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„Wie wir lernen, die Atombombe erneut zu lieben“
Mein Name ist Hermann Ploppa und ich beschäftige mich heute mit der Geschichte der Atombombe seit ihren Anfängen im Hochplateau von Neu-Mexiko. Das Thema hat leider eine neue Dringlichkeit erhalten. Denn Politiker und Hofpropagandisten der westlichen Wertegemeinschaft finden es heutzutage geradezu cool, die Vorzüge der Atombombe und ihren Einsatz im Krieg zu preisen. Vielleicht erinnern Sie sich noch, dass das Vereinigte Königreich von Großbritannien für 55 Tage von einer Person namens Liz Truss als Premierministerin regiert wurde. Diese Liz Truss wurde in einer Fernsehsendung gefragt, ob sie die Atombombe einsetzen würde, auch wenn dadurch alles organische Leben auf dieser wunderbaren Erde ausgelöscht würde. Die trockene Antwort von Liz Truss: „Ich bin bereit, das zu tun!“ <1> Nun hätte man ja eigentlich erwarten können, dass die Zuschauer im Studio empört aufgemuckt hätten. Aber nichts dergleichen. Frau Truss bekam enthusiastischen Beifall. Doch auch russische Regierungsmitglieder haben bereits den Einsatz der Atombombe angedroht für den Fall, dass der Westen Russland dermaßen an die Wand drückt, dass diese schreckliche Waffe das einzige sein sollte, was den Russen zur Selbstverteidigung noch bleibt.
Auf erheblich niedrigerer politischer Ebene sagte die Mitarbeiterin eines an der Kieler Universität angesiedelten proamerikanischen Thinktanks, Leute, die Angst vor der Atombombe hätten, seien neurotisch. Sie hätten Angst, „die Atombombe könnte ihnen auf den Kopf fallen“. Gelächter. Auch hier kein Aufschrei der Empörung im Auditorium.
Was ist passiert in den Köpfen der Menschen? Für viele Jahrzehnte war der Einsatz der Atombombe ein traumatisch besetztes Thema. So ein flammendes Inferno wie in Hiroshima und in Nagasaki wollte weiß Gott niemand jemals wieder erleben. Nur ein paar Zahlen: als am 6. August 1945 die Atombombe „Little Boy“ um 11:02 Uhr 550 Meter über dem Erdboden explodierte, sind sofort 45.000 Menschen einfach verdampft. Manchmal ist ihr Schatten noch in der gegenüber liegenden Mauer eingebrannt gewesen. Die Überlebenden haben die sofort Verdampften möglicherweise beneidet. Denn etwa 91.000 Bürger von Hiroshima verendeten später erbärmlich an Strahlenerkrankungen. Und wir haben guten Grund, diese offiziellen Opferzahlen von 136.000 Toten für Hiroshima und 64.000 Toten in Nagasaki am 9. August 1945 als unterste mögliche Grenze für die Opferzahlen anzusetzen. Der politisch verantwortliche US-Präsident Harry Truman log seine Mitbürger am Tag der Apokalypse von Hiroshima zynisch an, als er frech behauptete, die Atombombe habe lediglich eine Militärbasis ausgelöscht <2>. Doch es kam schnell heraus, dass statt militärischem Personal die gesamte Bevölkerung der Innenstadt von Hiroshima ausgelöscht war: Alte, Kranke, Frauen, Kinder, Arbeiter, Angestellte oder buddhistische Mönche. Also eindeutig ein Völkermord. An eine Bestrafung der Verantwortlichen in den Vereinigten Staaten von Amerika war indes nicht zu denken. Denn der Zweite Weltkrieg ließ die USA zur mit weitem Abstand größten Macht auf dem Globus aufsteigen. Niemand konnte auch nur ansatzweise daran denken, einen US-Bürger international zur Rechenschaft zu ziehen für seine Verbrechen. Der Zeitpunkt war ungünstig: erste Bestandsaufnahmen in den unterworfenen Staaten Deutschland und Japan offenbarten ein Ausmaß an scheußlichsten Verbrechen in jenen beiden Ländern, dass die USA selber für viele Jahrzehnte aus dem Fokus genommen war.
