gegenwärtige Tendenz von Verfall und Desintegration umzukehren und die durch die IT-Revolution geschaffenen Möglichkeiten zu nutzen, und sei es nur zur Abwehr der Gefahr einer demokratischen Alternative“ – und dieser Versuch – nicht die Seuchengefahr – nicht vorbei ist. Kees van der Pijl, Die belagerte Welt, Ratzert 2021, S. 55. Auf Kees van der Pijls Buch gehe ich ausführlicher in Kap. 3 ein.
(23) Hannah Arendt, Fernsehgespräch mit dem französischen TV-Journalisten Roger Errera, ausgestrahlt am 6.7.1974, protokollierter Text des Interviews in: Hannah Arendt, Ich will verstehen – Selbstauskünfte zu Leben und Werk, München 2005, S. 125.
(24) „Der PARIA akzeptierte die soziale Stellung eines Außenseiters und hielt an dem Anderssein fest, das die bürgerliche Gesellschaft ihm oder ihr unverändert auferlegte. Der Parvenu hingegen war bemüht, seinen oder ihren Außenseiterstatus zu überwinden und das Anderssein loszuwerden, indem er die Differenz überhaupt leugnete oder die Identifizierung mit den Wertvorstellungen und dem Verhalten der ‚nichtjüdischen christlichen Gesellschaft‘, deren Anerkennung er oder sie suchte, übertrieb. Unter diesen Umständen war die ‚Judenfrage‘ eine Frage sozialer Anerkennung: wie konnte man ein vollwertiges Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft sein (…), ohne gleichzeitig zu verleugnen, wer man war?“
Seyla Benhabib, Hannah Arendt, Die melancholische Denkerin der Moderne, Frankfurt/M. 2006, S. 77.
(25) Arendt, Ich will verstehen, a.a.O., S.139 f. Welche Bedeutung der Paria unter den Bedingungen der modernen Massengesellschaft für Arendt hatte, macht folgende Aussage deutlich: „Die Menschenwürde, die Achtung vor dem menschlichen Angesicht, die der Paria instinktartig entdeckt, ist die einzig natürliche Vorstufe für das gesamte moralische Weltgebäude der Vernunft.“
(26) Arendt, ebd. S.37. In einer Diskussion 1972 sagte sie:
„Sie fragen mich also, wo ich stehe. Ich stehe nirgendwo. Ich schwimme wirklich nicht im Strom des gegenwärtigen oder irgendeines anderen politischen Denkens. Allerdings nicht deshalb, weil ich besonders originell sein will – es hat sich vielmehr einfach so ergeben, dass ich nirgendwo richtig hineinpasse.“ Ebd., S.111.
(27) Arendt, Rosa Luxemburg, in: Dies., Menschen in finsteren Zeiten, München 2012, S.46 – 74.
(28) Ebd., Bertolt Brecht, S.259 – 310.
(29) https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Blücher, zuletzt zugegriffen am 20.01.2023. Siehe dazu auch die Darstellung, die Marchart in „Die Welt und die Revolution“ gibt.
(30) Arendt, Vita activa, München 1981, S.166.
Seyla Benhabib stellt Arendts Umgang mit Heideggers existenzialontologischen Kategorien im Kap. IV „Der Dialog mit Martin Heidegger: Arendts Ontologie der Vita Activa, S.169 – 189, dar. In: Dies., Hannah Arendt, Die melancholische Denkerin der Moderne, a.a.O.
(32) Arendt, Die Freiheit, frei zu sein, München 2018, S.38.
(33) Im bereits in einem anderen Zusammenhang zitierten Interview mit Adalbert Reif, a.a.O., S.119.
(34) In „Macht und Gewalt“ heißt es in der Anmerkung 30 auf S.26: „Der Fall Lenin ist komplizierter (als der von Marx und Engels hinsichtlich der Rolle der Räte innerhalb ihrer Theorie, Anm. B.S.) Dennoch war es schließlich Lenin, der die Sowjets entmachtete und alle Macht der Partei gab.“ Agitatorisch vollzog Lenin den Bruch mit dem Rätekommunismus in seiner Schrift mit dem bezeichnenden Titel „Der ‚Linke Radikalismus’, die Kinderkrankheit im Kommunismus“. Spätestens unter Stalin hatte sich die Macht der Räte dann völlig aufgelöst. Damit war die entscheidende Weichenstellung zu einem Staatssozialismus erfolgt, der für die Kritik der Rätekommunisten theorieimmanent alle wichtigen Bedingungen dafür erfüllte, um als Staatskapitalismus im Gewand bloßer kommunistischer Rhetorik abgelehnt und bekämpft zu werden. Der rätekommunistische Standpunkt lautete, dass der Staat in Gestalt der bolschewistischen Ein-Parteien-Diktatur die Funktion der Kapitalistenklasse lediglich übernommen habe; weder sei es zu einer Befreiung der Arbeiterklasse gekommen, noch habe sich grundsätzlich etwas an ihrer Lohnabhängigkeit und damit an entfremdeten Arbeitsverhältnissen geändert. Daher kann auch kein Zweifel daran bestehen, dass die Erwerbsarbeit in den sog. staatssozialistischen Systemen die heteronome Ausbeutung des Menschen nach Marx nicht beseitigt, sondern perpetuiert hat. Im Rätesystem „sieht Arendt einen Ansatz für einen neuen Staatsbegriff, ein föderales System, das von unten beginnt, sich nach oben fortsetzt und schließlich zu einem Parlament führt, wobei die Räte die Nachteile einer nach Parteien organisierten Volksvertretung, die durch Klasseninteressen bestimmt sind, überwinden.“ Bruno Heidlberger, Rezension zu Richard J. Bernstein: Denkerin der Stunde: Hannah Arendt, https://www.socialnet.de/rezensionen/28027.php
(35) Elisabeth Young-Brühl, Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt/M. 2018, S.554.
