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Wir haben es ja mit Erstaunen zur Kenntnis genommen: unsere Außenministerin Annalena Baerbock erklärte bei einem Kongress in Prag, dass sie auf jeden Fall und zu jeder Zeit und an jedem Ort zur Ukraine steht – „no matter what my German voters think“. Also: egal was meine deutschen Wähler davon denken. Sie sagte dann weiter, dass man sie ja dann bei der nächsten regulären Wahl auch ruhig abwählen könnte. Rein formal ist das das Wesen der repräsentativen Demokratie. Moralisch-ethisch und von der Idee der Demokratie her gesehen allerdings ist eine solche Einstellung eher sub-optimal. Frau Baerbock hat ja bereits als Austausch-Schülerin in den USA und dann später in den diversen transatlantischen Kaderschmieden das typisch anglo-amerikanische Selbstverständnis der politischen Eliten quasi mit der Muttermilch eingesogen und verinnerlicht. Für die angloamerikanischen Politik-Eliten ist es völlig klar, dass man sich als Abgeordneter ganz anders zu entscheiden hat als wie man das während des Wahlkampfs in seinem Wahlkreis versprochen hat. Denn in der Weltsicht angloamerikanischer Elitemenschen ist das gemeine Volk dumm und weiß nicht, was gut für es ist. Wer sich hier etwa dem Wählerwillen verpflichtet fühlt, ist nach über siebzig Jahren Zwangsamerikanisierung auch in Deutschland mittlerweile ein „Populist“.
Schauen wir einmal, was die großen Vordenker der angloamerikanischen Eliten so predigen.
Wenn zwei Leute das Wort „Demokratie“ in den Mund nehmen, so wollen sie womöglich etwas vollkommen Unterschiedliches damit zum Ausdruck bringen.
Demokratie in Mitteleuropa meint: alle Bürger einer Nation haben die gleichen Rechte. Sie haben den gleichen Zugang und die gleiche Teilhabe zu und an allen Einrichtungen. Sie haben freien Zugang zu allen Wissens- und Kulturgütern von allgemeiner Bedeutung. Politische Richtungsentscheidungen werden von Regierung, Parlament und Justiz getroffen, und zwar als Vollstrecker eines demokratischen Mehrheitswillens, der in freier und geheimer Wahl ermittelt wird. Die Macht ist aufgeteilt zwischen den drei Machtträgern und die drei Machtträger kontrollieren sich gegenseitig, damit kein Machtfaktor ausschert und eine Diktatur errichten kann.
Und da unsere Verfassung davon ausgeht, dass alle Bürger die gleichen Rechte haben, diese Bürger aber durchaus von ihren Anlagen her nicht alle die gleichen Chancen haben, diese Rechte auszuüben, sind ausdrücklich Vorkehrungen eingebaut, damit die Schwächeren vom Staat unterstützt werden, um ihre demokratische Teilhabe ausüben zu können. Das deutsche Steuerrecht regelt z.B., dass ein Teil der Steuereinnahmen dafür verwendet wird, die Schwachen mit Geldmitteln auszustatten, damit die Startvorteile und Privilegien der Reichen wenigstens ein bisschen ausgeglichen werden. Es ist erkennbar, dass Anspruch und Wirklichkeit bisweilen erheblich auseinanderklaffen. Aber das sind die Leitlinien, auf deren möglichst vollkommene Verwirklichung sich Verfassung und Mehrheitswille geeinigt haben.
Wer solche Positionen in den USA im frühen Zwanzigsten Jahrhundert vertritt, wird im besten Falle verlacht oder ignoriert. Meistens wird er als „Radikaler“ oder „Anarchist“ gebrandmarkt und hingerichtet, in Gefängnissen, Zuchthäusern oder Arbeitslagern interniert, oder aus den USA als „unamerikanisch“ deportiert. Erst mit dem Regierungsantritt von Franklin Delano Roosevelt im Jahre 1933 wird dieser Spuk wenigstens für einige Jahre beendet.