Wie war es überhaupt zum Bau und dem perversen Einsatz der Atombombe gekommen? Das wollen wir jetzt mal genauer betrachten. Schon die antiken Griechen fragten sich: man kann ja einen Kohlkopf in immer kleinere Teilchen zerschnippeln ohne dass man zu einem Ende kommt. Gibt ein kleinstes Teil, das man nicht mehr weiter zerschnippeln kann? Demokrit lebte schon vor Sokrates, im vierten Jahrhundert vor Christus. Demokrit sagte: „Nur scheinbar hat ein Ding eine Farbe, nur scheinbar ist es süß oder bitter, in Wirklichkeit gibt es nur Atome im leeren Raum.“ Also, es gibt kleinste Teilchen, die nicht weiter geteilt werden können. Sie sind unteilbar, oder griechisch: a-tomos. Daran hielten die Gelehrten bis in das Zwanzigste Jahrhundert fest.
Doch dann entdeckten Physiker, dass auch das Atom aus um den Kern kreisenden Einzelteilchen besteht. Der Atomkern wird gebildet aus Protonen und Neutronen, die von einer Hülle aus Elektronen umgeben ist. Das heißt: das Atom besteht selber aus Einzelteilchen. Und da stellt sich natürlich die Frage, ob man ein solches Gefüge nicht auch zerlegen und sprengen kann.
Logischerweise beginnt nun in allen entwickelten Ländern ein Wettrennen darum, ob man nicht aus einer Zerlegung des Atoms in irgendeiner Weise Profit schlagen kann. Und so vermutet im Jahre 1933 der italienische Physiker Enrico Fermi, dass bei einer Atomkern-Spaltung enorme Energie frei wird. Die kann man doch nutzen. Im Dezember 1938 setzen der Physiker Otto Hahn und der Chemiker Fritz Straßmann am Berliner Kaiser Wilhelm-Institut in einem Atomexperiment dann tatsächlich enorme Energien frei. Weil Otto Hahn sich nicht ganz sicher ist, ob er hier im Küchenlabor die erste Kernspaltung der Geschichte vollzogen hat, schreibt er seiner Kollegin Lise Meitner einen Brief mit seiner Versuchsanordnung und seine Befunde mit der Bitte, doch mal nachzuschauen, ob es sich hier um eine Kernspaltung handelt. Lise Meitner ist wegen ihrer jüdischen Wurzeln nach Stockholm ausgewandert. Viele Jahre hatte sie zuvor mit Otto Hahn in Berlin Nuklearforschung betrieben. Als sie jetzt in Stockholm Hahns Experiment nachspielt, ist zufällig auch ihr Neffe Otto Frisch anwesend. Der ist ebenfalls Nuklearphysiker. Meitner und Frisch erkennen: Otto Hahn ist tatsächlich die Kernspaltung gelungen! Beide veröffentlichen Otto Hahns Befunde in der englischen Fachzeitschrift Nature.
