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HIStory: Die Abwicklung der DDR

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Der Buchautor und Publizist Hermann Ploppa erläutert in HIStory kurz und sachlich historische Daten und Jahrestage von herausragenden geschichtlichen Ereignissen. Dabei werden in diesem Format Begebenheiten der Gegenwart, die mit einem Blick in die Vergangenheit in ihrer Bedeutung besser einzuordnen sind, künftig alle 14 Tage montags in einen geschichtlichen Kontext gebracht.

HIStory: Die planvolle Abwicklung und Filetierung der Deutschen Demokratischen Republik

Immer noch glauben viele Menschen, der Zusammenbruch der DDR und die plötzliche Implosion der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) seien das Ergebnis eines Volksaufstandes gewesen.

Tatsächlich kann man sich vor dem Mut und dem Einsatz der ostdeutschen Bürgerrechtler nur verneigen. Dennoch wäre dieser Aufstand genauso blutig niedergeschlagen worden wie dereinst der Aufstand vom 17. Juni 1953. Der Aufstand 1989 ging dagegen glimpflich aus, weil sich in der Zwischenzeit an den Machtverhältnissen sehr viel geändert hatte auf dieser Welt. Die DDR-Schutzmacht Sowjetunion befand sich bereist geraume Zeit in der fortgeschrittenen Auflösung. Die USA war nicht willens, wie in früheren Fällen, der Sowjetunion mit Krediten oder Strukturhilfen wieder auf die Beine zu helfen. Die DDR erlebte angesichts des unübersehbaren Zerfalls einen Massenexodus ihrer Bürger über die Tschechoslowakei und Ungarn. Die Lage war schlicht unhaltbar geworden.

Der Mauerfall am 9. November 1989 wurde zum entscheidenden Dammbruch. Jener Mauerfall ging in die Mythologie der Wiedervereinigung als Missgeschick mit historischen Folgen ein. Der SED-Funktionär Günther Schabowski soll auf die Frage eines Journalisten keine gescheite Antwort gewusst haben. In seiner Verlegenheit habe er eine Order von oben so gedeutet, dass die Grenzen ab sofort für alle DDR-Bürger offen seien. Das war aber letztlich unerheblich, denn für den nächsten Vormittag, so sah es die Politbüro-Anweisung tatsächlich vor, sollten DDR-Bürger frei ausreisen können. Das betraf jedoch nur Auswanderer aus der DDR, die ein Ausreisevisum erworben hatten. Und nun überrannten Menschenmassen ohne jedes Visum die völlig überforderten Grenzpolizisten. Die Visa-losen Ostberliner nutzten die Chance für einen spontanen Ausflug nach Westberlin.

Die deutsche Wiedervereinigung: ein Zusammenspiel von erfolgreichem Bürgerprotest und dummen Zufällen? Das alleine hätte jedoch nicht ausgereicht. Tatsächlich hatte die Führung der Sowjetunion den deutschen Arbeiter- und Bauernstaat schon lange an den Westen verkauft. Es blieb den Sowjets schlicht und ergreifend gar nichts anderes mehr übrig. Denn die UdSSR war bereits Anfang der Achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts pleite. Den strukturellen Niedergang der Sowjetunion hatte die US-Regierung unter Ronald Reagan gnadenlos beschleunigt. Zum einen war die Sowjetunion nach dem Sturz von Chruschtschow im Jahre 1964 von einer entwickelten Industrienation zu einem Rohstofflieferanten regrediert und war jetzt wie ein Drittweltland zu fast hundert Prozent von den Exporterlösen seiner fossilen Rohstoffe, Erdöl und Erdgas, abhängig.

Ein solches Land kann man mit der erzwungenen Senkung der Rohstoffpreise leicht in den Ruin treiben. Und genau das tat der schlaue CIA-Chef und Mastermind von US-Präsident Ronald Reagan, William Casey (1). Er reiste durch die erdölexportierenden Länder im Orient und überredete die Prinzen in Saudi-Arabien, ihr Erdöl eine ganze Zeit lang zu absoluten Dumpingpreisen auf den Weltmarkt zu schmeißen. Die Sowjetunion musste ihren Ölpreis bis zur absoluten Selbstvernichtung absenken.

