Herzlich willkommen zu einer neuen Folge von HIStory!
Mein Name ist Hermann Ploppa. Wir sehen vor uns die schwere Krise in Palästina. Wir sehen, wie ein Nationalstaat Israel unter dem Vorwand, gefährliche Terroristen zu bekämpfen, die Palästinenser immer mehr aus dem israelischen Territorium verdrängt. Immer mehr wird deutlich, dass der Nationalstaat Israel nur noch Juden als rechtmäßige Bewohner Palästinas akzeptiert.
Eine derart rigide Politik setzt voraus, dass es ein homogenes Staatsvolk der Juden oder Israeliten gibt. Diese Grundannahme ist aber sogar in Israel selber alles andere als unumstritten. Immer deutlicher treten die Konflikte zwischen verschiedenen Einwanderergruppen der Juden aus den unterschiedlichen Regionen dieser Welt hervor. Der Unterschied zwischen Einwanderern aus Europa, aus Asien, aus Afrika ist nicht zu übersehen. Es kommt zu Spannungen zwischen ethnischen Einwanderergruppen, die sich kulturell stark voneinander unterscheiden. Im offiziellen Verständnis haben sich diese Unterschiede im Laufe der Jahrhunderte und gar Jahrtausende herausgebildet durch die Assimilation an die jeweiligen Kulturen der Weltregionen, in denen sich die Juden angesiedelt haben. Aus einem einheitlichen Volk seien im Exil der so genannten Diaspora unterschiedliche Varianten entstanden. Nun würden sie sich im neuen Heimatland Israel wieder zusammenfinden.
Stimmt dieses Narrativ? Immer wieder hat es darüber auch in Israel selber kontroverse Diskussionen gegeben. Könnte es denn nicht auch sein, dass jüdische Missionare in die Welt ausgeschwärmt sind und andere Völkerschaften zum jüdischen Glauben bekehrt haben? Diese Annahme widerspricht dem offiziellen Narrativ des Staates Israel, dass es sich bei den heute in Israel lebenden Juden um die Nachfahren jener Juden handelt, die dereinst aus Palästina vertrieben wurden. Daraus leitet sich die Theorie einer ethnischen und rassischen Homogenität ab. Daraus leitet sich auch das Vorrecht eines den anderen Völkern überlegenen Herrenvolkes ab. Das äußert sich unter anderem in Gesetzen, die es israelischen Juden untersagen, Palästinenser zu heiraten <1>. Radikal-orthodoxe Juden verdrängen Palästinenser gewaltsam von ihren Wohnorten mit der Begründung, sie selber hätten das alleinige Wohnrecht in diesen Regionen, weil vor zwei Jahrtausenden ihre Vorfahren dort gelebt hätten.
Was aber ist nun, wenn die Erzählung von der Homogenität des heutigen jüdischen Staatsvolks in Israel gar nicht stimmt? Wenn also die jüdischen Einwanderer nach Palästina gar nicht die Nachkommen der einstmals angeblich aus Palästina vertriebenen Juden sind? Wenn es diese Massenvertreibung der Juden gar nicht gegeben hat. Und womöglich gar die jetzt von den radikal-zionistischen Juden vertriebenen Palästinenser selber die Nachkommen der antiken Juden sind? Wenn in letzter Konsequenz also missionierte Neu-Juden die zum Islam konvertierten ehemaligen Israeliten vertreiben und ermorden?
Kaum ein anderer Staat auf dieser Welt kann auf eine derart vielschichtige Vorgeschichte verweisen wie der fünfundsiebzig Jahre alte Nationalstaat Israel. Ob in Verfassung oder in der Unabhängigkeitserklärung; ob im Kanon für den Geschichtsunterricht; ob an den speziell eingerichteten Universitätsfachbereichen für jüdische Geschichte: überall wird die Erzählung gepflegt von dem homogenen jüdischen Volk, das nach dem Auszug aus Ägypten die phantastischen Königreiche von David und Salomo erschaffen hat; das auch die Verbannung nach Babylon überstanden hat. Und das nach den Aufständen im Jahre 70 nach Christus von den Römern in alle Welt verstreut wurde. Und das in der so genannten Diaspora zusammengehalten hat, um eines Tages in das Gelobte Land nach Palästina zurückkehren zu können. Ein in alle Winde zerstreutes Volk, das als erstes Volk der Weltgeschichte vollständig alphabetisiert war. Und das seine Identität in den jüdischen Enklaven im Exil durch eifrige Bibelstudien und strenge Beachtung von Ritualen durch die Jahrtausende bewahrt hat.
