Eine perfide Lobbygruppe für den Krieg – Der Alldeutsche Verband Herzlich willkommen zu einer weiteren Folge von HIStory!
Wir sehen es jetzt gerade wieder mit großem Erstaunen, wie reibungslos nicht nur die Zivilwirtschaft umgeschaltet wird auf die Erfordernisse des industriellen Totalen Krieges. Wir erleben auch, wie in den Verbänden und in den Massenmedien jegliche Zurückhaltung abgeworfen wird und in einer Hemmungslosigkeit und Schrillheit zum Waffengang gegen Russland getrommelt wird.
Natürlich will die Mehrheit in der Bevölkerung keinen Krieg. Doch clevere Interessengruppen schaffen es immer wieder, das Bild einer kollektiven Kriegsbegeisterung zu erzeugen. Es sind international eng vernetzte Gruppen aus Wirtschaft, Finanz, Politik, Wissenschaft und Kirchen, die in internationaler Solidarität eng verbunden sind in dem Ziel, die Völker gegeneinander aufzuhetzen. Diese Kreise finanzieren in den einzelnen Ländern scheinbar nationalistisch gestimmte Vereine und Verbände, die die öffentliche Meinung im Sinne einer aggressiven Kriegspolitik beeinflussen. Wenn wir rückwärts in die Vergangenheit schauen, erkennen wir, wie diese Einflussnahme im Einzelnen funktioniert. Deshalb schauen wir uns heute einmal den Alldeutschen Verband an, der vor dem Ersten Weltkrieg Druck machte für eine massive aggressive Aufrüstung im kaiserlichen Deutschland.
Wir berichteten in einer anderen Folge von History von dem Kampf zwischen dem Reichskanzler Otto von Bismarck und seinem jungen Kaiser Wilhelm dem II <1>. Bismarck wollte offenkundig schon in den 1890er Jahren Deutschland bereit machen für einen großen Krieg. Damit stand er aber ziemlich allein da. Deshalb war die deutsche Öffentlichkeit auch sichtlich erleichtert, als der alte Kriegstreiber Bismarck von Kaiser Wilhelm entlassen wurde.
Doch was Bismarck nicht gelang, das gelang dann jenen Kräften, die in seinem Namen den Kampf für Militarismus und Autokratie weiterführten: der Kaiser wurde isoliert und sodann trieben die Bismarck-Anhänger Wilhelm mit inszenierten Kampagnen vor sich her, bis das kaiserliche Prestige restlos aufgerieben war. Dieser Zerfallsprozess war ab der Jahrhundertwende bereits in vollem Gange. Es gelang einer kleinen, aber zum äußersten entschlossenen Lobbygruppe mit beträchtlichen Geldmitteln, ein derartiges Chaos anzustiften, dass der Kaiser aus einem Fettnäpfchen in das nächste Fettnäpfchen geschubst wurde. Den Schaden, der durch diese Lobbygruppe der deutschen Nation zugefügt wurde, schob man nach dem ganz großen Desaster vom 11. November 1918 nicht nur Sozialdemokraten, Liberalen, Juden und Freimaurern in die Schuhe, sondern ebenso auch dem Kaiser selbst, der sich doch so vehement und gleichzeitig erfolglos gegen dieses Hazardspiel gewehrt hatte.
Die Lobbygruppe trägt den Namen: Alldeutscher Verband.
Und dessen Arbeitsweise betrachten wir jetzt. Der Alldeutsche Verband ging hervor aus einer Reihe von Kolonialvereinen. Die waren der Meinung, Deutschland käme langfristig nur voran, wenn es auch wie England oder Frankreich Kolonien erwarb. Deshalb war der deutsche Kolonialist Carl Peters der erste Prominente in den Reihen der Alldeutschen. Und so war auch das erste große Erregungsthema der Alldeutschen der Deal zwischen Deutschland und England: tausche Helgoland gegen Sansibar. Die Deutschen gaben an England die ostafrikanische Insel Sansibar. Im Gegenzug traten die Engländer Helgoland an Deutschland ab. Das war in den Augen der Alldeutschen ein ungleicher Tausch zuungunsten Deutschlands.
