Ein Standpunkt von Roberto de Lapuente.
Die „freie Welt“ hat unaufhaltsam Kurs in Richtung Dystopie aufgenommen.
Die politische und wirtschaftliche Ordnung des Westens kommt an ihr Ende. Wir erleben das Ringen eines todgeweihten Imperiums. Kaum ein Intellektueller hat unsere Zeit so begriffen wie Michel Houellebecq, der gerade ein neues Werk mit dem bezeichnenden Titel „Vernichten“ vorgelegt hat. Und dann gibt es auch noch Norbert Häring. Beide sind die Chronisten der Endzeit, in der alles dabei ist, zu verfallen: globaler Einfluss, Kontrolle, aber auch die Freiheit und das, was früher unter dem Stichwort „Werte“ zusammengefasst wurde.
Ich gebe zu, ich habe Angst vor der Zukunft. Während sich aber alle Welt vor dem Klimawandel fürchtet oder davor, dass irgendwann mal rechtskonservative Parteien die Oberhand gewinnen, bereitet mir eine andere Aussicht schlaflose Nächte. Ja, nicht mal ein dräuender Atomkrieg quält mich mit solcherlei Sorgen.
Mir macht der sterile Überwachungsfeudalismus und der entmenschlichte Transhumanismus große Angst. Beide ziehen langsam aber sicher herauf — und mit der Pandemie scheinen sie einen breiten Zuspruch erfahren zu haben.
Wenn einem solche Ängste zusetzen, sollte man sich seine Literatur ganz genau auswählen. Etwas Lebensbejahendes kann da nicht schaden. Wer aber zu einem Houellebecq-Roman greift, ist letztlich selbst schuld. Vor einigen Wochen ist sein neuer Roman erschienen: „Vernichten“ so der schlichte Titel.
Die Lektüre des Franzosen kann ich mir nicht verkneifen. Es gibt keinen Romancier, der den belletristischen Soundtrack des Zeitgeistes so auf den Punkt bringt. Man merkt, es graut ihm vor dieser Epoche, er sehnt sich — auch wenn er es wohl so nie sagen würde — nach alten, nach menschlicheren Zeiten zurück. Bevor ich zu viel über das Buch verrate, liebe Leserin, lieber Leser, brechen Sie an dieser Stelle lieber ab. Kommen Sie zurück, wenn Sie „Vernichten“ gelesen haben. Es eilt nicht, denn dieser Text wird auch dann noch aktuell sein, befürchte ich.
Vernichten: Die Geschichte einer kaputten Welt
Wieder hat Houellebecq die Handlung in einer nicht so fernen Zukunft angesiedelt. Die Welt, die sich um seinen Protagonisten Paul auftut, ist aalglatt und gefühlskalt. Der Westen ist wirtschaftlich ins Hintertreffen geraten. Anschläge von unbekannten Terroristen, die die Behörden nicht mal mehr aufklären können, etablieren sich gerade. Pauls Vater landet nach einem Schlaganfall in einem Pflegeheim.
Da er vermögend ist, kommt er in einem der besseren Heime unter. Aber auch hier herrscht die Entwürdigung, schuften Schwarzafrikanerinnen unter Preisgabe ihrer Würde und fragen sich: Das soll der Westen sein? So gehen wir bei uns in Afrika nicht mit den Alten um. Das arme Afrika, das noch nicht den Weg der Technologisierung beschritten hat, beschreibt Houellebecq gewissermaßen als letzten würdevollen Ort auf Erden.
Der Verfall ist, wie immer bei Houellebecq, mit beiden Händen fassbar. Man spürt abermals, dass er die liberalen Industriestaaten auf einem fatalen Irrweg sieht — auf einem Irrweg, der nicht mehr verlassen werden kann. Seine Zukunftsszenarien sind düster, auch ohne mit digitaler Überwachungsfiktion, die keinen Freiraum mehr gewährt, Effekte setzen zu müssen. Die Düsternis seiner Prognosen entstammt mehr oder weniger kurzer Abrisse des Alltages, die Gefühlskälte seiner Figuren zeigt auf, dass der künftige Mensch noch weiter seine Menschlichkeit abgebaut hat.