Und nun können wir sehen, wie schnell schon in der Mitte des letzten Jahrhunderts wissenschaftliche Neuerungen weltweit übermittelt werden. Denn Lise Meitners Neffe Otto Frisch hatte seit 1934 in Kopenhagen bei dem berühmten Nuklearphysiker Niels Bohr geforscht. Als nun der Zweite Weltkrieg beginnt, zieht es Otto Frisch vor, seine Zelte in Großbritannien aufzustellen. Er bekommt einen Lehrauftrag an der Universität Birmingham. Dort verfasst er mit seinem ebenfalls aus Deutschland emigrierten Fachkollegen Rudolf Peierls ein Memorandum und schickt es an alle wichtigen Instanzen in England. Darin warnen Peierls und Frisch eindringlich, dass das deutsche Nazi-Reich schon recht bald in der Lage sein könnte, selber eine „Superbombe“ zu bauen. Diese ganz neuartige Bombe könnte durch die Verwendung der Elemente Uran oder Plutonium mithilfe der Kernspaltung ungeahnte Hitze und ungeahnte destruktive Energien freisetzen. Es sei höchste Zeit, der Erpressbarkeit durch die Nazis durch die Herstellung einer eigenen Atombombe zuvorzukommen. Die eindringliche Mahnung wird erhört. Ein Expertengremium ruft die MAUD ins Leben. Das steht für: Military Application of Uranium Detonation, also: Militärische Anwendung von Uran für Explosionen. Praktisch umsetzen soll das eine Arbeitsgruppe mit dem unverfänglichen Tarnnamen „Tube Alloys“, also zu deutsch: „Röhrenlegierungen“. Allerdings befindet sich Großbritannien bereits in massiven Gefechten mit den deutschen Streitkräften. Zudem sind Uranium und Plutonium für die Engländer schwer zu beschaffen. Auch fehlt ihnen die nötige Infrastruktur zur serienmäßigen Herstellung der neuartigen Bombe. Die Engländer geben auf und steigen irgendwann in die amerikanische Atombomben-Produktion ein.
Da sind die Vereinigten Staaten von Amerika schon deutlich besser aufgestellt. Präsident Roosevelt hatte Mammutprojekte des Staates in enger Zusammenarbeit mit großen Wirtschaftsunternehmen durchgeführt. Zudem konnten die USA in einem ganz anderen Ausmaß von der Massenflucht der besten Wissenschaftler aus dem vom Faschismus gelähmten Deutschen Reich profitieren als das Königreich Großbritannien. In den 1920er Jahren war Deutschland in den Bereichen Chemie und Physik weltweit führend. All jene in Deutschland hoch ausgebildeten Spitzen-Wissenschaftler bekamen die USA jetzt kostenlos ins Haus geschneit. Es waren nicht nur Deutsche mit jüdischem Hintergrund, die auf der Flucht waren vor dem antisemitischen Wahn wie zum Beispiel Albert Einstein. Auch nicht-jüdische Forscher wie Hans Bethe hielten es in dem provinziellen Muff des Hitler-Reichs nicht mehr länger aus. Ohne diesen kostengünstigen Braindrain wären die USA zum Beginn des Zweiten Weltkrieges bei weitem nicht so exzellent aufgestellt gewesen.
Nur die Kunde von der deutschen Kernspaltung war noch nicht bis in die höchsten Ränge der USA gedrungen. Leo Szilard war aus Ungarn in die Staaten gekommen. Er war ungarischer Staatsbürger mit jüdischen Wurzeln, der jetzt zusammen mit dem ebenfalls aus Ungarn stammenden Physiker Edward Teller, der jüdische Wurzeln hatte, einen Text aufsetzte, in dem er die amerikanische Regierung auf den möglichen deutschen Vorsprung bei der Entwicklung der Atombombe aufmerksam machte. Es war sowohl Szilard als auch Teller allerdings klar, dass sie selber viel zu unbekannt waren, um das Gehör des amerikanischen Präsidenten zu finden. Also fuhren sie zu dem wissenschaftlichen Superstar Albert Einstein. Albert Einstein lebte schon länger in den USA. Als ihm die beiden jüngeren Kollegen auf die deutsche atomare Gefahr hinweisen, ist Einstein erst mal baff und sagt denn: „Ach, daran, dass man aus der Kernspaltung auch Bomben machen kann, hatte ich noch gar nicht gedacht!“ Einstein unterschreibt sofort. Mit dem Unternehmer Alexander Sachs finden die Unterzeichner einen engen Vertrauten von US-Präsident Roosevelt. Sachs lässt sich aber noch Zeit bis zum Oktober 1939. Das passte vielleicht auch besser. Denn mittlerweile war der Zweite Weltkrieg ausgebrochen. Als Alexander Sachs schließlich eine Audienz bei Roosevelt bekommt, sitzen bereits zwei Militärs mit im Raum. Roosevelt liest das Memorandum von Szilard und Teller sorgfältig durch und sagt dann etwas flapsig zu Sachs: „Alex, Du willst wohl verhindern, dass die Nazis uns alle in die Luft jagen!“ Das will Roosevelt natürlich auch nicht und er erkennt sofort die Dringlichkeit dieser Angelegenheit. Der Bau einer US-amerikanischen Atombombe genießt von nun an höchste Priorität. Geld spielt keine Rolle. Nur die besten Wissenschaftler sind gerade gut genug für das Projekt.