Den Alldeutschen Verband, der sich 1891 gründete, kann man im modernen Sinne durchaus als Lobbygruppe, oder Pressure Group, auffassen. In diesem Sinne hatte der ADV zwei Aufgaben: die öffentliche Meinung in die eigene Richtung umzudrehen. Zum anderen die Eliten im eigenen Sinne zu beeinflussen. Zu diesem Zweck knüpfte der ADV ein Netzwerk von verbündeten Vereinen, kaufte Presseorgane auf, zog Wissenschaftler und Geistliche auf die eigene Seite. Für die Politiker entwickelten und formulierten sie Ziele, Strategien und Taktiken. Die Aktivisten des ADV waren überaus umtriebig und verstanden es, auf ihre Person eine Unmenge von Ämtern zu häufen. Dem ADV gehörten als korporative Mitglieder ganze Vereine an. So war es möglich, dass ein relativ kleines Häuflein von Leuten einen entscheidenden Einfluss auf die Gesellschaft ausüben konnte.
Zunächst aber versagten die Geldeintreiber des ADV. Der Alldeutsche Verband schrumpfte bis 1893 von 21.000 auf nur noch 5.000 Mitglieder. Ein Chronist des ADV gab später unumwunden zu, dass es sich bei dieser „Bewegung“ um ein rein künstliches Gebilde handelte, das vollständig am Tropf potenter Geldkanülen hing: „Zum Kriegführen ... gehört jedoch Geld, Geld und abermals Geld. Infolge des dauernden Geldmangels war natürlich an eine ersprießliche Tätigkeit wenig zu denken.“ <2> Ein gewisser Alfred Hugenberg sollte sich der Geldbeschaffung für den ADV annehmen. Dass der spätere Hitler-Unterstützer Hugenberg der Einfüllstutzen ungenannt bleiben wollender Wohltäter war, hielt man vor den ADV-Mitgliedern verborgen. Die glaubten, der Verein finanziere sich allein aus Mitgliedsbeiträgen und Solidaritätsmarken.
Die Öffentlichkeitsarbeit des ADV wurde nun auf Stromlinie gebracht. Die „Alldeutschen Blätter“ gaben dem Verein ein deutlicheres Profil. Und schon ging es wieder aufwärts - auf etwa 21.000 Mitglieder bis zum Ersten Weltkrieg. Man arbeitete beharrlich und langfristig. Die Absichten des Vereins haben die Protagonisten allerdings nie verheimlicht. Bereits 1891 machte der Alldeutsche Verband dort weiter, wo Bismarck seine Kriegsanstrengungen wegen des entschiedenen Widerstandes seines jungen Kaisers Wilhelm beenden musste. Im Juni 1891 erschien der programmatische Artikel „Auf der Schwelle des Weltkrieges“. Der Autor blieb lieber anonym. Zum Forderungskanon des Alldeutschen Verbandes gehörten: mehr Flotte. Und obendrein die Förderung des Deutschtums im Ausland. Auch der Kampf gegen Minderheiten in Deutschland stand auf der Agenda-Liste.
Otto von Bismarck ist in jenen Tagen noch voll dabei und absolviert anstrengende Vortragsreisen durch ganz Deutschland. Er agitiert als inoffizieller Oppositionsführer gegen Kaiser und Regierung. Seine Fans pilgern zu seinem Landsitz. Dort ätzt Bismarck vor einer Abordnung von „nationalen“ Deutschen aus Posen und Westpreußen am 23. September 1894 gegen die Polen: „Wir müssen auf Tod und Leben dagegen kämpfen.“ <3> Für diese Klientel gründen die Alldeutschen den Deutschen Ostmarkenverein. Zu seinem achtzigsten Geburtstag im Jahre 1895 verleihen die Alldeutschen Otto von Bismarck die Ehrenmitgliedschaft. Nach seinem Ableben schießen die Bismarck-Türme überall aus dem Boden als dauerhafte, weithin sichtbare Mahnung – und Drohung - an die „schlaffen, breiweichen“ Politiker, die jetzt im Reich das Sagen haben.