(36) Schmid-Arendt, Das Recht auf Revolution, Radio-Gespräch (1965) https://www.hannaharendt.net/index.php/han/article/view/296/423, S. 2 – Als Audio: https://www.br.de/mediathek/podcast/nachtstudio/hannah-arendt-das-recht-auf-revolution/1306191
(37) Arendt, Macht und Gewalt, a.a.O., S.25.
(38) Vergessen wir nicht, dass historisch-etymologisch der Terror also ein Abkömmling der Revolution und der vitiösen Dynamik ist, die die Revolution aus sich gebar, wodurch geschichtlich immer wieder neues Leid geschaffen wurde.
(40) Arendt, Das Recht auf Revolution, a.a.O.
(41) Elisabeth Young-Brühl, a.a.O., S… ?
(42) Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise, 2.Akt, 10.Auftritt (Al Hafi): “Wer überlegt, der sucht//Bewegungsgründe nicht zu dürfen. Wer//Sich knall und Fall, ihm selbst zu leben, nicht//Entschließen kann, der lebet andrer Sklav//auf immer.”
(43) Hannah Arendt, Über die Revolution, München 2011, S. 305.
(44) Karl Jaspers schrieb in „Wohin treibt die Bundesrepublik? dazu: „Man will Ruhe im neuen Staat, so wie er ist. Die Menschen, die im Tiefsten immer unentschieden, nie sie selbst sind, wollen ihre Behaglichkeit. Daß etwas in den Fundamenten des Staates nicht in Ordnung sein sollte, ist ihnen ein fremder Gedanke der subversiven Kritiker, der ‚Negativen‘.“ Karl Jaspers, Mitverantwortlich. Ein philosophisch politisches Lesebuch, Gütersloh o.J., S.304.
Arendt dagegen schrieb an Dolf Sternberger: „Mir hat die gute alte Zeit schon nicht gefallen, als sie noch 25 Jahre jünger war“. – Zu den ökonomischen Gründen der Restauration und Refaschisierung in der BRD, die von Arendt nicht thematisiert wurden, siehe Liane Kilic im Magma-Magazin linker Widerstand https://magma-magazin.su/2022/12/liane-kilinc/was-hat-alles-dazu-beigetragen-dass-die-nazi-ideologie-in-deutschland-wieder-so-leicht-fuss-fassen-kann/ , 5.12.2022.
(45) Josef Foschepoth, Verfassungswidrig! Das KPD-Verbot im Kalten Bürgerkrieg, Göttingen 2017.
(46) Arendt, Denken ohne Geländer. Texte und Briefe, München 2006, S. 226.
(47) Ebd., S.227 f.
(48) Ebd., S. 228.
(49) Ebd., S. 229 f.
(50) New York Times, 25. Mai 1969, zitiert nach Elisabeth Brühl-Young, a.a.O., S. 575.
(51) Arendt, Macht und Gewalt, a.a.O., S.80. In historischer Perspektive formuliert, hört sich diese Kritik so an: „Das Parteiensystem, das bis heute die einzige Form ist, in welcher die Volkssouveränität im Nationalstaat zur Geltung kommen kann, ist auch von eben diesem Volks eigentlich mit seinem Entstehen (im 19.Jahrhundert, Anm. B.S.) mit einigem Mißtrauen betrachtet worden, und es hat in vielen Fällen (…) unter Zustimmung breitester Volksmassen mit der Errichtung einer Parteiendiktatur und der Abschaffung gerade der spezifisch demokratischen Institutionen (…) geendet.“
(52) Brühl-Young, a.a.O., S. 576.
(53) Das 1965 erschienene Buch wurde später in der Bundesrepublik bezeichnenderweise nicht wieder aufgelegt und ist heute nur noch vereinzelt zu hohen Sammler-und Liebhaberpreisen antiquarisch erhältlich. Eine Zusammenfassung wichtiger Aussagen des Buches findet sich hier: https://www.gewaltenteilung.de/wohin-treibt-die-bundesrepublik/
(54) Jaspers zitiert nach: https://www.freitag.de/autoren/spahlke/der-neuste-angriff-auf-die-demokratie – Was die Einmütigkeit mit Arendt in der Ablehnung der Kollektivschuldthese angeht, sei hier bloß auf den oft zitierten Passus aus „Macht und Gewalt“ verwiesen: „Nun, wo alle schuldig sind, ist es keiner; gegen die Entdeckung der wirklich Schuldigen oder Verantwortlichen, die Mißstände abstellen können, gibt es keinen besseren Schutz als kollektive Schuldbekenntnisse.“ Arendt, a.a.O., S. 65. – Man ist geneigt zu fragen, ob solche Reaktionsbildungen auf Unrecht und Unrechtserfahrungen auch eine Aufarbeitung des Unrechts der Corona-Politik verunmöglichen werden.
(55) Ebd.
(57) Jaspers, a.a.O., S. 319.
(58) Arendt, Besuch in Deutschland (1950), München 1993, S. 24.
(59) Jaspers, a.a.O., S. 366. – Arendt stellt in dem Zusammenhang die hypothetische Frage, was aus Deutschland geworden wäre, wenn die vielleicht 100.000 durch das Nazi-Regime nicht kompromittierten, unbescholtenen Bürger nach 1945 alle politischen Ämter besetzt hätten.
(60) Oliver Marchart, Die Welt und die Revolution, a.a.O., S. 3.