Nach dem Holocaust hätte sich das homogene jüdische Volk endlich wieder in seiner legitimen Heimat versammeln können zu einem Nationalstaat. So formuliert die israelische Unabhängigkeitserklärung von 1948: „Im Lande Israel entstand das jüdische Volk. Hier prägte sich sein geistiges, religiöses und politisches Wesen. Hier lebte es frei und unabhängig. Hier schuf es seine nationale und universelle Kultur und schenkte der Welt das Ewige Buch der Bücher. Durch Gewalt vertrieben, blieb das jüdische Volk auch in der Verbannung seiner Heimat in Treue verbunden. Nie wich seine Hoffnung. Nie verstummte sein Gebet um Heimkehr und Freiheit. Beseelt von der Kraft der Geschichte und Überlieferung, suchten Juden aller Generationen in ihrem alten Lande wieder Fuß zu fassen.“ <2>
Nun sorgte allerdings der Historiker Shlomo Sand von der Universität Tel Aviv vor wenigen Jahren mit einem provozierenden Buch für lebhafte bis heftige Diskussionen. Denn das Werk mit dem provokanten Titel „Wie das jüdische Volk erfunden wurde“ stand im Jahre 2010 lange Zeit auf den Bestsellerlisten in Israel <3>. Sand zerpflückt alle oben genannten nationalen Schöpfungsgeschichten Israels und verweist sie in das Reich der Mythologie.
Die Reaktionen in der israelischen Öffentlichkeit bestanden nicht immer aus wohlwollender Aufgeschlossenheit. Rollkommandos versuchten Shlomo Sands Vorlesungen zu sprengen. Drohbriefe und Beschimpfungen gehören zum Alltag des unerschrockenen Geschichtsforschers. Shlomo Sand wurde 1946 im österreichischen Linz als Sohn polnischer Holocaust-Überlebender geboren, und hatte sich bereits in den Sechziger Jahren Organisationen der Neuen Linken in Israel angeschlossen, die dem Zionismus kritisch gegenüberstanden. Als Professor in Tel Aviv und Paris ist Sand eigentlich Experte für moderne europäische Geschichte, mit Schwerpunkt Frankreich. Seinen Ausflug in die israelische Geschichte hat er sich aufgespart, bis er unkündbarer Ordinarius geworden ist. Denn, so Sand: „Man muss in der israelischen akademischen Welt für Ansichten dieser Art einen Preis bezahlen.“ <4>
Je tiefer der Historiker aus Tel Aviv sich in die altertümlichen Quellen hineinarbeitete, um so mehr erstaunte ihn, wie wenig Schöpfungsgeschichten des Volkes Israel durch Dokumente zu belegen sind. Das fängt an mit der biblischen Geschichte vom Auszug der versklavten Israeliten unter Moses aus Ägypten ins Gelobte Land. Dieser im 13. Jahrhundert vor Christus verortete Exodus ist durch keinerlei ägyptische Chroniken belegt, und das Gelobte Land gehörte damals bereits zum Verwaltungsgebiet Ägyptens. Auch für die Existenz der goldenen Königreiche Davids und Salomos finden sich keine archäologischen Belege.
Im Jahre 70 nach Christus fanden Aufstände fundamentalistischer jüdischer Sekten gegen die römische Besatzungsmacht statt. Für die im Narrativ der Juden berichtete Vertreibung und Verstreuung der Juden aus Palästina in alle Himmelsrichtungen fehlen ebenfalls historische Belege, urteilt Sand. Denn um ein ganzes Volk zu vertreiben, fehlten schlicht die Mittel.