Bismarck ist sich auch in seinem letzten Zeitungsartikel in den Hamburger Nachrichten vom 11. März 1897 selber treu. Er bekräftigt, dass die aggressiven Schwerindustriellen mit ihrem Sprachrohr Alldeutscher Verband in seinem Sinne handeln. Fritz Fischer fasst Bismarcks Vermächtnis zusammen, das erst 1933 in die Tat umgesetzt wurde:
„Bismarck empfahl ein Zusammengehen der ‚produktiven Stände’ der Bienen ... ‚mögen sie Getreide, Webstoffe oder Metalle erzeugen’, gegen die Masse des Volkes, die ‚Drohnen’, die allerdings ‚im Parlamente das große Wort führen’. Ziel dieser Interessenkoalition müsse die Beseitigung der Gefahr einer ‚latenten Parlamentsherrschaft’ sein, was am besten durch die ‚Bekämpfung / und Unschädlichmachung der Sozialdemokratie’ geschehe.“ <4>
Um dem synthetischen, geldgespeisten Netzwerk zur Förderung der Rüstungsindustrie den Anschein einer „Bewegung“ zu verleihen, werden ergänzend zum Alldeutschen Verband noch der Deutsche Flottenverein und der Wehrverein gegründet. Mit der Gesellschaft für Rassenhygiene und dem Bund deutscher Landwirte ist man personell verflochten. Die aggressiven Verleger Julius Lehmann und Theodor Fritsch stellen ihre Kapazitäten voll in den Dienst des Alldeutschen Verbandes.
Ab der Jahrhundertwende tritt Heinrich Claß immer mehr in den Vordergrund, der im Jahre 1908 auch offiziell Vorsitzender des Alldeutschen Verbandes wird. Mit Claß kommt eine weitere Radikalisierung in das fein gesponnene Netzwerk der elegant gekleideten Kriegstreiber. Die Attacken gegen Regierung und Kaiser werden noch schriller, und der Rassegedanke, gekoppelt mit einer gehörigen Portion Antisemitismus, wird immer lauter vorgetragen. „Nach Bismarcks Abgang ist doch alles nur ständig bergab gegangen!“ so ruft man. Und der Forderungskatalog wird modifiziert: immer deutlicher verlangt man nach einem autoritären Regime. In der Außenpolitik legt man sich auf jene Linie fest, die Adolf Hitler in „Mein Kampf“ so lautstark geißeln wird: gegen Großbritannien, für die Buren in Südafrika, für die Annexion Marokkos, bevor sich die Franzosen den nordafrikanischen Staat aneignen. Dazu kommt eine Festlegung auf das Bündnis mit Österreich-Ungarn.
Und so wird der Kaiser immer hin und her gescheucht. Auf massiven Druck der Alldeutschen tauchen Seine Majestät plötzlich in Marokko auf, obwohl Seine Majestät das gar nicht wollten. Dass er dort war, wird ihm dann hinterher wiederum schwer angekreidet. In einem Interview mit einer englischen Zeitung äußerte der Kaiser Sympathien gegenüber England. Das ist ein Affront gegen die Buren, protestieren die Alldeutschen. Als der Kaiser bei seinem Freund Eulenburg einen französischen Diplomaten „sympathisch“ findet, wird Eulenburg mit einer gigantischen Schwulenkampagne überzogen. Damit sollte natürlich der Kaiser demontiert werden. Als der Kaiser sich informell mit seinem Vetter, dem Zaren Nikolaus II. trifft, um die Möglichkeiten einer diplomatischen Entspannung und Annäherung auszuloten, hebt auch gleich wieder ein großes Geschrei an.
Heinrich Claß veröffentlicht unter dem Pseudonym „Frymann“ 1912 ein Traktat „Wenn ich der Kaiser wär’“, in dem er die ganze Forderungspalette des alldeutschen Netzwerkes als alternatives Regierungsprogramm gegen den seiner Ansicht nach zu soften Wilhelm II. vorstellt. Ein bisschen hat der Alldeutsche Verband aber bereits den Fuß in der Regierung. Der Außenminister von Kiderlen-Wächter kooperiert mit dem Alldeutschen Verband im Bereich Öffentlichkeitsarbeit. Auch der Militärtheoretiker General von Bernhardi veröffentlicht Bücher, die eine Affinität zu den Auffassungen der Alldeutschen aufweisen. Allerdings sind nicht alle Generäle konform mit Claß und Bernhardi.<5>
