Ein Meinungsbeitrag von Dirk C. Fleck.
Ich bin nicht so frei, dass ich verloren bin. Das hast du mir vor Jahren gesagt und gelacht. Vermutlich hast du mich ausgelacht, als du meinen von Ratlosigkeit geprägten Gesichtsausdruck gesehen hast. Danke für die Texte, die du mir damals überlassen hast. Ich habe sie wiedergefunden und endlich gelesen, werde es wohl noch öfter tun. Es ist so viel Einsicht in deinen Worten, durchsetzt mit schmerzhaften Schreien, ausgestoßen auf der harten Matratze der Hilflosigkeit. Mein Herz hat sich an manchen Stellen regelrecht zusammengekrampft.
Im Nebel der Zukunft sehen wir manchmal Bilder, die uns eine Vorstellung (Ahnung) von Verhältnissen geben, die auf der Warterampe zur Wirklichkeit stehen. Da kann einem der Schrei, wie in deinen Texten geschehen, schon mal in der Kehle stecken bleiben:
"Es bebt wieder. Etwas fern bewegt es sich und ist doch nah genug, um das Knieschlottern unserer kollektiven Sippe zu vernehmen. Es scheint so, als würde ich mich am liebsten für jedes Kind vor ein fahrendes Auto schmeißen wollen, um diese Hölle abwenden zu können."
Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns“, hat Kafka gesagt. Du hältst diese Axt in Händen.
„Wir reißen das Theater ab! Wir denken nicht mehr, wir wollen Hände und Umarmungen. Wir wollen uns auf den Boden schmeißen und uns lieben, die Häftlinge aus den Anstalten stürmen lassen. Lasst uns atmen, geben wir uns hin. Wir bitten um den Wahnsinn des Wahnsinns wegen.“
Ich möchte deinen wilden Notizen noch einige andere Sätze entnehmen, die mich angerempelt haben. Die Beschreibung deiner selbst zum Beispiel:
„Ich helfe nicht. Ich bin ein Gewissen.
Ich fühle so tief, als würde es weh tun zu leben.
Ich melde mich IMMER.
Ich bin Richtig und Falsch und ich bin Jetzt.
Ich bin alles, was SIE gesehen haben.
Ich bin Ihre Erfahrung.“
Und du fügst hinzu: „Man hat mich hier bewusst versteckt, hab mich entdeckt.“
In meinem Roman „Feuer am Fuss“ gibt es ein Kapitel, das von dem Besuch meines Protagonisten bei einem japanischen „Pflanzenflüsterer“ berichtet. Ich komme darauf, weil du etwas sehr Pflanzliches an dir hast. Du atmest anders, speicherst anders, sonderst anders ab. Hier ein Auszug aus dem Kapitel:
„Kobayashi forderte seinen Gast auf, ihn in das Gewächshaus zu begleiten. Die etwa zwanzig Quadratmeter große Bodenfläche war mit geharktem Kies bedeckt, ausgenommen die kreisrunde Humusschicht in der Mitte, in der ein Pfirsichbaum stand, dessen aufrechter und symmetrischer Wuchs beeindruckte. In den Ecken befanden sich leistungsfähige kleine Boxen. An der gegenüberliegenden Wand stand ein Mischpult, sowie mehrere Monitore und Tastaturen, die mit dem Baum durch eine Reihe dünner Kabel Verbindung hatten, deren Elektroden sowohl im Astwerk als auch am Stamm befestigt waren.
„Ich habe ein Programm entwickelt, das die elektromagnetischen Schwingungen dieses Baumes in Musik umsetzt“, bemerkte der Professor und begab sich ans Mischpult. Ein wabernder, an- und abschwellender Ton begann den Raum zu füllen. Cording schloss die Augen und ergab sich dieser Sphärenmusik in Moll, in die sich plötzlich Töne mischten, die er zuvor noch nie vernommen hatte. Dies war kein Klagelied, eher ein melancholisches Klanggedicht, das sich nicht in Noten fassen ließ. Nach einer Weile, in der die Zeit still zu stehen schien, schaltete der Japaner den Computer aus.
„Er kann auch schreiben“, sagte Kobayashi. „Ich habe mir gedacht, was mit Musik möglich ist, muss auch mit Sprache funktionieren. Das Bäumchen würde sich sicher gewählter ausdrücken, wenn nur mein Programm perfekter wäre...”.
Gebannt starrte Cording auf die ausgedruckten Zeilen: stadt muss sich bücken... prophetische melonen gegen flut... abreise ohne wesenheiten... bilderkreis mit schneefeldern am fuß... schleifen auf spaziergängerinnen haben keine fenster... umwundene Müdigkeiten zweibeinig... weder sand noch pfoten in der wut... unyss schuppenkollektion drei blatt... tausend stäbchen stürzen sieger...
„Jetzt fängt er mit dem Stabreim an!“ lachte der Professor. oeih3oiweu äshjc-vrevbb?w lö qrtqw034. Er kann nicht mehr, schreiben ermüdet ihn. Ich habe einen ganzen Ordner solcher Gedichte.
Diese Niederschrift hätte von dir sein können. Naja, nicht ganz, du bist noch im Fluss. Ich könnte dir stundenlang zuhören, besonders wenn du von den magischen Zeiten sprichst, in denen Männer und Frauen zusammen die Säulen des Himmels in ihren Herzen trugen. Und manchmal kommen mir die Tränen:
„Wie platziere ich mich? Halte ich an? Geh ich weiter? Ist da noch Platz für Hoffnung, wenn wir erfüllt sind mit Schrecken, wenn für das Sorgen kein Termin mehr bleibt? Wollen wir OHNMACHT? JA!“
Aber dann freue ich mich wieder über Sätze wie diese:
„Du hast die Stimmen gehört und hast sie nie der Lächerlichkeit verfüttert.“
„Vertrau deinen kosmischen Eltern. Gleichgültig, ob sie im Fels, im Fisch oder im Baum wohnen. Sie ummanteln uns.“
Besonders beeindruckt hat mich folgende Aussage:
„Das Wort haspelt, stolpert und tanzt sich selbst. Zungen sind zu müde - Reize sprechen selbst.“
Du hast recht. Unsere Gedanken mögen sich kaum noch in Worte kleiden. Sie kommen als Schwingungen daher. Die Poesie, die das Sprachkonstrukt im Innersten zusammenhält, ist überfordert. Ihre feinen Streben halten dem Druck des Vulgären kaum mehr stand. Hinter der Sprache, liebe Freundin, kommt das Schweigen. Ich versuche mich sprachlich schon seit längerem zu reduzieren: über die Dichtung (oder besser Verdichtung) in das Schweigen. Das mühsam erkämpfte Schweigen soll uns eine Erquickung sein und kein Schrecken. Was meinst Du?
„Weil aus mir die Reine Liebe spricht, brauche ich mich nicht.“
Ich schon, ich brauche dich schon - gelegentlich.
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bildquelle: Mopic / shutterstock
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