Hinzu kam die neue Rüstungsspirale, die die USA einseitig auf den Weg gebracht hatten und worauf die Sowjets jetzt nicht mehr angemessen antworten konnten. 1985 kam endlich mit Gorbatschow ein Mann an das Steuerrad der Sowjetunion, der die Situation realistisch erfassen konnte. Gorbatschow betätigte sich nicht anders wie ein Insolvenzverwalter in der freien Wirtschaft: er versuchte sein Unternehmen Sowjetunion gesundzuschrumpfen und mit dem sanierungsfähigen Rumpfteil zu retten was noch zu retten war. Die Satellitenstaaten des Warschauer Paktes hingen schon lange finanziell und materiell am Tropf der Sowjetunion. Die gute Nachricht: Gorbatschow entließ diese Staaten nunmehr in die Freiheit. Die schlechte Nachricht an die Trabanten: seht zu wie Ihr in Zukunft alleine klarkommt! Sucht Euch neue Sponsoren im Westen! Von uns kriegt Ihr nichts mehr.

Das hatte die DDR schon Anfang der 1980er Jahre auch ohne Gorbatschow schmerzhaft erfahren müssen, als die Sowjets ihrem subalternen Bruderstaat kein Rohöl mehr lieferten. Die DDR-Wirtschaft musste mehr schlecht als recht ihr Öl aus der heimischen Braunkohle gewinnen mithilfe des in den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts erfundenen und seither nicht mehr weiter entwickelten Verfahrens der Kohlehydrierung. Eine ganz neue Dimension der Umweltverschmutzung und des Umweltverbrauchs.

Der Liebesentzug der Sowjets traf die ostdeutschen Kommunisten hart. Dabei waren die inneren Probleme schon bedrohlich genug. Die DDR-Bürger bekamen auf Schritt und Tritt vermittelt, dass sie gegenüber den Westdeutschen nur nachrangig behandelt wurden. Beim Urlaub am Schwarzen Meer umwieselten die bulgarischen oder rumänischen Kellner die wohlgenährten Westdeutschen, die in „Valuta“, also in harter D-Mark bezahlten, während die Ostmark nicht sonderlich begehrt war. So wurden die Ostdeutschen auch hier im sozialistischen Bruderland barsch abgefertigt.

Doch auch in der DDR selber war die Nachrangigkeit der eigenen Bevölkerung gegenüber dem Westen mit Händen zu greifen. Was nämlich kaum jemand bis heute weiß: die DDR produzierte keineswegs Schrott und lieferte hochwertige, technisch ausgereifte und anspruchsvolle Waren (2). Allerdings bekam diese Waren kaum jemand in der DDR zu sehen, geschweige denn zu greifen. Elektrogeräte, Textilien und Möbel aus sozialistischer Fertigung gingen sofort in den Westen. Große Versandhäuser wie Quelle und Neckermann oder Möbelhäuser wie IKEA lieferten Qualitätsware aus dem Osten. Salamander-Schuhe wurden nicht nur in Kornwestheim hergestellt, sondern auch in der DDR. Die Bundesbürger aus unteren Gesellschaftsschichten konnten sich auf diese Weise Waren des gehobenen Bedarfs leisten. Was sonst die eigene Lohntüte ohne Dumpinglieferungen aus der DDR nicht hergegeben hätte. So verbesserte die sozialistische DDR das Los der arbeitenden Klassen – aber nicht bei sich zuhause, sondern in der kapitalistischen BRD. Die besten Qualitäten gingen ins kapitalistische Ausland – den Ausschuss bekamen die eigene Bevölkerung und die Brüder und Schwestern aus dem sozialistischen Ausland in die Hand gedrückt.

Wer im Osten Qualität kaufen wollte, musste sich in die Delikat- oder Exquisit-Läden begeben. Dort musste man für die Schreibmaschine „Erika electronic S3006“ sage und schreibe 3.200 Ostmark hinblättern; während dasselbe Modell unter dem Namen „Privileg electronic 1400“ für wenige hundert D-Mark bei Quelle zu haben war. Zudem wurden Textilien, von denen man in der DDR Überschuss produziert hatte, für wenige Pfennige in den Westen verramscht, anstatt sie an die eigene Bevölkerung zu verteilen. Oft subventionierte die DDR-Regierung Exportwaren, sodass diese Waren unter dem Herstellungspreis in den Westen gingen. All diese Effekte waren wenig geeignet, die Bevölkerung von der „Überlegenheit des Sozialismus“ zu überzeugen. Die DDR füllte in den Siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts genau die Funktion aus, die heute Drittweltländer ausfüllen: mit konkurrenzlos niedrigen Löhnen den Lebensstandard in den Industrieländern ohne nennenswerte Lohnerhöhungen künstlich hochhalten – mit allen üblen Folgen für Mensch und Umwelt vor Ort.