Die Römer haben keine Völker ins Exil getrieben, und sie konnten es auch gar nicht. Sie verfügten nicht über Eisenbahnen und Lastwagen, um ganze Volksgruppen deportieren zu können.
Gleichermaßen pointiert wie provozierend stellt der Historiker Shlomo Sand die aufrüttelnde Frage in den Raum: Sind womöglich die Palästinenser die legitimen Nachkommen der Israeliten?
Denn bis auf die Anführer des Aufstandes aus dem Jahre 70 vor Christus könne niemand außer Landes geschafft worden sein. Die allermeisten Juden waren bodenständige Bauern, die unter fremder Oberherrschaft im Lande blieben. Später hätten sie den islamischen Glauben angenommen und sich mit anderen Völkern vermischt. Die Nachkommen der bodenständigen Juden wären somit heutzutage die Bewohner, die von den israelischen Neusiedlern an den Rand gedrängt worden sind – also die Palästinenser in Israel, im Gazastreifen oder im Westjordanland!
Die Neusiedler, die die Staatsbevölkerung des modernen Nationalstaates Israel ausmachen, haben mit den antiken Israeliten nichts zu tun, schlussfolgert von daher Shlomo Sand. Die Neusiedler sind die Nachfahren jüdisch missionierter Völker. Denn zwischen dem ersten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung und dem vierten Jahrhundert nach Christus schwärmten jüdische Missionare in alle Regionen des Mittelmeerraumes aus. Neben unzähligen jüdischen Minderheitsgemeinschaften wurden ganze Königreiche zum Judentum bekehrt. Zu nennen sind hier beispielsweise das Reich Himya im Gebiet des heutigen Jemen. Ein anderes Königtum befand sich auf dem Gebiet des heutigen Kurdistan.
Im sechsten nachchristlichen Jahrhundert entstand im Maghreb ein jüdisch bekehrtes Berberreich, dessen Überreste in den folgenden Jahrhunderten die iberischen Khalifate wesentlich beeinflusst haben. Ungefähr zur selben Zeit übernahm das halbnomadische Turkvolk der Khasaren den mosaischen Glauben. Das Khasarenreich erstreckte sich über das Gebiet der heutigen Ukraine. Als die Mongolen das Reich der Khasaren auslöschten, vermischten sich die Khasaren mit ebenfalls jüdisch missionierten Slawen und deutsch-jüdischen Flüchtlingen der Pogrome von Mainz und Worms. Die ostjüdischen „Schtetl“-Bewohner sind also ebenso wenig Nachkommen einer jüdischen Diaspora aus Palästina wie die iberischen Sepharden oder die mosaischen Jemeniten, befindet Sand.
Diese Sachverhalte waren früheren Generationen von Judaisten durchaus bekannt. Sogar führende Zionisten verschwiegen nicht, dass die Palästinenser die Nachkommen der Israeliten seien. Yitzhak Ben-Zvi, später zweiter Präsident der Republik Israel, äußerte im Jahre 1929: „... die überwältigende Mehrheit der Kleinbauern haben ihren Ursprung nicht bei den arabischen Eroberern, sondern eher, vor diesen, in den jüdischen Bauern, die reich an Zahl waren und die Mehrheit beim Aufbau des Landes stellten.“ Ähnliches hörte man damals von David Ben Gurion.
Der im Neunzehnten Jahrhundert aufkommende Nationalstaatsgedanke führte auch im zionistischen Denken zu einer Neuorientierung. Denn dass die Khasaren im ethnischen Sinne keine Juden waren, gehörte im Neunzehnten Jahrhundert zum Allgemeinwissen.
Als in Deutschland noch jüdische Gelehrte wie Isaak Markus Jost (1793-1860) oder Leopold Zunz (1794-1886) Einfluss ausübten, galt das Judentum eindeutig als ein rein religiöses Phänomen. Als jedoch in Deutschland der Nationalismus an Boden gewann, begann sich auch in der jüdischen Gemeinschaft die Akzentuierung zu verschieben. In Deutschland formierte sich der Nationalstaatsgedanke, der untrennbar mit einer führenden, homogenen Herrenrasse verbunden sein sollte. Das war die Zeit des Germanenkults. In den USA formierte sich entsprechend die Auffassung, die nationale Herrenrasse in Nordamerika sei die Nordic Race, bestehend aus blonden, blauäugigen Nachkommen der Engländer, Deutschen und Skandinavier. Diese von Madison Grant formulierte Auffassung floss ein in die Einwanderungs-, Sterilisierungs- und Heiratsverbotsgesetze der USA <5>.