Nach dem Bürgerkrieg der Jahre 1861 bis 1865 versammelt eine kleine Elite immer mehr Macht. Die Eliten finanzieren ihre Privatuniversitäten, die so üppig ausgestattet sind, dass sie die besten Wissenschaftler und Meinungsmacher an sich binden können. Mächtige Stiftungen formen und: formieren die öffentliche Meinung nach ihrem Bilde. Und so sagt der US-amerikanische Vordenker Walter Lippmann, durchaus zustimmend:
„Die höchste soziale Sphäre besteht aus jenen, die die Führerschaft der Großen Gesellschaft verkörpern. So wie wiederum beinahe jede andere soziale Sphäre den Großteil seiner Meinungen aus erster Hand lediglich über lokale Angelegenheiten besitzt, so werden in dieser High Society die großen Entscheidungen getroffen über Krieg und Frieden, über die soziale Strategie und die letztendliche Verteilung politischer Macht; es sind vertraute Erfahrungen innerhalb eines Zirkels, also, potentiell zumindest, persönliche Bekanntschaften.“ <1>
Also: Weltpolitik auf dem Golfplatz.
Edward Alsworth Ross wiederum ist seit 1893 an der privaten Stanford-Universität als Professor tätig. Als er öffentlich Missstände im privat betriebenen Eisenbahnbau anprangert, wird er 1900 fristlos entlassen. Denn Universitätsbesitzerin Jane Lothrop Stanford verfügt über Anteile an der berühmten Union Pacific Railroad-Eisenbahngesellschaft. Im Gegensatz zu vielen anderen Fällen von Willkür an privaten Universitäten schlägt die Entlassung von Ross hohe Wellen. Stanford-Professoren kündigen und eine öffentliche Debatte über die Freiheit der Wissenschaft wird entfacht.
Ross ergreift immer wieder Partei für die Facharbeiter in den USA. Er fordert eine gerechtere Verteilung des Reichtums. Er warnt vor zu großer Macht der Monopole. Ein Demokrat ist er deswegen nicht. Vielmehr verkörpert Ross in seiner Mischung aus sozialer Rhetorik, Ausländerhass, eugenischem Rassismus, Antisemitismus und autoritärem Gesellschaftskonzept eine frühe Form des korporatistischen Faschismus. Vielleicht ist das der Grund, dass viele US-amerikanische Lexika unserer Zeit den Soziologen E.A. Ross nicht einmal erwähnen, obwohl er „der führende öffentlich wirksame Intellektuelle seiner Zeit“ <2> gewesen ist.
Ross schrieb Bestseller mit so schönen Namen wie: „The Causes of Racial Superiority“ (1901) oder „Social Psychology“ (1908). Oder auch: „Social Control“ aus dem Jahre 1901 <3>. Die dort vertretenen Thesen sind so delikat, dass in den 1950er Jahren eine stark zensierte Version von „Social Control“ veröffentlicht wurde, auf die erst in den Siebziger Jahren wieder eine vollständige Ausgabe folgte.
Das macht uns natürlich neugierig.
In „Social Control“ erörtert Ross die verschiedenen Methoden, wie man die Volksmassen zur Räson bringen kann. Und bei aller Grobheit seiner Worte ist seine Denkungsart durchaus subtil und nuanciert. Der Macht des nackten Knüppels oder den transzendentalen Drohungen der Kirche traut er keine nachhaltige Disziplinierungskraft zu. Ross setzt eher auf die raffinierte Beeinflussung der Massen, die nicht bewusst wahrgenommen wird; eine im Menschen verinnerlichte Kontrolle – Social Suggestion; eine subtile Einflüsterung: „... die überlegenen Methoden der Kontrolle liegen innen.“ Eine anspruchsvolle Aufgabe, die nur von einer kleinen Elite durchgeführt werden kann.