Die DDR wäre womöglich schon Anfang der Achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts zusammengebrochen – wenn nicht der berüchtigte Kommunistenfresser Franz Josef Strauß von der bayerischen CSU die Nomenklatura um Erich Honecker mit einem Milliardendeal im Jahre 1983 vor dem Offenbarungseid bewahrt hätte (3). Das war natürlich keineswegs ein Akt der Humanität, wie Strauß das später gerne verkaufen wollte. Er half ganz einfach seinem engen Freund, dem Fleischgroßhändler Josef März, aus der Patsche. Der war nämlich mit seiner Firma Marox zu großem Reichtum gelangt, seitdem er zu absoluten Tiefpreisen Rinder aus der DDR einkaufte und diese Geschöpfe dann in bundesdeutschen Schlachthöfen zu Fleischkonserven verarbeiten ließ. Damit schädigte März nicht zuletzt bundesdeutsche Bauern, die mit dem DDR-Dumping nicht mithalten konnten und Konkurs gingen. Josef März unterhielt nichtsdestotrotz enge Beziehungen zu dem berüchtigten DDR-Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski.

Der verkloppte im Auftrag von Honeckers Politbüro einfach alles in der DDR, was sich in West-Devisen umwandeln ließ, egal wie. In der Schlussphase ließ Schalck-Golodkowski sogar unbescholtene DDR-Bürger unter fadenscheinigen Vorwänden von der Stasi verhaften, um sich sodann Wertsachen der Verhafteten unter den Nagel zu reißen und diese Wertsachen dann im Westen gegen Valuta zu verkaufen.

Dass Franz Josef Strauß ausgerechnet der DDR noch eine verlängerte Galgenfrist durch die Akquirierung eines Kredits von einer Milliarde D-Mark unter Führung der Bayerischen Landesbank einräumte, hat ihm politisch geschadet. Aber durch saftige Provisionen wurde der Löwe von Bayern für den Ansehensverlust entschädigt. Wir können übrigens das dubiose Geschacher zwischen Strauß und Honecker heute nicht mehr wissenschaftlich einwandfrei rekonstruieren. Denn mit Billigung des SPD-Kanzlers Gerhard Schröder wurden alle Stasi-Akten über den CSU-SED-Deal vernichtet. Ganz frech hieß es in der Begründung dieser ungeheuerlichen Vertuschungsaktion, man wolle das Andenken an einen verdienten deutschen Staatsmann nicht besudeln lassen (4). Zu Lebzeiten des Münchner Schlachtersohns Franz Strauß kolportierte die bundesdeutsche Presse dagegen immer wieder gerne, der bayrische Kraftmann habe bei den Zechgelagen mit Schalck-Golodkowski empfindliche Staatsgeheimnisse zu vorgeschrittener Stunde ausgeplaudert. Das kann sein.

Andererseits hat aber wohl auch Schalck-Golodkowski empfindliche Staatsgeheimnisse der DDR-Regierung an bundesdeutsche Stellen weitergegeben. Man kann es noch deutlicher sagen: Schalck-Golodkowski verriet und verschacherte seine DDR an den kapitalistischen Westen. Spätestens als es nichts mehr zu retten gab außer Schalck-Golodkowskis nackte Haut. Nach dieser glorreichen Großtat konnte er dann in einer Villa am bayrischen Starnberger See unter Polizeischutz seinen Lebensabend genießen. Und die Schalck-Nummer funktionierte folgendermaßen: als die DDR für jeden ersichtlich im Sommer 1989 durch gigantische Fluchtwellen ausblutete, begann auch in der SED-Führung ein Umdenken. Zunächst wurde Erich Honecker, durch seine Hofschranzen bis dato permanent von unbequemen Wahrheiten abgeschottet, Mitte Oktober seiner Ämter enthoben. Sein Nachfolger Egon Krenz veranlasste die Erstellung einer Denkschrift, die ungeschminkt und schonungslos alle Schwächen der DDR offenlegen sollte, um endlich mit der Therapie beginnen zu können. Am 30. Oktober 1989 wurde dem Politbüro das so genannte „Schürer-Papier“ vorgelegt (5). Das Papier stellt fest, dass die DDR hoffnungslos verschuldet sei, und dass in puncto Produktivität die DDR meilenweit hinter der BRD hinterherhinke.