In seinem neuen Roman findet der Protagonist dennoch wieder etwas Menschliches: Die erkaltete Liebe zu seiner Ehefrau entfacht noch einmal — wie immer beschreibt Houellebecq auch die sexuellen Momente, die ihm prüde Kritiker als Pornographie vorwerfen, die aber im Grunde bei ihm stets lediglich Mittel zum Zweck sind. Denn mit der ungenierten Beschreibung solcher Zusammenkünfte zeigt der Autor seinen Lesern auf, dass das die letzte Bastion der Menschlichkeit ist.
Sollte der künftige Mensch ein von umgebender Technologie und Ideologie erkalteter Klotz sein: Er wird trotzdem noch vögeln. Jedenfalls eine Zeit lang, denn in seinem neuen Buch erahnt man schon, dass die noch späteren Generationen schon die Lust am Sex verlieren.
Sie sitzen einsam herum, daddeln auf ihren Mobiltelefonen, kokettieren in sozialen Netzwerken, scheinen aber an menschlicher Zuneigung nicht interessiert.
Kaum hat Paul die Liebe wiederentdeckt, erkrankt er unheilbar. Er wird nach dem, was ihm die Ärzte sagen, einen recht grauenvollen Sterbeprozess erleben. Die Welt, so sagt uns der Autor, ist zu einem sinnlosen Lebensmittelpunkt geworden. Kleine Glücksmomente werden jäh unterbrochen, ja unwiederbringlich abgebrochen. Diese Welt ist ein Vernichtungsfeldzug. Immer gewesen. Houellebecq ist, vielleicht würde er es leugnen, ein enttäuschter Katholik — oder mit Camus gesprochen, jemand der in die metaphysische Revolte tritt. Dass der Kirche einstmals eine Sinnstiftung zukam, die dem Liberalismus nie gelungen ist, treibt ihn in seinen Werken immer wieder um.
High-Tech-Totalitarismus und 500-jährige Despoten
Es ist nicht so, dass Houellebecq einem mit dem Hammer seine exakte Prognose für eine nahe Zukunft einbläut. Wie immer ist er ein zurückhaltender Beobachter, manche Entwicklungen lassen sich nur in Nuancen erahnen. Er liefert keine glasklare Chronologie der Ereignisse, die erklären könnte, wie sich die Welt so verändern konnte. Als Leser muss man einen Sinn für die Lakonie des Autors entwickeln. Und es schadet nicht, wenn man sein gesamtes Œuvre kennt. Tut man das, spürt man mit jeder Zeile, dass der Franzose davon überzeugt ist, dass diese kalte Welt in nicht so ferner Zeit ein noch kälterer Ort werden wird — und wir, der Westen, ein sterbendes Imperium sind.
Zeitgleich mit Houellebecqs neuem Buch habe ich das neueste Buch von Norbert Häring gelesen. „Endspiel des Kapitalismus. Wie die Konzerne die Macht übernahmen und wie wir sie zurückholen“ lautet der Titel. Häring ist ja nun kein Romancier und macht auch nicht in Science Fiction. Wenn er von Zukunftstechnologien schreibt, ist dies keine Fiktion, sondern bereits hier und da erprobt — oder mindestens in der Planung. Im zentralen Kapitel seines Buches beschreibt er, wie das Endspiel laufen wird, wie wir in einen Überwachungsfeudalismus und Transhumanismus hinübergleiten, der uns als autonome Wesen entmündigt.
Den globalen Machteliten ist klar, dass sie ihren Reichtum nicht mehr lange auf Pump via Aktienmärkte erhalten können; dieser Kapitalismus hat sich totgeritten. An einem neuen Herrschaftssystem wird bereits gebastelt — und die Pandemie ist die Blaupause.
Häring berichtet von ID2020, einer Identifikations- beziehungsweise Patientennummer für alle Weltbürger, von der Better-Than-Cash-Allianz, die das Bargeld abschaffen möchte, vom Grundeinkommen, das „Brot und Spiele“ bedeuten wird — und von der Kontaktverfolgung in hochoptimierter Form. Dass die Granden des Silicon Valley 500 Jahre alt werden wollen und dafür viele Milliarden in die Forschung stecken, hat Yuval Noah Harari schon populär abgehandelt. Besorgniserregend ist dieser Größenwahn aber immer noch.
An Milliardäre, die die Politik in der Tasche haben und die ein ewiges Leben haben sollen, gewöhnt man sich einfach nicht. Früher konnte man noch auf das Ableben ungeliebter Diktatoren hoffen, die Spanier hofften nicht vergebens auf Francos Tod — in der schönen neuen Welt soll es dann so sein, dass die „normale“ Bevölkerung den Tod des Despoten ganz sicher nicht mehr erleben wird.