(61) Dabei agiert die Bundesrepublik abermals nicht aus einer Position der Stärke, sondern der Schwäche heraus: Wie der General a.D. Harald Kujat in einem Interview mit der schweizerischen Zeitschrift „Zeitgeschehen im Fokus“ kritisiert, werden „die deutschen Sicherheitsinteressen und Gefahren durch eine Ausweitung des Krieges zu wenig beachtet“, was für Kujat, der der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzender des NATO-Militär-Ausschusses gewesen ist, „von einem Mangel an Verantwortungsbewusstsein oder, um einen altmodischen Begriff zu verwenden, von einer höchst unpatriotischen Haltung“ zeuge. In dem Zusammenhang spiele laut Kujat „auch die Art und Weise eine Rolle, wie einige Verbündete versuchen, die Bundesregierung öffentlich nun auch zur Lieferung von Leopard 2-Kampfpanzern zu drängen. Das hat es in der NATO bisher nicht gegeben.“ Kujat ist der Ansicht, dies zeige, „wie sehr Deutschlands Ansehen im Bündnis durch die Schwächung der Bundeswehr“ (u.a. durch Waffenweitergabe an die Ukraine) „gelitten hat und mit welchem Engagement einige Verbündete das Ziel verfolgen, Deutschland gegenüber Russland besonders zu exponieren“. https://zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-1-vom-18-januar-2023.html.
(62) https://www.zeit.de/news/2022-12/29/mehrheit-der-bevoelkerung-gegen-ende-der-corona-massnahmen?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F https://www.focus.de/gesundheit/coronavirus/pandemie-langzeitbefragung-die-meisten-deutschen-wollen-weiter-masken-und-isolationspflicht_id_180452795.html
Siehe dazu auch Anmerkung 64.
(63) Sylvie Weber, https://www.rubikon.news/artikel/faktenchecker-in-der-bredouille:, 10.1.2023: „ ‚Wie soll man diese Menschen mit Fakten erreichen und in die Gesellschaft integrieren?’ Ja, wie oft hat man sich das in den letzten drei Jahren gefragt? Als selbst die evidenzbefreitesten Maßnahmen befolgt wurden. Man denke dabei exemplarisch an das im Winter 2021 erlassene Rodelverbot, im Kreis schwimmen in Bädern, Vorgaben über die Laufrichtung auf Wanderwegen oder die vollkommen sinnfreie Maskenpflicht beim Toilettengang im Restaurant.“
(64) https://www.rubikon.news/artikel/der-coronismus - Die Triftigkeit von Meyerhöfers These, belegt eine Umfrage, die in den Medien gleich nach Weihnachten 2022 publik wurde, unmittelbar nachdem der Covid-19-„Chef-Virologe“ Christian Drosten die Pandemie für „beendet“ erklärt hatte. Das Meinungsforschungsinstitut YouGov hat daraufhin in einer Umfrage diesbezüglich die Stimmung in der Bevölkerung zu ermitteln versucht. Das YouGov-Ergebnis: 64% der Befragten widersprachen der bislang in den Massenmedien fast als päpstlich gehandelten Meinung Drostens. Siehe dazu auch die Links in Anmerkung 62.
https://web.de/magazine/news/coronavirus/mehrheit-bevoelkerung-corona-massnahmen-37598548
(65) "Die wirksamste Manipulation unseres Geistes zielt nicht darauf, bestimmte ideologische Überzeugungen in uns zu verankern, sondern darauf, uns der Befähigung zu berauben, überhaupt Überzeugungen auszubilden.“ Hannah Arendt, zitiert nach Rainer Mausfeld, Die Angst der Machteliten vor dem Volk, https://www.uni-kiel.de/psychologie/mausfeld/pubs/Folien_Angst%20der%20Eliten_HH_IPPNW.pdf _ Zur fehlenden Ausbildung von Überzeugungen siehe auch in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S.538: „Es ist mehr als ein Zeichen allgemein menschlicher Schwäche oder spezifisch deutschen Opportunismus, daß die Alliierten nach der Niederlage von Nazideutschland vergeblich nach einem einzigen überzeugten Nazi in der Bevölkerung fahndeten, und dies besagt nichts gegen die Tatsache, daß vermutlich achtzig Prozent des deutschen Volkes irgendwann einmal überzeugte Anhänger oder Sympathisierende der Nazis gewesen waren. Dar Nazismus als Ideologie war so vollständig in der Organisation der Bewegung des Reiches ‚realisiert‘ worden, daß von seinem Inhalt als einem System bestimmter Doktrinen mit einer von der Realität unabhängigen geistigen Existenz nichts übriggeblieben war.“
(66) https://www.deutschlandfunkkultur.de/gedankenlosigkeit-als-philosophischer-kernbegriff-100.html, 24.3.2011.
(67) https://www.deutschlandfunk.de/abstrakte-arbeit-und-destruktive-sehnsucht-100.html71 - Eichmann/Arendt, 13.3.2011.
(68) Arendt, Gedanken zu Lessing, in Dies., Menschen in finsteren Zeiten, a.a.O., S. 33.
(69) Arendt, Fernsehgespräch mit Thilo Koch (24.1.1964) in Dies., Ich will verstehen, a.a.O., S.43. Siehe dazu auch: Deutschlandfunk, Gedankenlosigkeit als philosophischer Kernbegriff, a.a.O.
(70) Ebd.
(71) Ebd., S. 44 f.