Die bereits bestehende Infrastruktur in den Staaten wird systematisch durchkämmt. An der Columbia Universität in New York experimentieren Leo Szilard und Enrico Fermi. Seit neuestem hatte auch Italiens Diktator Benito Mussolini Gesetze gegen Juden erlassen, woraufhin auch italienische Spitzenforscher in die USA frei Haus gespült wurden. Fermi war selber kein Jude, hatte aber eine jüdische Frau geheiratet. Fermis Erkenntnisse waren für das Gelingen des Projekts entscheidend. Denn man wusste jetzt wohl, wie man eine atomare Kettenreaktion auslösen konnte. Aber wie sollte man diese Kettenreaktion wieder beenden, bevor der ganze Erdball in die Luft fliegt? Enrico Fermi hatte einen Weg gefunden, wie man die Kettenreaktion wieder abbremsen konnte. Ohne Fermis Lösung wären weder Atomkraftwerke noch Atomwaffen möglich gewesen. Auch die Universität Chicago wurde in das Netzwerk eingebunden.
Am wichtigsten war allerdings der informelle Kreis von Kernphysikern, der sich an der kalifornischen Berkley-Universität um Julius Robert Oppenheimer versammelt hatte. Diese Leute hatten bereits wesentliche Probleme der Kernspaltung zumindest theoretisch gelöst. US-Präsident Roosevelt ernannte den Militärangehörigen und Bauingenieur Leslie Groves zum organisatorischen Leiter des Kernwaffen-Projekts. Leslie Groves war bereits Bauleiter bei der Errichtung des neuen Hauptgebäudes des US-Kriegsministeriums <3>. Dieses Hauptgebäude hatte mit seinen fünf Ecken einen experimentellen architektonischen besondere Herausforderungen gestellt, die Groves brillant bewältigt hatte. Das Fünfeck-Haus ist als Pentagon heutzutage Synonym für den Militärisch-Industriellen Komplex der USA. Leslie Groves ernannte Robert Oppenheimer zum zivilen Direktor des neuen Projekts. Als Decknamen wählten die beiden Männer dann „Manhattan Project“, weil die Anfänge der amerikanischen Kernforschung von New York ausgingen und zweitens Spekulationen über einen möglichen Standort des neuen Mega-Projektes in die falsche Richtung führen sollten. Denn Oppenheimer und Groves waren sich einig, dass ein zentraler Ort für die theoretische und dann auch die sehr praktische Durchführung des Manhattan-Projekts in der Wüste von New Mexiko ausgesucht werden sollte. Oppenheimer machte seine Urlaubs-Expeditionen am liebsten im Hochplateau von New Mexiko. Für die neue Produktionsstätte mussten eine Schule und eine indianische Pilgerstätte weichen. Es entstand vom Reißbrett weg eine kleine Stadt von bis zu 5.000 Einwohnern mit Militärangehörigen und Zivilisten. Die Wissenschaftler und Techniker brachten ihre Familien mit. Bei einer solchen Anhäufung von relativ jungen, kulturell aufgeweckten Menschen gab es auch ein reges Musik- und Partyleben. Und das alles auf engstem Raum. Der Physiker Edward Teller nervte seine Nachbarn, indem er in der Nacht Klavier spielte.