Als endlich der Kriegsmechanismus greift, im Sommer 1914, da inszeniert das alldeutsche Netzwerk bereits bei den ersten Ultimaten im Juli „spontane“ Demonstrationen und bedient sich dabei vornehmlich der akademischen Jugend aus den begüterten Kreisen der großen Städte. Tageszeitungen, die von den Alldeutschen kontrolliert werden, tragen die frohe Kunde dieser „Volksbegeisterung“ in die Provinz in der Hoffnung auf einen Nachahmer. Kinokurzfilme dokumentieren die Demonstrationen, so dass jeder Kinogänger im Reich im Vorprogramm zum Hauptfilm die „patriotischen“ Umzüge bestaunen kann. Und wieder zeigt sich deutlich die Wirkung der Parallelkulturen. Die SPD organisiert sofort Antikriegsdemonstrationen, deren Teilnehmerzahl die der „Patrioten“ um ein vielfaches übertrifft. Erst der Mobilisierungsbefehl appelliert erfolgreich an das Pflichtgefühl der Arbeiter und Bauern, und sie scharen sich um den Kaiser, der ja nun plötzlich keine Parteien mehr kennt. <6>
Als sich Millionen Männer im besten Erwerbsalter in das große Gemetzel stürzen – oder besser: gestürzt werden – weiß eigentlich noch keiner in Reichsregierung und Generalität, welches Kriegsziel man denn nun eigentlich ansteuert. Zunächst ist ja nur der Bündnisfall eingetreten. Man hilft Österreich-Ungarn. Da trifft es sich gut, dass der Vorsitzende des Alldeutschen Verbandes, Claß, an die Ziele des großen alten Bismarck anzuknüpfen weiß. In einer Denkschrift <7> fordert der ADV-Dauervorsitzende noch mehr Kolonien, die Einrichtung einer gesamteuropäischen Wirtschaftszone unter deutscher Kontrolle, die vollständige Unterwerfung Frankreichs und Belgiens, sowie nach innen „ethnische Säuberungen“, d.h. die zwangsweise Umsiedlung der Minderheiten aus deutschem Staatsgebiet.
Die Reichsregierung reagiert entschlossen und kassiert die Hetzpamphlete ein. Es folgen Hausdurchsuchungen bei Claß sowie eine Postsperre für diesen Herrn bis Mitte 1915. Doch die Alldeutschen setzen ihre Sabotage gegen die Regierung mit voller Kraft fort. Reichskanzler Bethmann Hollweg ist den Alldeutschen zu schlaff, zu sanft. In der Tat ist Hollweg gar nicht erpicht auf eine allzu lange Fortführung des Krieges und sondiert immer wieder Wege zum Frieden. Zum von den Alldeutschen ebenfalls leidenschaftlich gehassten liberalen Publizisten Theodor Wolff sagte Hollweg: „Wir haben in unserer inneren und unser äußeren Politik in Lügen gelebt. Ein schreierischer, überforscher, renommistischer, schwatzhafter Geist war durch die Alldeutschen in unser Volk getragen worden.“ <8>
Die Alldeutschen ruhen nicht, bis sie Bethmann Hollweg zur Strecke gebracht haben. Der fanatische Verleger Julius Lehmann schäumt, als der Kanzler den U-Bootkrieg einschränkt, in einem Brief vom 16. Juni 1915: „Jetzt ist auf Drängen von Bethmann der Befehl ergangen, dass die großen amerikanischen Pulverdampfer durch die U-Boote geschont werden müssen! Pfui Teufel! Eine bis ins Mark entmannte Gesellschaft.“ <9> Und Lehmann veröffentlicht eine sinnentstellende Sammlung von Zitaten von Bethmann Hollweg und verschickt diese per Post an alle wichtigen Multiplikatoren im Reich. Schließlich haben die Kriegshetzer Bethmann Hollweg aus dem Weg geräumt.
In der Brutalisierung, die sich in jedem in die Länge gezogenen Krieg zwingend einstellt, gewinnen die extremistischen Auffassungen der Alldeutschen zunehmend an Boden. Und die Alldeutschen setzen sich mit der selbstmörderischen Forderung durch, einen bedingungslosen U-Bootkrieg auch gegen Schiffe der USA zu führen. Beim Bankhaus Morgan und all jenen Kriegsbefürwortern in den USA, dürften in diesem Augenblick die Sektkorken geknallt haben. Eine passgenauere Steilvorlage für den Kriegseintritt der USA konnte es überhaupt nicht geben. Damit war das Schicksal Deutschlands endgültig besiegelt, und wie wir wissen, ein Verhandlungsfrieden ausgeschlossen. Der Krieg dauerte jetzt noch einmal weitere 18 Monate und brachte Hunderttausenden von Soldaten den Tod oder die Verstümmelung. Und, wie auch im Zweiten Weltkrieg, steigt die Kriegsproduktion im Nachbrenner noch einmal erheblich an. Und damit steigen die Kriegsgewinne bei Freund und Feind gleichermaßen.