(72) http://www.auschwitz-prozess-frankfurt.de/index.php?id=146
(73) Hier zwei Auszüge aus dem schönen Buch von Kleßmann: „Hier geht es um die Geschichte einer von Anfang an schwierigen und spannungsgeladenen Beziehung und deren Ursachen zu Lebzeiten Goethes. Sein Tod hat die Deutschen nicht versöhnlicher gestimmt, im Gegenteil. Denn nun wurde mit der Veröffentlichung seiner Briefe und Gespräche überhaupt erst bekannt, wie wenig der Dichter von seinen Landsleuten gehalten hatte (…), S.7. „Heute, dank einer eingehenden, den kleinsten Spuren und Verästelungen nachgehenden Goethe-Wissenschaft, liegen uns die großen und die kleinen Zusammenhänge klar zutage. Aber was wußte damals Deutschland von dem, den es einst als seinen größten Dichter würdigen sollte? Von der Tätigkeit des Naturforschers erst spät, und von diesem Goethe hat es bis heute wenig wissen wollen. Seine naturwissenschaftlichen Studien, seine Forschungen zur Urpflanze oder zur Farbenlehre wurden und werden belächelt. Und gerade diese hochmütige Zurückweisung hat das negative Bild, das Goethe nun seinerseits von seinen Landsleuten (…) – wenn Goethe von den ‚Deutschen‘ spricht, meint er die später so genannten ‚Bildungsbürger‘ (…), Probleme mit denen, die man das ‘einfache Volk‘ nannte, gab es hingegen nicht – gewann, entschieden bestätigt. Diesen eminent vielfältig begabten Künstler, groß als Lyriker, Romancier, Dramatiker, Essayist, Naturforscher und Zeichner, von einem geistigen Rang, der in dieser die Grenzen überwindenden Begabungsfülle alles, was vor und nach ihm war, verzwergen läßt: Ihm gaben die Deutschen zwar gern den albernen Titel eines ‚Dichterfürsten‘, doch tatsächlich suchten sie ihn kleinzureden, zu reduzieren auf ein Format, das ihnen kommensurabel schien (…).“ Eckart Kleßmann, Goethe und seine lieben Deutschen, Ansichten einer schwierigen Beziehung, Frankfurt/M. 2010, S. 7 und S. 41 f.
(74) Anselm Lenz / Ullrich Mies, Der Ausnahmezustand als Regel, in: Ullrich Mies (Hg.), Schöne Neue Welt 2030, Vom Fall der Demokratie und dem Aufstieg einer totalitären Ordnung, Wien 2021, S. 36.
(75) Marchart, a.a.O., S. 13.
(76) Arendt, Über die Revolution, a.a.O., S. 314.
(77) Ebd., S. 303 und S. 281.
(78) Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, S.942. Ähnlich heißt es am Ende des Eichmann-Berichts: „Die erschreckende Koinzidenz der modernen Bevölkerungsexplosion mit den technischen Erfindungen der Automation einerseits, die große Teile der Bevölkerung als Arbeitskräfte ‘überflüssig‘ zu machen droht, und mit der Entdeckung der Atomenergie andererseits hat eine Situation geschaffen, in der man ‚Probleme‘ mit einem Vernichtungspotential lösen könnte, dem gegenüber Hitlers Gasanlagen sich wie stümperhafte Versuche eines bösartigen Kindes ausnehmen. Es besteht aller Grund sich zu fürchten (…)“ Zit. nach
https://www.deutschlandfunk.de/hannah-arendt-revisited-eichmann-in-jerusalem-und-die-folgen-100.html, 26.3.2001.
(79) Yuval Noah Harari, 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert, München 2020, S. 133 f.
(80) Kai Ehlers, Trojanisches Pferd des Transhumanismus, 8.7.2020, https://www.rubikon.news/artikel/trojanisches-pferd-des-transhumanismus
Als „vierte industrielle Revolution“ bezeichnet der Vorsitzende des Weltwirtschaftsforums Klaus Schwab, in seinem gleichnamigen Buch „die Verschmelzung von physischer, digitaler und biologischer Identität“. Sie wird als Schlüsselbegriff für den vom Weltwirtschaftsforum vorgesehenen globalen Transformationsprozess verwandt. Klaus Schwab, Die vierte industrielle Revolution, München 2016. Siehe dazu auch Klaus Schwabs Rede „The Fourth Industrial Revolution has already begun” vor dem Chicago Council on Global Affairs, 15.9.2019.
(82) Vgl. dazu auch die Einschätzungen Edward Snowdens, der schon am Beginn der sog. Corona-Pandemie vor einer „Architektur der Unterdrückung“ gewarnt hat: https://tkp.at/2022/12/25/edward-snowden-corona-massnahmen-haben-ausspionieren-von-buergern-normalisiert/, 25.12.2022.
(83) https://www.derstandard.de/story/2000117192353/transhumanismus-muss-der-mensch-optimiert-werden.
(84) Ebd.
(85) SMART steht übrigens nicht für „clever und smart“, sondern als Akronym für die vier zentralen, datafizierten Funktionen digitaler Systeme = Surveillance (Überwachung) M = Monitoring (Kontrolle), A = Analysis (Analyse), R = Reporting (Berichterstattung). T steht für die Technologien (Technologies), durch die diese Funktionen datengestützt ausgeübt werden. Zu Aspekten des smarten Totalitarismus siehe Byung Chul Han, Infokratie, Berlin 2021: „Das Smartphone erweist sich als effizienter Informant, der uns einer Dauerüberwachung unterzieht. Smart Home verwandelt die ganze Wohnung in ein digitales Gefängnis, das unser alltägliches Leben minutiös protokolliert. Der smarte Staubsaugerroboter, der uns mühsames Putzen erspart, kartiert die ganze Wohnung. Das Smart Bed mit vernetzten Sensoren setzt die Überwachung auch während des Schlafes fort. Die Überwachung schleicht sich in Form von ‚Convenience’ in den Alltag ein. Im digitalen Gefängnis als smarter Wohlfühlzone erhebt sich kein Widerstand gegen das herrschende Regime. Der Like schließt jede Revolution aus.“ Han zitiert nach https://www.deutschlandfunkkultur.de/byung-chul-han-infokratie-die-folgen-von-big-data-und-100.html
(86) Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 943
(87) Arendt, Macht und Gewalt, a.a.O., S. 87.