Doch die kleine Stadt in der Wüste Neu Mexikos war ein Hochsicherheitstrakt. Alle bekamen Ausweise mit Fotos, die in ihrer Ähnlichkeit mit Verbrecherfotos so manchen Akademiker schwerstens anwiderten. Und die Wissenschaftler durften zwar autonom in ihren Seminaren diskutieren und streiten. Doch ihnen allen wurde deutlich gemacht, dass sie sich dem Kommando der anwesenden Militärs zu unterwerfen hatten. Auch bestimmte der Militärmann Leslie Groves, wer an diesem Projekt teilnehmen durfte, und wer nicht. Der bekannte Pazifist Albert Einstein war von vorneherein draußen <4>. Auch Leo Szilard durfte aufgrund seiner verdächtigen Friedensliebe nicht teilnehmen, sondern arbeitete von New York aus extern dem Projekt zu. Leslie Groves schrieb sogar an den Verteidigungsminister Henry Stimson, er solle Szilard für die Zeit des Krieges in ein Internierungslager verbringen. Doch Stimson lehnte ab.
Zunächst wollten sich schlüssige Ergebnisse nicht so recht einstellen. Es kamen immer noch mehr Fachleute hinzu, um gewisse spezielle Probleme zu lösen. Doch im Laufe des Krieges kristallisierten sich zwei Bombentypen heraus. Die eine Variante kam mit Uran aus und war technisch relativ einfach konstruiert. Die zweite Variante arbeitete mit Plutonium. Plutonium kommt in der freien Natur extrem selten vor. Man kann aber aus Uran über Anreicherungsprozesse künstlich Plutonium herstellen. Exakt das machen Atomkraftwerke jeden Tag. Und aus dieser Überlegung werden wir weltweit mit einem Geflecht von Atomkraftwerken überzogen, um an den Rohstoff für Atombomben heranzukommen. Die Mechanik der Plutonium-Bomben ist erheblich komplizierter als die der Uran-Bomben. Die Plutonium-Bomben sind auch deutlich schwerer als die Uran-Bomben.
Im Sommer 1945 war das Manhattan-Projekt endlich so weit, dass man die erste Bombe in der Wüste von Neu-Mexiko zünden konnte. Die Explosion fand am 16. Juli 1945 unter dem Tarnnamen „Trinity“, also: Dreifaltigkeit, statt. Die Physiker um Oppenheimer hatten sich für die anspruchsvollere Plutonium-Variante entschieden. In der in etwa sechs Tonnen schweren Bombe liegen sich zwei Packungen Plutonium gegenüber. Dazwischen ist konventioneller Sprengstoff gelagert. Der explodiert und bringt die Plutonium-Fraktionen ebenfalls zur Explosion. Diese Bombe nannte man schlicht „Gadget“, also ganz schmucklos: „Das Gerät“. Die Explosion verlief absolut perfekt nach Plan. Alle waren glücklich und zufrieden. Besonders der militärische Direktor Leslie Groves. In dem Hollywood-Film „Oppenheimer“ von Christopher Nolan gibt es eine dramaturgisch verdichtete Szene, die das ganze Dilemma dieses faustischen Paktes zwischen Militärs und zivilen Wissenschaftlern szenisch hervorragend verdichtet <5>. Nach dem erfolgreichen Atombombenversuch stehen Leslie Groves und Robert Oppenheimer zufrieden auf der Straße zum Ausgang aus dem Entwicklungsdorf der Nuklearwaffe. Groves verabschiedet sich von Oppenheimer und sagt, er fährt jetzt nach Washington zu Regierungsgesprächen. Oppenheimer ist verdattert: „Und ich?“ Bis jetzt hatten Groves und Oppenheimer immer alles gemeinsam besprochen und hatten gemeinsam mit der Regierung verhandelt. Groves entgegnet kalt: „Ja ... und?“ Und fährt alleine los. Zudem fahren noch LKWs mit den beiden fertig gestellten Bomben für den Einsatz in Japan in Kisten verpackt durch die Hochsicherheitsschranken.
