Ein Kommentar von Paul Schreyer.
Lähmende Stagnation, staatliche Übergriffe, allgemeine Unfreiheit – der tschechische Autor, Bürgerrechtler und spätere Präsident Václav Havel schrieb vor 44 Jahren einen Essay, der die Funktionsweise von Staat und Gesellschaft im damaligen Ostblock als „posttotalitär“ analysierte. Havel beschrieb zugleich, wie ein Mensch in einem solchen System leben kann, ohne seine Würde zu verlieren.
Havels 1978 verfasster Essay „Versuch, in der Wahrheit zu leben“ entstand zehn Jahre nach der Niederschlagung des Prager Frühlings und ein Jahr, nachdem Havel als Sprecher der Bürgerinitiative „Charta 77“ internationale Bekanntheit erlangt hatte. Diese Initiative setzte sich für Rechtsstaatlichkeit in der damaligen Tschechoslowakei ein und wurde von der Regierung als Gegner betrachtet.
Der Text entstand somit in einer Zeit, die von Menschen wie Havel als lähmend und ausweglos empfunden wurde und die geprägt war von einer Übermacht des Staates, der alles und jedes zu reglementieren versuchte. Kritisches Denken stand generell im Verdacht, „antistaatlich“ zu sein. Havel selbst wurde mehrfach verhaftet und zu Gefängnisstrafen verurteilt.
Mit „in der Wahrheit leben“ (im Original titelte Havel „Moc bezmocných“ – „Die Macht der Machtlosen“) ist vom Autor das Bemühen gemeint, Lügen der Regierung nicht zu tolerieren und nicht durch eigenes Handeln zu unterstützen. Sein wiederkehrendes Beispiel dafür ist ein Gemüsehändler, der im Schaufenster seines Ladens eine Parteilosung aufhängt, an die er selbst nicht glaubt. Er tut das, weil alle es tun und weil er weiß, dass es von ihm erwartet wird. Indem er die Losung entgegen seiner eigenen Überzeugung aufhängt – und damit allen Passanten und Kunden seine Unterordnung unter das System signalisiert – werde er jedoch selbst zum aktiven Träger des Systems und dessen Ideologie:
„Der Mensch muss nicht an alle diese Mystifikationen glauben. Er muss sich aber so benehmen, als ob er an sie glaubt, muss sie zumindest schweigend tolerieren oder sich wenigstens gut mit denen stellen, die mit den Mystifikationen operieren. Schon deshalb muss er aber in Lüge leben. Er muss die Lüge nicht akzeptieren. Es reicht, dass er das Leben mit ihr und in ihr akzeptiert. Schon damit nämlich bestätigt er das System, erfüllt es, macht es – er ist das System.“
In der Wahrheit zu leben bedeute für den Gemüsehändler daher, die Losung nicht mehr aufzuhängen, und, wenn er darauf angesprochen werde, seine Meinung ehrlich zu äußern.
„[Die Ideologie] ist einer der Pfeiler der äußeren Stabilität dieses Systems. Dieser Pfeiler ist jedoch auf Sand gebaut – nämlich auf der Lüge. Deshalb bewährt er sich nur so lange, solange der Mensch bereit ist, in der Lüge zu leben.“
Havel erklärt die Stabilität eines solchen, von ihm als „posttotalitär“ bezeichneten Systems mit dessen elastischer, alles umfassender Ideologie sowie damit, dass Menschen sich in dieser Ideologie bequem einrichten könnten:
„[Unser System] verfügt [im Unterschied zu anderen modernen Diktaturen] über eine unvergleichbar konzisere, logisch strukturierte, allgemein verständliche und in ihrem Wesen sehr elastische Ideologie, die in ihrer Komplexität und Geschlossenheit den Charakter einer säkularisierten Religion erreicht: Sie bietet dem Menschen eine fertige Antwort auf jede Frage, und es ist nicht gut möglich, sie nur teilweise zu akzeptieren; wird sie akzeptiert, greift sie tief in die menschliche Existenz ein.
In einer Epoche der Krise von metaphysischen und existenziellen Sicherheiten, in einer Epoche der menschlichen Entwurzelung, Entfremdung und der Sinnentleerung der Welt muss diese Ideologie zwangsläufig eine besondere hypnotische Anziehungskraft ausüben: Sie bietet dem irrenden Menschen eine leicht erreichbare ‚Heimat‘. Man braucht sie nur zu akzeptieren, und gleich ist alles wieder klar, das Leben bekommt einen Sinn, und es gibt keine Geheimnisse mehr, keine Fragen, keine Unruhe und keine Einsamkeit.
Für diese billige ‚Heimat‘ muss der Mensch freilich teuer bezahlen: Mit der Absage an seinen eigenen Verstand, sein Gewissen und seine Verantwortung: ein integraler Bestandteil der übernommenen Ideologie ist das Delegieren des Verstands und des Gewissens an die Vorgesetzten, das heißt das Prinzip der Identifizierung des Machtzentrums mit dem Zentrum der Wahrheit.“
Anders gesagt: Die Regierung hat meist recht. Sie hat die Fachexperten, kennt sich aus, lügt nicht absichtlich. Wir vertrauen ihr, müssen nicht alles hinterfragen. Die staatliche Ideologie, so Havel, diene auch als „Schleier“, mit dem der Mensch „seinen ‚Existenzverfall‘, seine Verflachung und seine Anpassung an die gegebene Lage“ verbergen könne. Sie helfe dem Einzelnen bei seiner Anpassung an die Macht, was ihre Stärke und Dauerhaftigkeit erkläre.