Der Krieg war damit entschieden. Jetzt interessierte die Alldeutschen nur noch die Frage, wie man die eigene Schuld am Desaster anderen Leuten in die Schuhe schieben konnte. 1917 gründeten die Alldeutschen bereits eine neue Partei für die Nachkriegsordnung, nämlich die Vaterlandspartei. Vorsitzender: Wolfgang Kapp. Dazu eine neue Zeitschrift für alldeutsche Salonästheten: „Deutschlands Erneuerung“. Herausgeber: Claß, Georg von Below, Houston Chamberlain und Wolfgang Kapp. Und 1918 werden Pläne ausgebrütet, den Alldeutschen Verband mit anderen „patriotischen“ Pressure Groups zu einem „Bismarck-Verband“ zusammenzuschmieden. Ob Sieg oder Niederlage: man wollte schon jetzt „gut aufgestellt“ sein.
Bereits bevor die deutschen Generäle den völlig überraschten Politikern den Totalbankrott eingestehen mussten, beschäftigte sich der Alldeutsche Julius Lehmann mit der Frage, wer schuld ist, und was nach der Niederlage am vordringlichsten anzupacken sei:
„Unser Kaiser hat versagt. Jetzt heißt es das Volk heben. Aber auch das Volk hat gegen sein Blut gesündigt ... Wir müssen unser Volk rassenmäßig denken lehren, dass es alles Fremdstämmige und Artfremde von sich weist. Ist das nicht eine große, schöne Aufgabe?“ <10>
Man sollte ja eigentlich meinen, dass die Stillung des Hungers und die Rückführung von 10 Millionen Männern in das Zivilleben die allerdringlichste Aufgabe sei. Durch die britische Seeblockade waren bereits 750.000 unschuldige Deutsche, Polen, Dänen auf deutschem Territorium verhungert. Die durch Nahrungsmangel Erblindeten oder auf andere Weise Erkrankten und dauerhaft Behinderten sind hier noch gar nicht mitgerechnet. Durch Mangelernährung fand die Spanische Grippe im Gefolge des Krieges besonders viele wehrlose Opfer. Gewaltige Probleme türmen sich auf. Aber die Alldeutschen scheinen von solchen banalen Problemen nicht betroffen zu sein.
Die Bevölkerung ist auch keineswegs, wie die Legende es behauptet, auf die mühsam konstruierten Verschwörungstheorien der Alldeutschen und der blamierten Generäle hereingefallen. Die normale Bevölkerung wusste sehr genau, wer die Schuld an der Niederlage trägt: die Alldeutschen mit ihrer Sabotage und ihrer Scharfmacherei, mit der sie dem Kriegsgegner präzise zugearbeitet haben. Eine so genannte „Bamberger Erklärung“ des ADV vom 16. Februar 1919 ist im Prinzip nichts anderes als eine Abwehroffensive gegen das ruinierte Ansehen nach der Devise: Angriff ist die beste Verteidigung. Ein guter Kenner des Alldeutschen Verbandes fasst das folgendermaßen zusammen:
„Die Alldeutschen hatten aufgrund ihrer radikalen Kriegzielforderungen und ihrer Angriffe auf die Regierung im Kaiserreich auch in Teilen des Bürgertums ein negatives Image erhalten.“ <11>
Ein Protokoll von der Sitzung eines „Judenausschusses“ warnt im Februar 1919 vor zu forschem Auftreten im antisemitischen Bereich, „... da dadurch die Sache wegen der Unbeliebtheit des Alldeutschen Verbandes gefährdet werden könnte ...“ <12>
Dennoch setzt man auf die antisemitische Karte. Im Oktober 1918 bekennt Claß in einem Brief, dass auf das Judentum „... all der nur zu berechtigte Unwille unseres guten und irregeleiteten Volkes abgelenkt werden muss.“ <13> Und schon vor der Kapitulation hält ein Protokoll einer Sitzung des Geschäftsführenden Ausschusses des Alldeutschen Verbandes vom 19.-20. Oktober 1918 wohlwollend die Anregung des Vorstandsmitglieds Gebsattel fest, „... die Juden als Blitzableiter für alles Unrecht zu benutzen.“ <14>
Damit hatte der Alldeutsche Verband den Grundstein gelegt für einen ganz neuartigen Antisemitismus, der nicht auf religiösen Vorurteilen gründete, sondern auf der Annahme einer jüdischen Weltverschwörung.