Immerhin wollen die Autoren um jeden Preis Kredite beim Internationalen Währungsfond vermeiden, um nicht dort in die Schuldknechtschaft zu geraten. Ihre Therapievorschläge: eine Austeritätspolitik im Stil der englischen Premierministerin Maggie Thatcher mit sozialistischer Rhetorik. Oberstes Ziel ist die Aufrechterhaltung der Souveränität der DDR. Man möchte sogar Länder wie Frankreich, Österreich oder Japan anpumpen, damit diese die Rest-DDR als Gegengewicht gegen eine befürchtete Erstarkung der BRD aufbauen mögen. Gleichzeitig möchte man aber auch von der BRD neue Kredite bekommen. Das geht natürlich nur, wenn dieses Schürer-Papier streng geheim bleibt. Die Empfänger des Papiers sollen dieses Dossier am 31. Dezember 1989 vernichten. Am Papier hat auch Alexander-Schalck-Golodkowski mitgearbeitet. Als dann im Januar 1990 Emissäre der DDR-Regierung bei westdeutschen Bankiers und Regierungsmitgliedern wegen eines Kredits vorsprechen, machen diese auf beleidigt, und berufen sich dabei auf das doch eigentlich hochgeheime Schürer-Papier. Und angesichts des im Schürer-Papier genannten Schuldenstands von 49 Milliarden D-Mark denken sie nicht im Traum daran, in dieses sinkende Schiff noch einen bundesdeutschen Pfennig zu investieren. Wer hat denn die westdeutschen Entscheidungsträger mit dem hochbrisanten Schürer-Papier versorgt? Welcher Schalck hat hier wohl die westlichen Banker geritten?

Die Aussage, dass die DDR mit 49 Milliarden Mark unrettbar verschuldet sei, war der tödliche Hammer für alle DDR-Aspirationen auf eine langfristige nationale Souveränität. Aufgrund dieser Hammerzahlen schwand auch bei den Befürwortern des Fortbestands der DDR jeglicher Mut. Es existierte noch im Herbst 1989 eine klare Zweidrittelmehrheit in der DDR für den Fortbestand eines eigenen Staates. Die Erklärung „Für unser Land“ (6) fand massenhaft Unterstützung. Doch kaum war die Grenze auf, strömten jede Menge Einflussagenten aus der BRD in die DDR, die sich unter die Demonstranten mischten und die Forderung nach „Wiedervereinigung“ ausriefen und deutsche Fahnen ohne Hammer und Zirkel schwenkten und „Helmut, Helmut!“ skandierten (7).

Dabei war auf der großen internationalen Bühne die Annexion der DDR durch die Bundesrepublik Deutschland längst beschlossene Sache. So konnte man bereits am 4. November, also fünf Tage vor dem sagenhaften Mauerfall, in einer Provinzzeitung (8) folgendes lesen: „Der französische Staatspräsident Francois Mitterand erwartet eine schnelle Wiedervereinigung beider deutscher Staaten und hat keine Angst vor dieser Entwicklung. Das sagte er gestern zum Abschluß der deutsch-französischen Konsultationen in Bonn. ‚Es wird schnell gehen, sehr schnell, aber vielleicht nicht so schnell, wie manche sich das wünschen‘, sagte Mitterand.“

Die Deutsche Demokratische Republik war für westliche Investoren durchaus ein Leckerbissen mit großem Potential. Denn die DDR bildete den östlichen Teil eines einstmals großen Reiches. Der westliche Teil hatte sich optimal in der Ost-West-Spannung eingerichtet, hatte gute Geschäfte gemacht, und strotzte nur so vor Finanzkraft. Allein im ersten Halbjahr 1990 hatte die Bundesrepublik im Außenhandel ein sattes Plus von über 60 Milliarden Mark gemacht. Hier, so dämmerte Gorbatschow, ergibt sich eine Möglichkeit durch deutsche Unterstützung für das marode Sowjetreich. Biete DDR gegen Finanzhilfe. Ein Deal, den der damalige Sowjetchef Nikita Chruschtschow bereits im Jahre 1964 dem westdeutschen Bundeskanzler Ludwig Erhard angeboten hatte. Jetzt jedoch ist die Sowjetunion krank und schwach.