(88) Arendt, Nationalstaat und Demokratie, Einleitungsreferat zu einer Diskussion mit dem Politikwissenschaftler und Publizisten Eugen Kogon, WDR-Radiogespräch, 11.7.1963.
(89) Das ganze Zitat lautet: „Sinn entsteht bei Arendt deshalb nicht aus der einsamen Entscheidung über ein zu verfolgendes Ziel, sondern in der Perspektivenpluralität einer mit anderen geteilten Welt. Umgekehrt folgt Sinnverlust (…) nicht aus der Pluralisierung von Werten, sondern aus der Zerstörung dieser pluralen, aber gemeinsamen Welt durch Herrschaft und Funktionalisierung.“ Winfried Thaa, Kulturkritik und Demokratie bei Max Weber und Hannah Arendt, S.42
https://de.readkong.com/page/kulturkritik-und-demokratie-bei-max-weber-und-hannah-arendt-8729695
(90) Über die Zusammensetzung der der Corona-Politik kritisch bzw. sehr kritisch gegenüber eingestellten, und an Protesten gegen sie beteiligten Bevölkerungsteilen, hat der Soziologe Oliver Nachtwey empirisch geforscht. Abgesehen davon, dass sich Nachtwey auf geradezu ridiküle Art und Weise des Framings der Demonstranten als „Verschwörungsideologen“, und zwar bis zum Biegen und Brechen im ihm offenbar nicht zu Bewusstsein gelangenden Widerspruch zu den eigenen, diese Annahmen falsifizierenden Forschungsergebnissen bedient, sind einzelne Ergebnisse seiner Stichproben-Befragung, die sein Team und er einschließlich qualitativer Interviews durchgeführt hat, es durchaus wert, hier ausführlich wiedergegeben zu werden:
„Das ist eine neuartige und auch überraschende Bewegung, weil sie mitunter sehr disparate Milieus miteinander verbindet: Menschen, die eher aus dem anthroposophischen, alternativen Spektrum kommen, die zu ganzheitlichem und esoterischem Denken neigen und wahrscheinlich eher die Grünen gewählt haben. Aber auf diesen Demonstrationen haben wir auch gesehen, dass durchaus sehr konservative und mitunter auch Rechtsextreme mitgelaufen sind. (...) Das Überraschende an dieser Bewegung (..) ist, dass es eine Bewegung ist, die zum Teil von links kommt (...) es ist sozialstrukturell eine Bewegung, die durchaus qualifiziert, mitunter sogar hochqualifiziert ist, (...) dass so viele mit einem Universitätsabschluss – und wir haben sogar vier Prozent mit einem Doktortitel (...) – sich der Bewegung anschließen. (...) Was wir sehen in unseren Daten, ist, dass sehr, sehr viele Leute zunächst (..) mal gewissermaßen antiautoritär geprägt sind – im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung keine besonders (...) ausgeprägten antimuslimischen Ressentiments, einen relativ geringen Sozialchauvinismus, (...) also fast eher linksliberal sind (...) und im Grunde etwas Rebellisches haben.“ Die Aussagen werden durch den Grad an Realitätsverleugnung zunehmend komischer, je länger man Nachtwey zuhört. https://www.deutschlandfunk.de/studie-zur-querdenker-bewegung-kommt-zum-teil-von-links-100.html – Eigene soziologischen Beobachtungen habe ich anlässlich der großen Demonstrationen mit mehreren tausend Teilnehmern gegen die Corona-Maßnahmen in Hamburg im Dezember 2021 angestellt: Bernd Schoepe, Gefährliche Proteste, https://www.novo-argumente.com/artikel/gefaehrliche_proteste, 17.12.2021.
(91) Arendt, Macht und Gewalt, S. 93.
(92) Arendt, Über Wahrheit und Lüge…In Richard J. Bernsteins Buch „Denkerin der Stunde. Über Hannah Arendt“, dem ich wichtige Anregungen zu diesem Essay verdanke, schreibt Bernstein über das Verhältnis von Lüge und Wahrheit in der Politik aus Sicht Arendts, dass heute ständig die von ihr für den Totalitarismus herausgearbeitete Gefahr bestünde „dass wirkungsvolle Überzeugungsmethoden dazu verwendet“ würden, „Tatsachenwahrheiten zu leugnen, Fakten in bloße Meinungen zu verwandeln und eine Welt ‚alternativer Fakten’ zu schaffen. Und Bernstein führt weiter aus:
„Arendt warnt vor einer noch größeren Gefahr: ‚Wo Tatsachen konsequent durch Lügen und Totalfiktionen ersetzt werden, stellt sich heraus, daß es einen Ersatz für die Wahrheit nicht gibt. Denn das Resultat ist keineswegs, daß die Lügen nun als wahr akzeptiert und die Wahrheit als Lüge diffamiert wird, sondern daß der menschliche Orientierungssinn im Bereich des Wirklichen, der ohne die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit nicht funktionieren kann, vernichtet wird.“ Richard J. Bernstein, Denkerin der Stunde. Über Hannah Arendt, Frankfurt/M. 2020, S. 83. Dies trifft für die Corona-„Pandemie“ ebenso zu wie für den Ukraine-Krieg und muss als Menetekel für den drohenden Zerfall der öffentlichen Meinung gesehen werden.
(93) Siehe dazu Wolfgang Wodarg, Falsche Pandemien. Argumente gegen die Herrschaft der Angst, Kap. 14: Institutionelle Korruption – Von der Deregulierung zur institutionellen Korruption, München 2021, S. 314 – 331.
(94) Van der Pijl, Die belagerte Welt, a.a.O., S. 7.