„Überzeugung ist nichts anderes als die Kunst, unwillkommene Ideen in den Geist eines Menschen einzuführen, und zwar in so angenehmer Weise, dass nicht der Wille geweckt wird, diese Idee schnell auszuscheiden.“ „Die Meister der Überredung kennen den Wert der Augenblicke, wenn die Abwehrkräfte schwach sind ... die meisten Erwachsenen bewahren eine Ansprechbarkeit auf Hinweise von außen, auf die man zählen kann bei der sozialen Steuerung des Verhaltens.“
Abschirmung vor konkurrierenden Massenflüsterern tut not:
„Der Politiker weiß, dass wenn viel Dreck geworfen wird, zumindest etwas hängen bleibt ... Die Macht der Suggestion ist weitgehend abgeschwächt, wenn sie auf Gegen-Suggestionen trifft, die es bremsen und absperren. Von daher kommt es auf soziale Suggestion an, die vor Widerspruch abgeschirmt ist, die den individuellen Willen brechen kann ... Von daher stammt ihre Macht; Menschen zur Uniformität zu reduzieren, so wie eine Dampfwalze Schottersteine zu einem geschmeidigen Asphaltboden reduziert. Mr. Bryce hat das den ‚Fatalismus der Masse’ genannt und aufgezeigt, dass es sich hier um etwas vollkommen anderes handelt als die Tyrannei der Mehrheit.“
Es kann nach Ross nicht angehen, dass der gemeine Pöbel Einblick bekommt in die Kochbücher der weisen Eliten:
„In einem homogenen Volk, das sich auf einem gehobenen und soliden Niveau moralischer Überlieferung befindet, ist es leicht machbar, dass die Ausführenden der Kontrolle – Lehrer, Geistliche, Polizei und öffentliche Strafverfolgungsbehörden – die Wünsche und Gefühle der Gemeinschaft berücksichtigen, in der sie arbeiten. Das heißt: gib Platz und lass gehen nach dem Willen der Leute. Aber alle großen zivilisierenden und das Niveau anhebenden Aufgaben müssen auserwählten Männern anvertraut werden, die abseits des Volkes organisiert sind, und die ihre Anweisungen von einer zentralen unabhängigen Quelle erhalten. Missionsleitungen im Auslandseinsatz sehen es als klug an, die eingeborenen Arbeiter verantwortlich zu machen gegenüber den Missionaren, und nicht gegenüber ihren eingeborenen Herden.“
„Das Geheimnis der Ordnung ist nicht geeignet, von jedem Dach ausposaunt zu werden. Der weise Soziologe ... wird das moralische System zu sehr verehren, als dass er es in seiner Nacktheit enthüllt. Er wird zu Erwachsenen sprechen, nicht zur Jugend. Er wird nicht dem ‚Personal’, dem Penner oder dem Gefängnisinsassen erklären, wie sie verwaltet werden. Er wird sich an jene wenden, die mit dem moralischen Kapital der Gesellschaft umgehen – Lehrer, Kirchenleute, Verleger, Abgeordnete und Richter, die die Instrumente der Kontrolle handhaben; zu Dichtern, Künstlern, Denkern und Erziehern, die die menschliche Karawane durch die Wüste führen. Auf diese Weise wird er sich selber zum Mitstreiter aller guten Männer machen, um alle schlechten Männer zu beseitigen. Es bleibt, von daher, der Starke Mann, vor dem die Ergebnisse unserer Erörterung nicht verborgen bleiben können. Das ist es, was jene Leute von geringem Glauben ärgert.“
Es folgen einige Absätze, die noch kryptischer und bedrohlicher klingen als die oben angeführten Sätze.