„Der Mensch wird zum Leben in Lüge gezwungen, kann aber nur deshalb dazu gezwungen werden, weil er imstande ist, so zu leben. Nicht nur, dass das System den Menschen entfremdet – der entfremdete Mensch stützt dieses System zugleich als eine unwillkürliche Projektion seines Ichs. Als erniedrigtes Bild seiner eigenen Erniedrigung. Als Dokument seines Versagens.“
Havel kommt dann auf ein anderes gesellschaftliches Problemfeld zu sprechen – die zunehmende Loslösung der Ideologie von der Wirklichkeit. Mit anderen Worten: Es werden Dinge behauptet, die immer offenkundiger nicht stimmen.
„Dort, wo es einen öffentlichen Wettbewerb um die Macht, also auch eine öffentliche Kontrolle der Macht gibt, (…) wirken immer bestimmte Korrektive, die die Ideologie daran hindern, sich vollständig von der Wirklichkeit zu emanzipieren. In den Verhältnissen der Totalität verschwinden aber diese Korrektive, nichts hindert also die Ideologie daran, sich immer mehr von der Wirklichkeit zu entfernen und sich allmählich in das zu verwandeln, was sie in einem posttotalitären System ist; in eine Welt des ‚Scheins‘, in ein bloßes Ritual, in eine formalisierte Sprache, die sich von dem semantischen Kontakt mit der Wirklichkeit löst und in ein System ritueller Zeichen verwandelt, die die Wirklichkeit durch eine Pseudowirklichkeit ersetzen.“
Das Aufhängen der Transparente mit politischen Losungen und das Argumentieren mit diesen Losungen in der Öffentlichkeit sind Rituale, bei denen nicht der Sinn der Worte zählt. Es geht vielmehr um den Akt ihres Aussprechens, das die eigene Unterordnung, das eigene Wohlverhalten symbolisiert. Derjenige, der die Worte spricht, die Floskeln gebraucht, gehört dazu, stellt sich nicht quer, ist „zuverlässig“. Die Rituale werden im Laufe der Zeit allerdings immer dominanter und löschen in diesem Prozess zunehmend die Individualität der einzelnen Menschen aus.
„Das ‚Diktat des Rituals‘ führt freilich dazu, dass sich die Macht deutlich anonymisiert. Der Mensch löst sich fast im Ritual auf, lässt sich von ihm tragen, und manchmal scheint es, als ob es das Ritual selbst wäre, das die Menschen aus den dunklen Winkeln in das Licht der Macht hinaufträgt. Oder – ist es denn nicht für das posttotalitäre System charakteristisch, dass auf allen Ebenen seiner Machthierarchie Persönlichkeiten immer mehr durch Menschen ohne Gesicht, durch Marionetten, uniformierte Diener des Rituals und der Machtroutine verdrängt werden?“
Havel will solche Gedanken dabei nicht allein als Kritik am System des Ostblocks verstanden wissen:
„Ist nicht letzten Endes das graue und leere Leben in dem posttotalitären System eigentlich nur eine Karikatur, ein zugespitztes Bild des modernen Lebens überhaupt? (…) Unsere Aufmerksamkeit richtet sich also unausweichlich auf das Grundsätzliche – auf die Krise der modernen Zivilisation insgesamt. (…) Das posttotalitäre System ist nur ein Gesicht der allgemeinen Unfähigkeit des modernen Menschen, ‚Herr seiner eigenen Situation‘ zu sein – ein besonders dramatisches und um so klarer seine wahre Herkunft verratendes Gesicht.“
Gegen Ende seines Essays gibt Havel Stichworte für eine positive Entwicklung – wenn er auch eine große, umfassende Vision ablehnt. Man solle nicht das Ergebnis des gesellschaftlichen Prozesses vorwegnehmen und vermeintlich fertige Lösungen für eine bessere Welt anbieten. Entscheidend sei vielmehr, den Menschen ein freies, selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Erst von dieser Grundbedingung aus sei eine neue, bessere Gesellschaftsordnung realisierbar.
Es gehe, so Havel, um „die Rehabilitierung solcher Werte wie Vertrauen, Offenheit, Verantwortung, Solidarität, Liebe“. Er glaube an „Strukturen, die sich nicht an der ‚technischen‘ Seite der Machtausübung orientieren“, also etwa an der einfachen Übernahme des vorhandenen Apparates durch neue, „bessere“ Politiker. Nötig seien vielmehr „Strukturen, die mehr durch das gemeinsame Gefühl, dass bestimmte Gemeinschaften sinnvoll sind, als durch gemeinsame Ambitionen zur Expansion nach ‚außen‘ gefestigt werden“. Also mehr Sinn und Gemeinsinn statt Taktik und Kalkül. Vieles davon sei schon in der Gesellschaft präsent, ihr aber kaum bewusst. Havel schließt:
„Es ist nämlich überhaupt eine Frage, ob die ‚bessere Zukunft‘ wirklich und immer nur eine Angelegenheit irgendeines fernen ‚dort‘ ist. Vielleicht ist sie schon längst hier – und nur unsere Blindheit hindert uns daran, sie um uns und in uns zu sehen und zu gestalten.“
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Dieser Beitrag erschien zuerst am 09. August 2022 im Online-Magazin multipolar. +++
Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Bildquelle: Syukri Shah / shutterstock
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