„Die Hoffnung heißt Germanija“, titelte das Hamburger Nachrichtenmagazin Der Spiegel in jenen Tagen (9). Während Bundeskanzler Kohl und Generalsekretär Gorbatschow im Kaukasus abends am Lagerfeuer zusammensitzen, kommt der Gastgeber auf die Probleme zu sprechen: wenn er die DDR am 3. Oktober 1990 in die Wiedervereinigung entlässt, möchte er nicht länger auf den Kosten der sowjetischen Besatzungssoldaten sitzen bleiben, die noch bis 1994 in Ostdeutschland bleiben sollen. Kohl ist überhaupt nicht geizig. Er hatte den Sowjets bereits Lebensmittellieferungen im Wert von 220 Millionen Deutsche Mark mitgebracht. Zuvor hatte die Deutsche Bank trotz der schlechten Zahlungsmoral der Sowjets drei Milliarden DM als Kredit an die sieche Sowjetunion vergeben – was sonst keine Bank mehr gewähren wollte. Gorbatschow rechnet dem Kanzler vor, wo Löcher im Sowjetreich entstanden sind: der Verfall der Erlöse aus dem Öl- und Gasexport; Tschernobyl wird so etwa 15 Milliarden Dollar kosten; Afghanistan hat sieben Milliarden Dollar verschlungen; und durch die Volksseuche des Alkoholismus entsteht dem Staat jedes Jahr ein Verlust von zehn Milliarden Dollar. Kohl hatte sich auf der internationalen Bühne für ein Hilfspaket in Höhe von zwanzig Milliarden Dollar starkgemacht. Es wird über eine Wirtschaftshilfe für zehn Jahre in Höhe von hundert Milliarden Dollar nachgedacht. Kohl war ja auch jemand, der wirklich „liefert“.

Kein Wunder, dass die Presse vom neuen Rapallo raunt. Im italienischen Badeort Rapallo hatten die Weimarer Republik eine enge Kooperation mit der jungen Sowjetunion vertraglich besiegelt. So sagte der Spiegel damals: „Die Wirtschaftskraft der EG-Führungsmacht in Verbindung mit dem bislang nachhaltig verschleuderten Potential der Sowjetunion - dem Überfluß an Rohstoffen und bebaubarem Boden sowie mit Wissenschaftlern von Weltniveau und 80 Millionen Arbeitern, denen die Kommunisten mindestens Grundschulbildung angedeihen ließen. Kein Wunder, daß eine solche Perspektive auch beklommen macht.“ Weniger schwärmerisch, dafür aber umso mehr germanophob, textet der britische Economist: „Wenn Deutschland und Rußland einander wärmen, fangen andere Staaten zu frösteln an" (10).

Ein sowjetischer Diplomat scherzte später einmal bitter, Kohl sei als Bettvorleger gesprungen und dann als Tiger gelandet. Wäre Kohls Deal mit Gorbatschow Wirklichkeit geworden, dann hätte sich der Bundeskanzler aus Oggersheim plötzlich auf Augenhöhe mit den USA befunden. Dann wäre wahr geworden, wovor die Geostrategen in den USA und Großbritannien bereits seit einhundert Jahren immer wieder gewarnt hatten: die gigantischen Rohstoffe der eurasischen Kontinentalplatte, kombiniert mit deutschem Organisationstalent und Know-how. Vor George Friedman hatte bereits der britische Geopolitiker Halford Mackinder im Jahre 1904 das Gespenst einer deutsch-russischen Vereinigung an die Wand gemalt. Dieses eurasische Power-Paket zu verhindern blieb ein wesentliches Motiv angloamerikanischer Politik bis heute. Und so schlief man auch jetzt nicht in Washington und London. Bevor nämlich eine neue gesamtdeutsch-sowjetische Allianz zustande kommen konnte, entmachtete der russische Präsident Boris Jelzin, der unter dem Einfluss der USA stand, wiederum Gorbatschow und löste die Sowjetunion kurzerhand auf.