So ist es gewesen: Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan. Der Mohr kann gehen. Die Atomphysiker haben den Militärs zu einer sensationell wirkungsvollen neuen Waffe verholfen. Doch die Wissenschaftler, die meisten von ihnen Juden, haben diese Waffe nicht konstruiert, um sie im Krieg einzusetzen. Die Atombombe sollte lediglich in Reserve gehalten werden, um damit eventuell einem atomaren Angriff durch die Nazis etwas entgegensetzen zu können. Sozusagen eine frühe Form des Gleichgewichts des Schreckens. Diese grauenvolle Waffe tatsächlich einzusetzen war nicht beabsichtigt. Schon gar nicht als Erstschlag. Und erst recht nicht gegen wehrlose Zivilisten. Nachdem die Wissenschaftler den amerikanischen Militärs jetzt diese Wunderwaffe in die Hand gegeben hatten, kümmerte sich der Militärisch-Industrielle Komplex nicht mehr um die Wünsche der geprellten Atomphysiker. Die neue Waffe wurde nun skrupellos eingesetzt, um die Weltherrschaftsambitionen der Eliten der USA zum Erfolg zu führen. Im Jahre 1945 lagen Amerikas Feinde Deutschland und Japan bereits am Boden.
Dass die USA jetzt so kaltschnäuzig die Atombombe als Völkermordinstrument einsetzen wollten, hatte etwas damit zu tun, dass Präsident Roosevelt am 12. April 1945 gestorben war. Sein Nachfolger Harry Truman war ein politischer Dilettant, der von diskreten Netzwerken in die gewünschte Richtung gelenkt werden konnte <6>. Die Mitarbeiter und politischen Mitstreiter Roosevelts wurden in einem stillen Putsch entmachtet und aus Washington entfernt. Jetzt hatten Herrschaften den ungehinderten Zugang zum Weißen Haus, die bereit waren, über Leichen zu gehen. Roosevelts Politik der guten Nachbarschaft war gestern.
Die an dem Manhattan Projekt beteiligten Wissenschaftler waren in ihrer Mehrheit entsetzt, als dann im August 1945 die Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki verkündet wurde. Beide Bombentypen, die Uran-Bombe als auch die Plutonium-Bombe, waren skrupellos an unschuldigen Zivilisten auf ihre Schädlichkeit für die Menschen im Freilandversuch getestet worden. Zudem wollte US-Präsident Truman seinem sowjetischen Verhandlungspartner Stalin bei der Konferenz von Potsdam schon einmal zeigen, wer in Zukunft Herrscher der Welt ist. Zu seiner Enttäuschung musste Truman erleben, dass Stalin von den Andeutungen über die neue Wunderwaffe wenig beeindruckt gewesen ist. Wir werden noch erfahren, warum Stalin so wenig beeindruckt war.
Es wurde schnell klar, dass die amerikanische Atombombe nicht eingesetzt wurde, um den Krieg mit Japan abrupt zu beenden. Kaiser Hirohito hatte längst Friedensfühler ausgestreckt. Doch die amerikanische Seite ignorierte diese Fühler großräumig. Denn man brauchte ja diese beiden Freilandversuche. Der Direktor des Manhattan-Projekts Robert Oppenheimer war jetzt ein Nationalheld. Eine Ikone des amerikanischen Sieges. Doch Oppenheimer sprach sehr bald von der Notwendigkeit, mit der Sowjetunion in Verhandlungen zu treten. Man sollte doch jetzt, wo das Kriegsziel erreicht und kein atomarer Herausforderer in Sicht war, die Versuchsanlage Los Alamos schließen. Auch Koryphäen wie Albert Einstein oder Leo Szilard forderten Selbstbeschränkung der amerikanischen Atomambitionen.