Ich gebe zu, die Parallelität der Lektüre beider Bücher, war nicht so ganz optimal. Beide, Houellebecq wie Häring, haben sich in meiner Wahrnehmung als Leser gegenseitig hochgeschaukelt. Nochmal:
Beide Autoren sind grundverschieden, erzählen nicht dasselbe. Aber das Gefühl, dass zukünftige Tage düster werden, wie es der Franzose umschreibt, verstärkte sich, nachdem ich wieder Passagen bei Häring gelesen habe — und andersherum verdichtete sich die Kälte der von Houellebecq beschriebenen Zukunft, weil Häring die Werkzeuge beschrieb, die uns in so eine Dystopie lotsen werden.
All das kann nicht gut enden
Seitdem die russischen Truppen in der Ukraine einmarschiert sind, geht es mal wieder um unsere Art zu leben. Sie sei mal wieder in Gefahr. Zu Zeiten des Krieges gegen den Terror hat man diese Warnung oft gehört. Den Islamisten gefiel angeblich unsere Art zu leben nicht, daher wollten sie uns ausradieren. Möglicherweise war an der Einschätzung sogar was dran.
Aber darum geht es mir nicht. Was mir damals schon übel aufstieß: Diese empörte Hysterie und aufgebrachte Selbstgerechtigkeit, mit der diese Einschätzung vorgebracht wurde. Als ob unsere Art zu leben der einzig legitime und erstrebenswerte Weg sei. Wie kann man den ablehnen? Ja, warum nur hasst man ihn so sehr? Immer dann, wenn ein Experte erklärte, dass unsere Lebensart verdammt wird, hörte man auch heraus: Wie kann man mit uns, dem Weltsystem des Guten, so schändlich umgehen? Warum halten die sich nicht an jene Ordnung, die wir ihnen auferlegt haben?
Für alle, die nicht aus Industrieländern stammen, kann man das relativ leicht erklären: Unsere Art zu leben beutet sie aus. Sie leben teilweise auf einem Boden, unter denen Rohstoffe lagern, die sie nicht reich, sondern ganz im Gegenteil, die sie arm machen. In diesen Tagen geht es wieder um unsere heißgeliebte Lebensart. Aber es sind keine tribalistischen Kulturen, die wir als Verneiner unseres Lebensgefühls identifizieren: Es ist ein anderes europäisches Land. Ich frage mich indes, was genau ich an unserer Art zu leben so ausgezeichnet, so schützenswert finden soll?
„Lieb Vaterland, wofür soll ich dir danken? Für Versicherungspaläste oder Banken?“ Diese Textzeile eines alten Liedes Udo Jürgens‘ kommt mir ständig in den Sinn, wenn ich von unserer Lebensart lese. Aber protzige Bauten sind heute ja unser kleinstes Problem. Schlimmer ist: Sie haben ein Casino aus der Realwirtschaft gemacht, ihr Vermögen aufgebläht, sich ein arrogantes Weltwirtschaftssystem geschaffen. Seit Jahren ist die reichste Kaste dieses Planeten damit beschäftigt, sich nicht nur die Erde, sondern auch ihre Erdenbürger untertan zu machen. All das geht vom Wertewesten aus. Vom Silicon Valley, jenem Hochtechnologiestandort, den dieser Westen für die Zukunft hält.
Da ist so viel Megalomanie am Werk, so viel Gier, Gleichgültigkeit und Menschenverachtung, so viel Hysterie, blinde Technologiesucht und falsch verstandene Fortschrittsbegeisterung: Ob da jetzt ein Atomkrieg droht oder nicht — das kann so oder so nicht gut enden.
Früher oder später zerreißt es uns — das alles muss in einem Abgrund enden. Für einen anderen Ausgang ist es nicht konzipiert. Wie so ein Abgrund aussieht, weiß niemand vorher ganz genau.
Ich stelle ihn mir ein bisschen so vor, dass wir chinesische Verhältnisse bekommen werden, weil der internationale Wettbewerb das nötig macht. Und dann steigern beide Blöcke, das rigide China und der autoritäre Westen, jährlich ihre Menschenverachtung, um sich so Standortvorteile zu sichern und erfolgreich zu bleiben. Da wird jeder Atomkrieg irgendwie zur Alternative …
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Bildquelle: K_Z / shutterstock
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