Die uneinholbaren Schulden von 49 Milliarden Valutamark, von denen das berühmte Schürer-Papier spricht, sollten sich als vollkommen unzutreffend herausstellen. Tatsächlich, das hat sogar die westdeutsche Bundesbank im sicheren Abstand von zehn Jahren 1999 festgestellt (11), bewegten sich die DDR-Schulden mit 19,9 Milliarden Valutamark in Größenordnungen, die durchaus zu wuppen waren. Aber mit dieser Schimäre der uneinholbaren Schulden rechtfertigte die Bundesregierung die totale Annexion der DDR. Und statt der erhofften „blühenden Landschaften“, die der Märchenerzähler aus Oggersheim, Helmut Kohl, versprochen hatte, wurde erste einmal alles platt gemacht, was der bundesdeutschen Wirtschaft im Wege stand.

Die Übernahme der DDR gestaltete sich nicht sonderlich würdevoll. Nach kurzer Umarmung kam die von den Medien produzierte Spaltung der Deutschen in „Ossis“ und „Wessis“. Währenddessen übernahmen Finanzseilschaften aus dem Westen die DDR und bereicherten sich bis weit über jede Schamgrenze hinaus. Sie betrogen die Steuerzahler in Westdeutschland genauso wie in Ostdeutschland. Sie kauften sich nämlich DDR-Banken. In deren Büchern standen angeblich nicht zurückgezahlte Kredite von DDR-eigenen Großunternehmen, den so genannten Kombinaten. Es handelte sich bei den so genannten „Krediten“ jedoch in Wirklichkeit um Gewinnrückführungen. Denn jedes Kombinat zahlte zunächst seine gesamten Gewinne an den Staat, quasi als Steuern.

Dann bekamen sie über die Konten der Banken einen Teil der abgeführten Gewinne wieder zurück, um damit soziale und kulturelle Aufgaben zu finanzieren, wie z.B. Kinderhorte. Dieses Geld wurde als „Kredit“ in den Büchern der Banken geführt, war aber kein Kredit im Sinne westlicher Kontoführung. Diese „Kredite“ forderten sodann die westlichen Investoren von den Kombinaten, plus zehn Prozent Zinsen. Die Kombinate konnten den Betrag nicht zahlen und gingen Pleite, auch wenn sie eigentlich kerngesund waren. Intakte Kombinate existierten in der DDR durchaus in nennenswerter Anzahl. Das Bundesfinanzministerium unter Theo Waigel hatte eigens einen so genannten „Altastentilgungsfond“ gebildet, der die Investoren bei Verlusten in Ostdeutschland entschädigen sollte. Dorthin wandten sich nun die Gläubiger, und wollten den Verlust aus der Pleite der Kombinate vom Bund zurückhaben. Sie bekamen das Geld. Auf diese Weise wurden die deutschen Steuerzahler mal eben um 200 Milliarden DM erleichtert.

Diesen Coup möglich gemacht hatte Horst Köhler, der damals als Staatssekretär im Finanzministerium tätig war. Köhlers Fachreferent für das Grobe hieß Thilo Sarrazin (12). Köhler wurde sodann mit dem Posten des Direktors des Internationalen Währungsfonds belohnt, bevor er sogar zum Bundespräsidenten des vereinigten Deutschland befördert wurde. Sarrazin blieb seiner Profession als Privatisierer von Volksvermögen treu. Als Berliner Finanzsenator half er mit, etwa 70.000 gemeinnützige Wohnungen an internationale Finanzheuschrecken zu verschachern.

Es waren nicht nur krasse Fälle von Kleptokratie, die diese Wiedervereinigung zu einem Fiasko werden ließen. Die Treuhandanstalt liquidierte und privatisierte Unternehmen in der DDR, dass es eine Maggie Thatcher vor Neid erblassen ließ. Gorbatschow hatte sich damals am Lagerfeuer von Kohl auch erbeten, dass die DDR-Unternehmen erhalten bleiben und in vollem Umfang mit der Sowjetunion weiterhin Handel treiben durften. Die auf Veranlassung des letzten Parlaments der DDR, der Volkskammer, ins Leben gerufene Treuhand hatte den klaren Auftrag, genossenschaftliche Unternehmen in Ostdeutschland gegen den Ansturm westlicher Konzerne zu schützen und feindliche Übernahmen abzuwehren. Folglich war der erste Treuhand-Chef ein DDR-Bürger. Doch sobald die Wessi-Funktionäre fest im Sattel saßen, wurde die Funktion der Treuhand radikal umgedreht.