(95) https://norberthaering.de/macht-kontrolle/who-pandemievertrag/ 28.3-2022 https://norberthaering.de/macht-kontrolle/self-spreading-vaccines/, 30.3.2022.
Der zuletzt aktualisierte Stand der Bemühungen, mittels eines „Welt-Pandemievertrages“ die nationalen Parlamente und Regierungen zu entmachten und die Öffentlichkeit durch Beeinflussung und Zensur über den Sinn und Zweck des beabsichtigten globalen Regelwerks zu täuschen: https://norberthaering.de/propaganda-zensur/behavioural-sciences-better-health/, 14.2.2023. https://tkp.at/2023/02/06/who-entwurf-fuer-ausweitung-des-pandemievertrag-zensur-von-unerwuenschten-informationen-als-zentrales-thema/, 6.2.2023.
(96) Moritz Müller, Julian Assange schmort weiter im Gefängnis während Amnesty International ihn weiter nicht als „Prisoner of Conscience“ anerkennt, https://www.nachdenkseiten.de/?p=93333, 2.2.2023.
(97) Das wird im Einzelnen in seinen historischen Ausdrucksformen und Bezügen zur Politik und politischen Theorie in Arendts Werk „Über die Revolution“ entfaltet.
(98) https://magma-magazin.su/2022/02/elena-louisa-lange/was-ist-eine-gesellschaft/
(99) Hannah Arendt, Revolution und Freiheit, in: Dieselbe, Zwischen Vergangenheit und Zukunft, S. 246 f.
(100) Zu diesen Erfordernissen und ihre Nicht-Beachtung durch die Politik siehe das Interview des Cicero mit dem Medizinstatistiker Gerd Antes, „Es wurde nahezu jeder Fehler gemacht, den man machen konnte“, Die Stadtredaktion Heidelberg via Cicero, 3.9.2021, https://www.die-stadtredaktion.de/2021/09/redaktionsempfehlungen/empfehlungen/es-wurde-nahezu-jeder-fehler-gemacht-den-man-machen-konnte/
Vgl. auch Karsten Montag, Geplante Corona-Regeln ab Oktober entbehren jeglicher sachlichen Grundlage, https://www.nachdenkseiten.de/?p=86753, 10.8.2022.
(101) Arendt, Über die Revolution, S.305.
(102) So argumentiert van der Pijl in seinem o.a. Buch, siehe bsd. Kap. 2 „Kann die Weltbevölkerung noch unter Kontrolle gehalten werden?, S. 30 – 54.
(104) https://www.merkur.de/wirtschaft/oxfam-konzerne-und-superreiche-sind-gewinner-der-krisen-zr-92029459.html, 17.1.2023.
(105) https://norberthaering.de/macht-kontrolle/ausverkauf-un/ Siehe auch Norbert Häring, Endspiel des Kapitalismus. Wie die Konzerne die Macht übernahmen und wie wir sie zurückholen, Köln 2021, S. 68 – 91.
(106) Ebd.
(107) Zitat aus dem Readers‘ Guide zur Studie „Everybody’s Business“, in der das Weltwirtschaftsforum seine Vorstellung über die Rolle der UN und die eigene Rolle darlegt. Sie wird von Norbert Häring in seinem o.a. Artikel wiedergegeben.
(108) Häring, ebd.
(109) https://praxistipps.focus.de/young-global-leaders-mitglieder-und-ziele-der-schwab-freunde_141556
(110) https://www.youtube.com/watch?v=SjxJ1wPnkk4
(111) Minutiös recherchiert und äußerst faktenreich dokumentiert, untersucht van der Pijl darin die Ursachen, Absichten und Ziele der „Pandemie“: „Im Laufe der Recherchen und des Schreibens habe ich festgestellt, dass die ‚Pandemie’ kein einfacher Betrug oder großartiger Plan ist, der von Klaus Schwab, dem Orakel von Davos ausgeheckt (...) wurde. Es handelt sich um eine komplexe historische Krise, eine Machtergreifung durch die weltweit herrschende Klasse. Die offizielle Darstellung dessen, was um uns herum geschieht, ist in hohem Maße unrichtig und wird irgendwann zusammenbrechen.“ Umschlagstext von Kees van der Pijl, Die Belagerung der Welt. Corona: Die Mobilisierung der Angst – und wie wir uns daraus befreien können, a.a.O.
(112) Ebd., S.?
(113) https://www.rubikon.news/artikel/machtmittel-corona, vom 22.2.2022.
(114) Van der Pijl, a.a.O., S. 38 f.
(115) Ebd., S. 39. – Das erklärt auch, warum die Reaktionen seitens der Exekutive in der zur Beruhigung der umstürzlerischen Lage ausgerufenen Pandemie so brüsk gegenüber all jenen ausfielen, die die Eliten-Pläne „durchkreuzten“. Die Vehemenz, mit der sämtliche Kritiker der Pandemiepolitik als „rechts“ bzw. „rechtsextrem“ geframed werden, muss daher als verzweifelte ultima ratio eines weitgehend gescheiterten Pandemie-Coup d‘ état betrachtet werden und weist viel eher auf die Schwächen als Stärken der Urheberschaft des Corona-Narrativs hin.
(116) https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/un-experte-sieht-systemversagen-bei-polizeigewalt-in-deutschland-17971633. html://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/corona-un-experte-melzer-zu-polizeigewalt-demos-100.html, beide vom 21.4.2021. – Den Mainstream-Medien war das in der Regel nur eine Agenturmeldung wert. Investigativer Journalismus: Fehlanzeige.
(117) https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-aerosol-forscher-ansteckungen-brief-merkel-100.html, 12.4.2021.