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges war die Mission des Alldeutschen Verbandes erfüllt. Er spielte als Verband keine große Rolle mehr. Denn seine Impulse wurden jetzt in einem erheblich breiteren Spektrum von einer Unzahl neuer Organisationen weitergeführt. Davon zeugt schon die Tatsache, dass wir einige Namen aus dem Alldeutschen Verband an anderer Stelle wiederfinden. Wolfgang Kapp gab dem berüchtigten Putsch von 1920 seinen Namen. Alfred Hugenberg stieg auf zum größten Medienmogul der Weimarer Republik. Zugleich war er der starke Mann bei der antidemokratischen Partei Deutschnationale Volkspartei (DNVP). Viele Alldeutsche verwirklichten sich noch mehr radikalisiert in Hitlers NSDAP. Der Alldeutsche Verband selber war in diesem erheblich erweiterten Umfeld überflüssig geworden. Die Nazis lösten den Alldeutschen Verband dann im Jahr des Kriegsbeginns 1939 kurzerhand auf. Zutreffende Begründung: der Alldeutsche Verband habe seine Ziele erreicht. In der Tat: die Kriegsindustrie blühte und gedieh schon seit den frühen 1930er Jahren. Der Antisemitismus diente als Blitzableiter. Die Alldeutschen hatten den Nährboden angelegt für die schrecklichste Konsequenz des Antisemitismus, nämlich den industriellen Genozid der Holocaust-Maschine von Auschwitz, Sobibor und Belzek.
Wir sollten den geschärften Blick auf die infamen Nachfolger des Alldeutschen Verbandes lenken, die gerade jetzt wieder unsere deutsche Gesellschaft in Geiselhaft genommen haben.
Wir lernen aus der Vergangenheit, wie wir die Zukunft besser machen.
Quellen und Anmerkungen
<2> Zitiert nach Rainer Hering: Die konstruierte Nation – Der Alldeutsche Verband 1890 – 1939. Hamburg 2003. S.116
<3> Dieter Hertz-Eichenrode, Deutsche Geschichte 1871 - 1890. Das Kaiserreich in der Ära Bismarck. Stuttgart/Berlin/Köln 1992. S.48
<4> Fritz Fischer: Krieg der Illusionen. Die deutsche Politik von 1911. Kronberg/Ts. 1978. S.43/44
<5> z.B. General Friedrich Graf von der Schulenburg.
<6> Der alldeutsche Mythos von der ungeteilten Kriegsbegeisterung ist im Prinzip auch heute noch amtliche Geschichtsauffassung in Deutschland. Erst zur Jahrtausendwende hat eine Publikation der Hamburger Edition diesen Mythos relativiert: Jeffrey Verhey: Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft. Hamburg 2000.
<7> Heinrich Claß: Denkschrift betreffend die national-, wirtschafts- und sozialpolitischen Ziele des deutschen Volkes im gegenwärtigen Kriege. o.O. September 1914.
<8> Hering, 135
<9> Verleger J.F. Lehmann – Ein Leben im Kampf um Deutschland – Lebenslauf und Briefe. Herausgegeben von Melanie Lehmann. München 1935. S.132
<10> Lehmann, 150
<11> Hering, 145
<12> zitiert nach Hering, 145
<13> Hering, 206
<14> Hering, 206
Bildquellen: https://commons.wikimedia.org
+++
Ihnen gefällt unser Programm? Machen wir uns gemeinsam im Rahmen einer "digitalen finanziellen Selbstverteidigung" unabhängig vom Bankensystem und unterstützen Sie uns bitte mit Bitcoin: https://apolut.net/unterstuetzen#bitcoinzahlung
Informationen zu weiteren Unterstützungsmöglichkeiten finden Sie hier: https://apolut.net/unterstuetzen/
+++
Bitte empfehlen Sie uns weiter und teilen Sie gerne unsere Inhalte in den Sozialen Medien. Sie haben hiermit unser Einverständnis, unsere Beiträge in Ihren eigenen Kanälen auf Social-Media- und Video-Plattformen zu teilen bzw. hochzuladen und zu veröffentlichen.
+++
Abonnieren Sie jetzt den apolut-Newsletter: https://apolut.net/newsletter/
+++
Unterstützung für apolut kann auch als Kleidung getragen werden! Hier der Link zu unserem Fan-Shop: https://harlekinshop.com/pages/apolut