Diese Stimmen störten bei den Vorbereitungen für den geplanten Krieg gegen die Sowjetunion. Die Respektspersonen Oppenheimer und Einstein mussten zum Schweigen gebracht werden. Oppenheimer wurde in den folgenden Jahren auf perfide Art demontiert <7>. Es wurde ausgestreut, dass Oppenheimer eine Geliebte hatte, die Mitglied der Kommunistischen Partei der USA gewesen ist. Auch seine Ehefrau war zeitweilig Parteimitglied. Oppenheimer hatte an seiner Uni in Seminaren für Gewerkschaften agitiert. Sogar, dass Oppenheimer für die Republikaner in Spanien im Kampf gegen die Franco-Faschisten Geld gespendet hatte, wurde ihm böswillig negativ ausgelegt. Denn er hatte das Spendengeld über die Kassen der Kommunistischen Partei laufen lassen. Die Inquisitoren der McCarthy-Ära und ihre Handlanger von der Bundespolizei FBI suchten buchstäblich in Oppenheimers Mülleimer nach Material, mit dem man die Ikone Oppenheimer in den Dreck ziehen konnte. Es musste doch irgendwie zu beweisen sein, dass Oppenheimer ein Sicherheitsrisiko war und vielleicht Staatsgeheimnisse an die Sowjetunion weitergegeben hatte. Oppenheimers Kollegen waren von dieser McCarthy-Dreckschleuder angewidert. Doch sie mussten sehen, dass sie sich selber unbeschadet aus der Hexenjagd heraushielten. Jeder ist sich selbst der Nächste. Robert Oppenheimer wurde aus dem inneren Zirkel der Atompolitik entfernt. Schmutz blieb an ihm haften, bis ihn Präsident John F. Kennedy in aller Form rehabilitierte und ihn dessen Amtsnachfolger Lyndon Johnson mit der Enrico-Fermi-Medaille ehrte.
Beinahe alle an der Entwicklung der Nukleartechnik beteiligten Wissenschaftler verurteilten die militärische Nutzung der Atomspaltung. In unzähligen Kongressen und Denkschriften haben sie immer wieder zur Abrüstung aufgerufen. Die Atomphysiker wurden missbraucht für ganz finstere Zwecke. Ihre Arbeit wurde ihnen gewaltsam aus der Hand gerissen. In der Öffentlichkeit kam es zu einer böswilligen Täter-Opfer-Umkehrung. Die dem Pentagon ergebene Presse wurde nicht müde, Oppenheimer als den „Vater der Atombombe“ zu bezeichnen. Immer wieder schwafelten Journalisten über die schwere Schuld, die auf den Physikern laste. Kein Scheinwerferlicht zeigte auf die tatsächlichen Schuldigen: die Militärs und ihre Freunde von der Rüstungsindustrie, die mit dem elenden Strahlentod von Millionen Unschuldigen glänzende Geschäfte gemacht haben und immer noch machen.
Denn schon während die amerikanischen Superbomber ihre tödliche Fracht über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen hatten, liefen die Planungen, danach so bald wie möglich die Sowjetunion mit Atombomben zu überziehen <8>. Planungen wurden detailliert ausgearbeitet, wie man zunächst die Gehirnzentralen der Sowjetunion in Leningrad und Moskau atomar auslöschen würde. Und dann auch mittelgroße Städte in der Sowjetunion dem Boden gleich zu machen. Die Operation Dropshot aus dem Jahre 1947 sah vor, insgesamt einhundert Städte in der Sowjetunion mit dreihundert Atombomben und 29.000 konventionellen Bomben hoher Sprengkraft zu traktieren. Der Plan sollte spätestens bis zum Jahre 1957 ausgeführt werden. Zunächst hinderte die amerikanischen Militärs nur das logistische Problem an der grausigen Ausführung. Es mussten genug Flugzeuge und Raketen gebaut werden, die derart viele Bomben schnell und an der sowjetischen Luftabwehr vorbei ins Ziel befördern würden. Als man schließlich so weit war, überraschte der sowjetische Regierungschef und Staatspräsident Nikita Chruschtschow die Welt mit dem Sputnik-Schock. Der naiven Weltöffentlichkeit wurde erzählt, der Westen sei geschockt, weil die Sowjets den ersten Satelliten in das Weltall geschossen hatten. Dieser Sputnik-Satellit war indes nur so groß wie ein Fußball und konnte nichts anderes als ein einfältiges Funksignal zur Erde zu schicken. Der Schock des Westens bestand eher darin, dass die Sowjets eine potente Interkontinentalrakete ins All befördert hatten, die ohne Probleme sowjetische Atombomben mitten in das amerikanische Herzland befördern konnte. Die Dropshot-Pläne wurden in den Mülleimer befördert. Und der Westen war plötzlich ganz lieb und nett zu Chruschtschow. Damit begann die Entspannungsphase, die für einige Jahrzehnte Frieden garantierte. Man musste sich seitens der Amerikaner was Neues ausdenken.