Es ist der „geborene Führer“, auf den alles zusteuert. Ihm ebnen wir den Weg, ihm wollen wir aus tiefster Natur blind folgen:
„Dass das Erscheinen eines bestimmten außergewöhnlichen Mannes den Drang zum Gehorchen auslöst, ist so naturgegeben wie der Drang eines Spaniels, die Stiefelabsätze seines Herrn zu beschnuppern.“
Ein noch viel einflussreicherer Wissenschaftler war Nicholas Murray Butler. Butler hat in seinem Leben die private New Yorker Columbia University als deren Präsident aus einem Mauerblümchendasein unter die Top Ten der US-Universitäten gebracht. Er begründete die Zeitschrift „Educational Review“. Vor allem aber überredete er den Stahlmagnaten Andrew Carnegie, das Friedensinstitut Carnegie Endowment zu gründen. So wurde Butler von 1925 bis 1945 Vorsitzender der Carnegie Endowment.
Nebenbei mischte Butler als ein Viertel des Republikaner-Quartetts Theodore Roosevelt, Elihu Root und William Howard Taft die Parteikonvente mächtig auf. Etliche Male bewarb sich Butler erfolglos für eine Präsidentschaftskandidatur. Den Friedensnobelpreis bekam Mister Butler auch noch. Butler war überhaupt derart mit Ehrenämtern und Auszeichnungen überhäuft, dass er gar nicht mehr dazu kam, irgendetwas Originelles hervorzubringen. Das hatte zur Folge, dass er nach seinem Ableben komplett dem Vergessen anheimfiel, was, wie die New York Times im Jahre 2006 mutmaßte, seiner „Vacuity“, also seiner inneren Leere, geschuldet sein könnte <4>.
Butler war nichtsdestoweniger der Inbegriff des paternalistischen Elitemenschen.
Und die oben schon erwähnte New York Times vom 22.1.2006 weiß von einer „Verknalltheit“ Butlers in Mussolini zu berichten, den er häufig zu besuchen pflegte. Doch lassen wir Seine Exzellenz selber zu Worte kommen. Zwei der unzähligen Reden des Lorbeerbekränzten sind in dem Band „True and False Democracy“ 1907 veröffentlicht worden zur Belehrung und sittlichen Erhebung der nachwachsenden Eliten <5>. Und Butler singt das Hohelied der segensreichen sozialen Ungleichheit:
„Gerechtigkeit verlangt Ungleichheit als eine Bedingung von Freiheit und als ein Mittel, jeden zu belohnen entsprechend seiner Verdienste und Leistungen.”
Auch die US-Verfassung kennt das Prinzip der Gewaltenteilung, der Checks and Balances als Schutzmechanismus gegen Diktatur. Nun hält aber Butler, wie fast alle seine Zeitgenossen aus der Elite, das Parlament für überflüssig, es sei denn, der Abgeordnete emanzipiert sich von seinen Wählern:
Der Abgeordnete ist kein Erfüllungsgehilfe seiner Wähler: „... sondern derjenige, der sich zum vollen Status politischer Mannhaftigkeit aufgeschwungen hat, nimmt keine Anweisungen entgegen, sondern bietet Anleitung.“ „Wir Amerikaner wissen zu gut, dass echte Führerschaft in einem demokratischen Staat möglich ist, und dass eine Aristokratie der Intelligenz und des Dienstes in einer Demokratie errichtet werden kann...“
Aber eigentlich kann man auch ruhig ganz auf das Parlament verzichten:
„Es sind in erster Linie der Präsident und der Höchste Gerichtshof, die den Geist des Volkes am perfektesten zum Ausdruck bringen, und die in gesprochenem und geschriebenem Wort, im Verwaltungsakt und in richterlicher Entscheidung den Willen des gesamten Volkes ausdrücken.“
Der moderne Präsident sollte völlig absolutistisch regieren dürfen:
„Wenn er einmal gewählt ist, schuldet er dem Kongress keine Verantwortlichkeit, sondern nur dem Volk der Vereinigten Staaten ganz alleine.“
Eine sehr eigenwillige Auslegung der Beziehung von Legislative und Exekutive. Der Staat muss endlich effizient geführt werden wie ein moderner Konzern:
„Deswegen ... wird Demokratie genau die Arbeitsweisen und Mittel anwenden, die jedes Geschäftsunternehmen einsetzt, um ähnliche Ziele zu erreichen.“