Neuer Treuhand-Chef wurde der als rücksichtsloser Firmensanierer im Westen hervorgetretene Detlev Karsten Rohwedder. Doch Rohwedder enttäuschte die Erwartungen der westdeutschen Kahlschlag-Sanierer. Denn Rohwedder sagte ostdeutschen Kombinatschefs unter vier Augen, dass er die Zerschlagung der ehemaligen DDR-Kombinate unter allen Umständen verhindern wolle. Der Unmut der marktradikalen Freibeuter, die sich mittlerweile fest in der Treuhand eingenistet hatten, wuchs von Tag zu Tag. Rohwedder sei „untragbar“. Rein zufällig erledigte sich die Personalie Rohwedder scheinbar wie von selbst. Denn ein Anschlag der Rote Armee Fraktion tötete den zweiten Treuhandchef. Vermutlich handelte es sich beim Mord an Rohwedder um eine false-flag-Aktion: statt der RAF führten mit hoher Wahrscheinlichkeit professionelle Killer irgendwelcher Geheimdienste diesen inside job aus. Zwar waren alle Fenster in Rohwedders Haus zuvor mit schusssicheren Scheiben ausgestattet worden, wohl wissend, dass ein Treuhandchef gefährlich lebt. Nur das Fenster von Rohwedders Arbeitszimmer war seltsamerweise weiterhin aus ganz normalem Glas gefertigt. Und das wusste der professionelle Scharfschütze, der daraufhin Rohwedders Halsschlagader exakt mit der Kugel traf. Rohwedder verblutete auf der Stelle (13).

Der Weg war nun frei für Birgit Breuel. Die niedersächsische Finanzministerin folgte auf Rohwedder im Amt als Treuhandchef. Als Tochter eines Hamburger Privatbankiers hatte Breuel die Ideologie des Marktradikalismus tief eingesogen. Vollkommen empathiefrei brüstete sie sich damit, in einem Monat mehr Betriebe im Osten privatisiert zu haben als ihr Vorbild Maggie Thatcher in zwei Jahren. Betriebe, die noch intakt waren, wurden abgeschaltet, wenn sie einem Westkonzern beim Zug nach Osten im Wege standen. Andere Betriebe wurden für einen Appel und ein Ei westlichen Konzernen angegliedert. Alle weniger gut gestellten ostdeutschen Unternehmen wurden kurzerhand liquidiert.

Die Ökonomie der Ex-DDR wurde jetzt vollkommen umgepolt auf westliche Wirtschaftskreisläufe. Die Verbindung zwischen Deutschland und der Sowjetunion wurde erneut vollständig gekappt. Heute, wie zu Quelles und Neckermanns Zeiten, ist Ostdeutschland leider wieder die verlängerte Werkbank Westdeutschlands.

Wir lernen aus der Vergangenheit, wie wir die Zukunft besser machen.

Quellen und Anmerkungen:

  1. Hermann Ploppa: Der Griff nach Eurasien – Die Hintergründe des ewigen Krieges gegen Russland. Marburg 2019 S.273ff
  2. https://www.mdr.de/zeitreise/quelle-und-ddr-produkte-100.html
  3. https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13488927.html
  4. https://www.spiegel.de/politik/deutschland/bayerischer-verfassungsschutz-stasi-akte-ueber-strauss-vernichtet-a-72280.html
  5. Schürer-Papier:https://www.chronik-der-mauer.de/material/178898/sed-politbuerovorlage-analyse-der-oekonomischen-lage-der-ddr-mit-schlussfolgerungen-30-oktober-1989
  6. Erklärung „Für unser Land“: https://web.archive.org/web/20131012065100/http:/www.hdg.de/lemo/html/dokumente/DieDeutscheEinheit_aufrufFuerUnserLand/index.html
  7. Otto Köhler: Die Grosse Enteignung – Wie die Treuhand eine Volkswirtschaft ruinierte. Berlin 2011. S.171ff
  8. https://www.op-marburg.de/Marburg/Der-Mauerfall-1989-Was-hat-er-bewirkt
  9. https://www.spiegel.de/politik/die-hoffnung-heisst-germanija-a-2d570c4e-0002-0001-0000-000013507185
  10. Zitat aus Spiegel-Artikel Fußnote 9
  11. https://www.bundesbank.de/resource/blob/689284/7410029db56fb56ea6ce81816f8017ee/mL/zahlungsbilanz-ddr-data.pdf
  12. Hermann Ploppa: Die Macher hinter den Kulissen – Wie transatlantische Netzwerke heimlich die Demokratie unterwandern. Frankfurt/Main 2014
  13. Wisnewski/Landgraeber/Sieker: Das RAF-Phantom – Wozu Politik und Wirtschaft Terroristen brauchen. München 1993. S.230ff.
  • Empfohlene Lektüre: Vladimiro Giacché: Der Anschluss – Die deutsche Vereinigung und die Zukunft Europas. Hamburg 2015