Jene Radikalisierung des Nationalstaatsgedankens, die in ihrer ethnischen Dimension so in Frankreich nicht vollzogen wurde, führte auch in der zionistischen Gemeinschaft zu einer Neuorientierung. Der jüdische Historiker Heinrich Graetz (1817-1891) deutete in Abgrenzung zum preußischen Historiker Heinrich von Treitschke das Judentum nicht mehr als ein rein religiöses Netzwerk, sondern zunehmend als nationalistische Bewegung.
Shlomo Sand unterstellt den zionistischen Siedlern in Israel ganz unverblümt, dass sie ihre kolonialistischen Motive der Landnahme mit dem Konstrukt eines vertriebenen, nun heimkehrenden Volkes rechtfertigen würden. Er schreibt dazu in seinem Buch:
„Die Enthüllung, dass die Juden nicht aus Judäa stammen, würde offensichtlich die Rechtmäßigkeit unseres Hierseins unter unseren Füßen wegziehen. Seit Beginn der Dekolonisierung konnten Siedler nicht einfach bloß sagen: Wir kamen, wir gewannen, und jetzt sind wir hier, in der Weise, wie die Amerikaner, die Weißen in Südafrika und die Australier verkündeten.“ <6>
Besorgt konstatiert Sand einen seit den sechziger Jahren stärker werdenden Biologismus in der israelischen Debatte über ein angebliches jüdisches Nationalvolk: „Die ‚Herkunft der Völker’ ist inzwischen ein akzeptiertes und beliebtes Forschungsfeld der Molekularbiologie.“ Die offiziell festgeschriebene Definition der israelischen Demokratie als „jüdisch“ hindert jedoch mindestens ein Fünftel der Staatsbürger daran, sich mit Israel zu identifizieren. Hier wird eine Spannung vorprogrammiert, und es ist fraglich, ob der kleine Staat Israel diese Spannungen dauerhaft aushalten kann. Folglich fordert Sand eine Umformulierung der israelischen Verfassung:
„Im israelischen Diskurs über die Wurzeln liegt ein gewisses Maß an Perversion. Es handelt sich um einen ethnozentrischen, biologischen und genetischen Diskurs. Aber Israel verfügt über keine Existenz als jüdischer Staat: wenn Israel nicht eine offene, multikulturelle Gesellschaft wird, dann erleben wir ein Kosovo in Galiläa. Das Bewusstsein vom Anrecht auf diesen Platz muss flexibler und variantenreicher sein, und wenn ich mit meinem Buch zu der Aussicht beigetragen habe, dass ich und meine Kinder in der Lage sein werden, mit den anderen Gruppen hier im Lande in einer gleichberechtigteren Situation zusammen zu leben, dann habe ich mein Scherflein dazu beigetragen.“ <7>
Wir lernen aus der Geschichte, wie wir die Zukunft besser machen.
Quellen und Anmerkungen
<1> https://www.sicht-vom-hochblauen.de/israelisches-heiratsverbot-selbst-fuer-apartheid-suedafrika-zu-rassistisch-von-ali-abunimah/ <2> https://embassies.gov.il/berlin/AboutIsrael/Dokumente%20Land%20und%20Leute/Die_Unabhaengigkeitserklaerung_des_Staates_Israel.pdf <3> Shlomo Sand: Die Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand. Berlin 2010. <4> https://www.hagalil.com/2010/10/sand-4/ <5> Hermann Ploppa: Hitlers amerikanische Lehrer – Die Eliten der USA als Geburtshelfer des Nationalsozialismus. Marburg 2016. <6> Shlomo Sand, Erfindung, S. <7> siehe FN <5> Bildquellen: https://commons.wikimedia.org
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