Die Verschmelzung von Konzernen und Staat schlägt hier schon um in eine feindliche Übernahme des Staates durch die Konzerne. Und es kann nicht angehen, dass in einer modernen Demokratie jeder Hinz und jeder Kunz sich einbildet, er könne jedes Staatsamt übernehmen:
„Am wenigsten kann eine Demokratie auf Erfolg hoffen ohne eine eigene Elite“ „Der Dreh- und Angelpunkt der Demokratie ist die naturgegebene Ungleichheit; ihr Ideal die Auslese der Geeignetsten.“ „Freiheit ist weit wertvoller als Gleichheit, und die beiden zerstören sich gegenseitig.“ „Die primitive und verhängnisvolle Ansicht, dass jeder Bürger genauso geeignet ist für ein öffentliches Amt, ist kein Glaubenssatz der Demokratie, sondern der Ochlokratie, also der Herrschaft des Mobs.“
Nun sorgen die – für unser Verständnis befremdlichen – Wahlsysteme der USA und Großbritanniens tatsächlich dafür, dass für alle Zeiten immer nur zwei Parteien im Parlament sitzen und sich in der Regierung abwechseln, und dabei eigentlich immer dieselbe Politik machen, nur in Akzenten unterschiedlich, je nach Wählermilieu. Etwas Besseres kann es doch neben der Diktatur gar nicht geben, meint Butler:
„Sein Einfluss in der Prägung, Steuerung und im Ausdruck der öffentlichen Meinung ist außerordentlich ...“
Der zweifellos intelligenteste und belesenste Kopf der antidemokratischen Eliten gehört jedoch Walter Lippmann. Lippmann ist der Chefideologe, dem die Eliten moderne Konzeptionen zur Modellierung der öffentlichen Meinung und moderner Macht-Technologie verdanken. Was Taylor für die Verwissenschaftlichung des Arbeitsprozesses, das ist Lippmann für die Verwissenschaftlichung der Massenmanipulation.
Für Lippmann ist Platons Gelehrtenrepublik, die jener in seinem Werk „Politeia“ darlegt, das Vorbild effizienter Regierung <6>. Platon hatte die Utopie eines Staates entworfen, in dem über der großen Masse der Arbeitssklaven eine Krieger- und eine Handwerkerkaste stehen. Über allen thront eine Kaste von Philosophen, die das alleinige Sagen hat. Das ist genau das, was in den USA weiterhilft, meint Lippmann. Das Volk hat gar nicht den Sachverstand, um in allen wichtigen Fragen mitentscheiden zu können. Leute, die sich pro Tag nicht mehr als fünfzehn Minuten Zeit nehmen, um die Zeitung durchzublättern, können doch nicht wissen, welches die besten Maßnahmen sind, um die Währung abzustützen. Aber auch die Parlamentarier sehen sich nur als Vertreter ihres Wahlkreises. Von Außenpolitik haben die keine Ahnung. Und trotzdem wollen die da auch mitentscheiden.
Es müssen Politik- und Sozialwissenschaftler her, die die immer komplexer werdende Masse an Informationen verdauen, und dann sowohl die Politiker wie das Volk nicht nur beraten, sondern alles entscheiden. Den Ministerien sollen Politikberater beigeordnet werden, die die Exekutive beaufsichtigen und beraten. Diese Aufpasser sollen von der freien Wirtschaft bezahlt werden, damit sie in ihrem Urteil von der Regierung unabhängig bleiben. Das Volk braucht dann bloß noch „Ja“ oder „Nein“ sagen, so etwa wie bei der Entscheidung, ob man eine Ware kauft oder nicht:
„Die Grenze direkter Aktion ist für alle praktischen Zwecke die Macht, Ja oder Nein zu sagen zu einer Frage, die der Masse präsentiert wird.“ <7>
Die neue Philosophenkaste regelt alles für das kindliche Volk:
„Das gemeinsame Interesse kann nur verwaltet werden durch eine spezialisierte Klasse, deren persönliche Interessen über lokale Grenzen hinausgehen. Diese Klasse ist nicht rechenschaftspflichtig, denn sie handelt aufgrund von Informationen, die nicht Gemeineigentum sind, in Situationen, die die Öffentlichkeit im großen Zusammenhang nicht begreift, und diese Klasse kann nur zur Verantwortung gezogen werden, nachdem die Tatsachen vollzogen sind.“
Aber keine Angst! Die neuen Berater wollen doch nur Gutes!