Noch einmal zurück zur Konferenz von Potsdam. Präsidenten-Azubi Truman war ja enttäuscht, dass Stalin von der neuen amerikanischen Wunderwaffe überhaupt nicht beeindruckt war. Nun, der Grund ist ganz einfach: Stalin wusste bereits bestens Bescheid über das Manhattan Projekt. Sogar die Baupläne der dort entwickelten Uran- und Plutonium-Bomben hatte er bereits auf seinem Schreibtisch liegen. Er hatte seine Informanten in Los Alamos. Einer von diesen Informanten hieß Klaus Fuchs. Die Welt schuldet Klaus Fuchs dafür posthum den Friedensnobelpreis und ein kollektives Dankeschön. Klaus Fuchs war wie so viele Physiker aus dem Hitler-Reich nach England emigriert. Er wurde für das britische Atomprogramm Tube Alloys angeheuert. Als die Engländer einsahen, dass sie das Atomprogramm nicht alleine schultern können, schickten sie ihre Experten nach Amerika, um im Manhattan-Projekt mitzuarbeiten. Und weil Edward Teller nicht so richtig an der Entwicklung der Atombombe mitarbeitete, weil er sein Konzept der Wasserstoffbombe für sinnvoller hielt, übernahm seine Aufgaben Klaus Fuchs. Fuchs war misstrauisch, dass die Amerikaner die Atombombe wirklich nur zur Abschreckung der Nazis verwenden würden. Als sich abzeichnete, dass die Amerikaner stattdessen die ganze Welt mit der neuartigen Horrorwaffe unterwerfen wollten, war er tief beunruhigte und schickte den Sowjets über diskrete Kanäle die Formeln und die Aufbaupläne für die Atombombe. Die Sowjetunion hatte fast die gesamte Last des Krieges gegen die Achsenmächte zu tragen, mit immerhin 28 Millionen Toten. Die Sowjetunion war nach dem Krieg bitter verarmt. Niemals hätte die Sowjetunion aus eigener Kraft die Atombombe bauen können, um gegen die Amerikaner ein Gleichgewicht des Schreckens aufzubauen. Mit Hilfe der Werkspionage von Klaus Fuchs konnten die Sowjets im Jahre 1949 die Explosion der ersten sowjetischen Atombombe bekannt geben. Die sowjetische Bombe war ein exakter Nachbau der Plutonium-Bombe „Fat Boy“, wie sie über Nagasaki abgeworfen wurde. Damit war den irrwitzigen Plänen der amerikanischen Militärstrategen ein Riegel vorgeschoben. Klaus Fuchs haben wir es unter anderem zu verdanken, dass wir jetzt nicht als atomarer Feinstaub im All herumsegeln.
Wir lernen aus der Geschichte, wie wir die Zukunft besser machen.
Quellen und Anmerkungen
<1> https://www.youtube.com/shorts/IvH7cgbdazU
<2> https://www.youtube.com/watch?v=DiZDQltx2js
<3> Leslie Groves: Now it can be told. The Story of the Manhattan-Project. New York 1962
<4> https://www.amnh.org/exhibitions/einstein/peace-and-war/the-manhattan-project
<5> https://www.youtube.com/watch?v=0oBhSAjEsnE
<6> The Wise Men – Six Friends and the World they made. Kapitel 9 mit dem vielsagenden Titel: „Words of the Syllable/The Education of Harry Truman. S.253ff. New York 1988
<7> Kai Bird/Martin Sherwin: American Prometheus – The Triumph and the Tragedy of J. Robert Oppenheimer. New York 2005
<8> Hermann Ploppa: Der Griff nach Eurasien – Die Hintergründe des ewigen Krieges gegen Russland. Marburg 2019
Bildquellen: https://commons.wikimedia.org
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