Bildquellen:

  1. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_183-1989-1104-437,_Berlin,_Demonstration_am_4._November.jpg
  2. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/35/Bundesarchiv_Bild_183-1986-0421-049%2C_Berlin%2C_XI._SED-Parteitag.jpg
  3. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_183-1989-1109-030,_Berlin,_Schabowski_auf_Pressekonferenz.jpg?uselang=de
  4. https://www.dekoder.org/de/article/1990er-bilder-alltag - © Eddi Opp/Kommersant, 1992 ©Vsevolod Tarasevich/МАММ/russiainphoto.ru
  5. https://de.rbth.com/geschichte/83200-saudi-arabien-oelpreise-sowjetunion
  6. https://www.bpb.de/internationales/europa/russland/47922/stagnation-entspannung-perestroika-und-zerfall-1964-1991
  7. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_183-1990-0713B-021,_Espenhain,_Braunkohleveredelungswerk.jpg
  8. https://www.ebay.de/itm/193492558098
  9. https://ia800705.us.archive.org/29/items/KatalogQuelle1980RFN/01.jpg
  10. https://www.planet-schule.de/wissenspool/alltag-in-der-ddr/inhalt/hintergrund/versorgung.html - ©Gerald Syring
  11. https://100jahre-hde.de/brd-und-ddr/
  12. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_183-1990-0226-315,_Leipzig,_Fr%C3%BChjahrsmesse,_Strau%C3%9F,_Honecker.jpg
  13. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_183-1990-0226-315,_Leipzig,_Fr%C3%BChjahrsmesse,_Strau%C3%9F,_Honecker.jpg
  14. https://www.ovb-online.de/rosenheim/landkreis/strauss-1983-schalck-zehn-jahren-gibt-keine-mehr-5483094.html - privat
  15. https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/deutsche-einheit/zeitung-enthuellt-koko-machenschaften-403798 - gemeinfrei
  16. https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/deutsche-einheit/zeitung-enthuellt-koko-machenschaften-403798 - gemeinfrei
  17. https://www.spiegel.de/spiegel/print/index-1983-31.html_Archiv
  18. https://www.wilsoncenter.org/blog-post/alexander-schalck-golodkowski-east-germanys-back-channel-negotiator-and-hard-currency
  19. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/17/Bundesarchiv_Bild_183-1989-1024-028%2C_10._Volkskammertagung%2C_Rede_Egon_Krenz.jpg
  20. https://www.wikiwand.com/de/Haus_am_Werderschen_Markt
  21. https://www.havemann-gesellschaft.de/19121989-demonstration-gegen-die-deutsche-einheit-in-ost-berlin/ - ©Andreas Kämper/RHG_Fo_AnKae_1591 - gemeinfrei
  22. Bundesarchiv, Bild 183-1989-1211-027 / CC-BY-SA 3.0
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  24. https://www.spiegel.de/spiegel/print/index-1990.html
  25. https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/kanzleramt/bundeskanzler-seit-1949/helmut-kohl - gemeinfrei
  26. https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/gorbatschow-in-bonn-gefeiert-389908 - gemeinfrei
  27. https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/338861/vor-30-jahren-gorbatschow-tritt-als-generalsekretaer-der-kpdsu-zurueck
  28. https://www.spiegel.de/spiegel/print/index-1990.html
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  31. https://www.bundespraesident.de/DE/Die-Bundespraesidenten/Horst-Koehler/horst-koehler-node.html - gemeinfrei
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  34. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_175-1990-0226-317-34781?cb=1632895605051
  35. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_176-1990-0226-319-34781?cb=1632895605051
  36. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/b3/Bundesarchiv_B_145_Bild-F088082-0031%2C_Birgit_Breuel.jpg
  37. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/7/77/Bundesarchiv_Bild_183-1990-1219-006%2C_Berlin%2C_Stahlwerker_protestieren_vor_Treuhandanstalt.jpg

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