(119) Sabine Beppler-Spahl, Grundrechte auf der Intensivstation, https://www.novo-argumente.com/artikel/grundrechte_auf_der_intensivstation, 16.4.2020
(120) https://www.sueddeutsche.de/medien/martenstein-tagesspiegel1.5532655,20.2.2022
(121) Dem Framing des „Verschwörungstheoretikers-oder Verschwörungsideologen“ bin ich argumentativ in „Die Pandemie ist – nicht – zu Ende. Von der Post-Corona-Gesellschaft in den totalitären Reset“, auf den S. 16 – 18 in Bezug auf die Kritik am Corona-Notstandsregime begegnet. https://www.gew-ansbach.de/data/2022/07/Schoepe_Totalitaerer_Reset.pdf .
(122) Hier sei nur der reißerische Anfang des oben bereits erwähnten, als Meinungsbeitrag gekennzeichneten, für einen Kommentar allerdings ungewöhnlich langen Textes von Stephan Anpalagan aus der Frankfurter Rundschau wiedergegeben. Über den Gast-Autor der FR erfahren wir nichts – meine Recherche hat ergeben, dass Anpalagan studierter Diplom-Theologe ist und als freier Journalist für verschiedene Zeitungen und öffentliche Rundfunk-und Fernsehanstalten arbeitet: „Ein Virus hat die Gesundheitssysteme der wohlhabendsten Länder dieser Erde zusammenbrechen lassen. Das soziale Leben ist durch das Coronavirus zum Stillstand gekommen. In den Nachrichten waren Bilder aus Italien zu sehen, wo das Militär die Coronatoten aus Bergamo abtransportierte, weil die örtlichen Friedhöfe überfüllt waren. In New York sterben die Menschen derart schnell, dass Strafgefangene Massengräber ausheben müssen. In deutschen Krematorien stapeln sich die Särge. Standesamtmitarbeiterinnen müssen an Weihnachten arbeiten, um im Akkord Sterbeurkunden ausstellen zu können. Es ist ernst. Verdammt ernst. Inmitten all dieser Geschehnisse marschieren Menschen durch die Innenstädte Deutschlands und protestieren gegen Maßnahmen gegen das Coronavirus, die diese Pandemie eindämmen könnten. Sie marschieren in grober Missachtung des Infektionsschutzgesetzes. Ohne Abstand. Ohne Maske.“ – Wer danach noch weiterlesen mag, wird feststellen, dass sich Anpalagan nicht nur eines alarmistischen, sondern – gegenüber den Maßnahmenkritikern – noch dazu recht martialischen Stils bedient und damit, bis an das fürchterliche Ende seines Artikels, an dem Kritiker der nicht pharmazeutischen Maßnahmen gegen das SARS-CoV-2-Virus zu Demokratie-und Verfassungsfeinden erklärt werden, ein manichäisches Weltbild transportiert, das für einen diplomierten Theologen des 21.Jahrhunderts (Anpalagan ist Jahrgang 1984) sich doch erstaunlich voraufklärerisch liest. Jedenfalls fühlte ich mich beim Lesen in die Zeit der Ketzerverfolgungen und Hexenverbrennungen zurückversetzt. Im Übrigen hätte man zum Stichtag 21.4.2021 (Veröffentlichungsdatum) das meiste von dem, was Anpalagan in seinem Text insinuiert, bereits besser wissen können.
Diesen Artikel habe ich hier nur herausgegriffen, da er leider exemplarisch für die während der Corona-Zeit vorherrschende Arbeits-und Darstellungsweise in den Leitmedien steht. Umfassend vgl. dazu auch Timo Rieg, Fallsammlung zu den Qualitätsdefiziten in der Corona-Berichterstattung:https://www.researchgate.net/publication/368289947_Qualitatsdefizite_im_Corona-Journalismus_Eine_kommentierte_Fallsammlung. Zum Framing der Corona-Maßnahmenkritiker vgl. auch ein frühes und rares Beispiel eines Plädoyers für eine kontroverse Debattenkultur, leider und bezeichnenderweise aus einer im Inland kaum beachteten medialen Nische stammend: https://www.dw.com/de/kommentar-die-bequeme-schublade-für-kritiker-der-corona-maßnahmen/a-53456662
(123) https://www.evangelisch.de/inhalte/170756/29-05-2020/verfassungsschutz-relativ-wenige-rechtsextreme-bei-corona-demos. Das soll nicht heißen, dass nicht Rechte und Rechtsextreme immer wieder versucht haben – und es weiter versuchen – die Proteste ideologisch zu vereinnahmen. Sie hatten damit aber bislang keinen Erfolg. Das gleiche gilt für die Proteste der neu erstarkenden Friedensbewegung, der „Rechtsoffenheit“ vorgeworfen wird. So rief der rechte Publizist Jürgen Elsässer dazu auf, die Friedens-Kundgebung von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht „mit Deutschland-Fahnen zu fluten“. Tatsächlich waren am 25.2.2023 vor dem Brandenburger Tor fast gar keine Deutschland-Fahnen zu sehen, der Autor hat dies selbst als Teilnehmer an der Veranstaltung gesehen. Jede oder jeder kann das aber auch leicht anhand nahezu jedes beliebigen Videos über das Ereignis selbst überprüfen.
Auch die AfD konnte das Protestpotential der Corona-Maßnahmenkritiker nicht an sich binden. Das zeigt z.B. ihr im Vergleich zu 2017 schwächeres Abschneiden bei der Bundestagswahl im September 2021 (2021: 10,3 %, 2017: 12,6 %).
(124) https://www.muenchen-steht-auf.de/briefwechsel-zwischen-2-protestkulturen/
(125) https://www.information-philosophie.de/?a=1&t=4777&n=2 – Kritisch zur Begründung eines Supergrundrechts und den Fallstricken einer solchen Begründung: https://democracy.blog.wzb.eu/2013/08/30/supersupergrundrecht/
(126) Ebd.