„Der Zweck ... ist nicht, jeden Mitbürger mit Expertenmeinungen zu allen möglichen Fragen zu belasten, sondern ihm diese Bürde abzunehmen hin zum verantwortungsbewussten Verwalter.“
Augenblicklich befinden wir uns noch in der Situation, dass die Volksvertreter und die Regierung von der Fiktion ausgehen, die Leute da unten wollten überhaupt mitbestimmen:
„Die Männer, die aktuell gerade die Macht ausüben, scheitern nicht bloß, wenn sie den Willen des Volkes ausdrücken wollen, weil in den meisten Fragen überhaupt kein Wille existiert, sondern sie üben Macht aus nach Maßgabe von Meinungen, die der Wählerschaft verborgen sind.“
Kurz und gut: Walter Lippmann, der brillante Denker, der die progressive Zeitschrift The New Republic mitbegründet hat, hält es, wie alle seine Standesgenossen aus der ersten Reihe der US-Intelligenzija mit dem Motto des Firmenpatriarchen Krupp: alles für das Volk – nichts durch das Volk. Das ist auch bei den Intellektuellen in Großbritannien eine so selbstverständliche Grundlage aller gesellschaftspolitischen Überlegungen.
Es bleibt leider festzuhalten: der Versuch, in den ersten beiden Jahrzehnten des Zwanzigsten Jahrhunderts einen US-Intellektuellen aus der ersten Reihe anzutreffen, der sich für echte Demokratie stark macht, die die Mitsprache der Gesamtheit der mündigen Bürger vorsieht, ist genauso aussichtsreich wie in der Lüneburger Heide einer weißen Giraffe zu begegnen. Alle Spitzenintellektuellen der USA sind sich damals vollkommen einig, dass das Volk von einer kleinen Elite mit harter Hand geführt werden muss. In einem autoritären Regierungssystem.
Man hofft auf den charismatischen Führer, dessen Stiefelabsätze das Volk beschnuppern darf.
Wundern Sie sich also nicht, wenn unsere Politiker in aller Öffentlichkeit plappern, dass für sie das Wählervotum nichts gilt. Ärgern Sie sich nicht. Mischen Sie sich stattdessen ganz frech in das politische Geschäft ein. Anderenfalls müssen die weisen Elitemenschen leider weiter nachdenken, was für Sie gut ist.
Wir lernen aus der Vergangenheit, wie wir die Zukunft besser machen.
Quellen und Anmerkungen:
<1> Walter Lippmann: Public Opinion. New York 1921. Als pdf-Datei verfügbar, allerdings ohne Seitenzählung. Von daher auch in diesem Aufsatz ohne Seitenangabe.
<2> Thomas C. Leonard: Eugenics and Economic in the Progressive Era. O.J. S.697
<3> E.A. Ross: Social Control – A Survey of the Foundations of Order. Hier in der englischen Ausgabe von 1901.
https://archive.org/details/socialcontrolas04rossgoog
<4> https://www.nytimes.com/2006/01/22/books/review/an-empty-robe.html
<5> https://openlibrary.org/works/OL1110094W/True_and_false_democracy
<6> http://opera-platonis.de/Politeia.pdf
<7> siehe Fußnote <1>
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