(127) Arendt, Die Freiheit, frei zu sein, München 2018, S. 16.
(128) https://beruehmte-zitate.de/autoren/hannah-arendt/, S. 1, zuletzt zugegriffen am 14.01.2023.
(129) Elisabeth Wehling, Politisches Framing: Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht, Köln 2016.
(130) https://www.spiegel.de/politik/deutschland/saskia-esken-darf-demonstranten-covidioten-nennen-a-c697ef3d-d04b-41f4-a8b4-d2f350fa7138, 2.9.2020
(131) René Pikarski, Rezension zu Hannah Arendt. Sokrates – Apologie der Pluralität, https://re-visionen.net/rene-pikarski-zu-sokrates-von-hannah-arendt/
(132) Giorgio Agamben, Freiheit und Unsicherheit, https://tkp.at/2023/01/11/freiheit-und-unsicherheit/, 11.1.2023.
(133) https://www.britannica.com/topic/war-on-terrorism. Unter hybrider Kriegsführung versteht man „eine Kombination regulärer und irregulärer, politischer, wirtschaftlicher, medialer, geheimdienstlicher, cybertechnischer und militärischer Kampfformen.“ Sie „verwischen die rechtlichen und moralischen Grenzen zwischen Krieg und Frieden. (...) Die einhegende (...) Wirkung dieser Grenzen, Normen und Regeln geht verloren.“ https://www.bpb.de/themen/kriege-konflikte/dossier-kriege-konflikte/504273/hybride-kriegsfuehrung/
(134) Bernd Schoepe, Die Aufarbeitung der Corona-Vergangenheit und ihre Tabus, https://www.gew-ansbach.de/2022/06/die-aufarbeitung-der-corona-vergangenheit-und-ihre-tabus/
(135) https://www.infosperber.ch/gesundheit/die-angaben-zu-ploetzlichen-todesfaellen-sind-widerspruechlich/, vom 31.12.2022.
(136) https://www.infosperber.ch/gesundheit/public-health/corona-impfnutzen-berset-und-bag-verbreiteten-unwahrheiten/, vom 1.11.2022.
(137) https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/119933/EU-Kommission-verweigert-Parlament-weiter-Einsicht-in-Impfstoffvertraege, vom 7.1.2021. https://www.mdr.de/nachrichten/welt/wirtschaft/corona-eu-staatsanwaltschaft-ermittlungen-impfstoff-vertraege-100.html, vom 15.10.2022.
(138) https://www.tagesschau.de/inland/corona-impfstoff-bundesregierung-101.html, 23.12.2022.
(139) Arendt, Macht und Gewalt, a.a.O., S.81 f.
(140) Arendt sieht, gleichsam als Schnittpunkt ihrer Existenzialdiagnose des Zeitlichen wie des menschlichen Urteilsvermögens, den “Wohnort“ des Denkens „zwischen Vergangenheit und Zukunft“ als gegeben an. Siehe dazu das Vorwort „Die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft“ in Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft, a.a.O., S. 7 – 19.
(141) „Und Zarathustra sprach also zum Volke: Ich lehre Euch den Übermenschen! Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr gethan, ihn zu überwinden?“ https://www.deutschestextarchiv/de/nietzsche_zarathustra01_1883. Entgegen Zarathustras Rat an seine Brüder: „bleibt der Erde treu“, korreliert die Überwindungsideologie- und Überwindungspraxis transhumanistischer Provenienz auffallend mit der Merkmalsbestimmung, welche Hannah Arendt für den Totalitarismus unternimmt:
„Das eigentliche Ziel totalitärer Ideologie ist nicht die Umformung der äußeren Bedingungen der menschlichen Existenz und nicht die revolutionäre Neuordnung der gesellschaftlichen Ordnung, sondern die Transformation der menschlichen Natur selbst, die, so wie sie ist, sich dauernd dem totalitären Prozess entgegenstellt. (...) was in der totalen Herrschaft auf dem Spiel steht, ist wirklich das Wesen des Menschen.“ Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, a.a.O., zitiert nach dem empfehlenswerten, die Zusammenhänge von Arendts Totalitarismusbegriff mit dem transhumanistischen Denken gut ausleuchtenden Essay „Die Abschaffung der Seele“ von Julia Weiss, https://multipolar-magazin.de/artikel/die-abschaffung-der-seele, 10.5.2022.
(142) Genauso luzide geht es weiter: „Wenn Macht im Unterschied zum bloßen Können meint: wir-wollen-und-wir-können, dann liegt in der heutigen sich ständig noch steigernden Macht der Menschen auf der Erde ein seltsames Element der Ohnmacht; denn der Fortschritt der Wissenschaft ist von dem, was wir tun wollen, fast unabhängig geworden; seine Rasanz ist, wie die Wissenschaftler uns immer wieder erklären, nicht mehr zu stoppen, so wenig wie die scheinbar unaufhaltsame Entwicklung der Technik. Der Fortschritt folgt seinen eigenen unerbittlichen Gesetzen und zwingt uns, ohne Rücksicht auf die Folgen zu tun, was immer wir tun können. Sollte das Ich-will und Ich-kann sich voneinander getrennt haben? (...) Wiederum wissen wir nicht, wohin diese Entwicklung uns führen wird. Aber wir wissen oder sollten wissen, daß jeder Machtverlust der Gewalt Tür und Tor öffnet, und sei es nur, weil Machthaber, die fühlen, daß die Macht ihren Händen entgleitet, der Versuchung sie durch Gewalt zu ersetzen, nur sehr selten in der Geschichte haben widerstehen können.“ Arendt, Macht und Gewalt, a.a.O.., S. 86.
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Bildquelle: zabanski / Shutterstock.com
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