Tagesdosis

In Würde wühlen | Von Roberto J. De Lapuente

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Ein Kommentar von Roberto J. De Lapuente.

Na, wer sagts denn: Die Grünen und die Liberalen haben ja doch ein Herz! Auch sie haben nun soziale Themen im Fokus: Containern, also im Abfall von Supermärkten zu wühlen, soll nämlich laut beiden Parteien endlich straffrei werden. Mehr Weggeschmissenes für alle, die sich nicht mehr leisten können!

Endlich mal eine richtig gute Nachricht: Die kleinen Ampelmännchen sind sich einig – FDP und Grüne wollen das Containern straffrei stellen. Wer künftig im Müll anderer Leute oder Supermärkte buddelt, soll keine Strafe mehr fürchten müssen. Es sei denn, es liegt ein Hausfriedensbruch vor. Bislang wurden Menschen, die sich weggeschmissene Lebensmittel aneigneten, strafrechtlich verfolgt. Aber die guten Menschen der Ampelkoalition möchten in keinem Staat mehr leben, in dem nicht jeder straffrei an Weggeschmissenes kommt. So viel soziales Gewissen haben sie dann doch.

Natürlich verweist man auf die Lebensmittelverschwendung, der man so entgegentreten würde. Warum gute Lebensmittel nicht denen ohne Strafe zukommen lassen, die sie brauchen können? Das ist Sozialstaat 3.0: Nach der Armenspeisung, die wir heute Tafel nennen, jetzt der Müllcontainer. Ganz pragmatisch und liberal.

Was sich hier zeigt ist der sattgefressene Pragmatismus von Leuten, die es als soziale Errungenschaft sehen, einem Obdachlosen eine Pfanddose zu überlassen – und die sich dafür feiern lassen.

Pferdelasagne, BSE-Rinderroulade und andere Containerfrüchte

Das, was man für sich selbst oder eine Kundschaft nicht mehr kulinarisch in Anspruch nehmen möchte, an andere zu verschenken, hat in Deutschland eine gewisse Tradition. Jedenfalls dann, wenn die Empfänger solcher milder Gaben arme Menschen sind. So war es vor vielen Jahren schon, als man BSE-Rinder keulte und einige auf die Idee kamen, dass in Nordkorea oder wer weiß wo noch Menschen hungerten, die sich über eine Rinderroulade freuen würden. Ganz nach dem Motto: Besser Schädliches fressen als gar nichts.

In Erinnerung ist auch noch der Gammelfleisch- und Pferdefleischskandal: Tiefgekühlte Lasagne beinhaltete Pferdefleisch, das nicht deklariert war. Und was fiel den gütigen Herzen aus Deutschlands satter Mittelschicht ein: Na klar, Hartz-IV-Empfänger könnte man damit doch beglücken und effektiv abfüttern. Lasagne al cavallo: Gastronomisches Herz, was willst du mehr?

Wenn man es genauer betrachtet, fußt das System der Tafeln auf exakt dem gleichen Prinzip: Bevor was im Abfall landet, lieber in des Armen Magen. Das schont die Umwelt – und den Steuerzahler. Natürlich wird man dort nicht müde zu betonen, dass das Mindesthaltbarkeitsdatum ja nichts über den Zustand des Produktes aussage. Und dieser Einwand ist ja auch richtig. Dennoch ist es so, dass die Mehrzahl der Menschen in diesem Lande solche Produkte lieber wegschmeißen als verzehren wollen. Ob zu recht oder unrecht, sei mal dahingestellt. Etwas ganz anderes schwingt in dieser Angelegenheit mit, nämlich eine Haltung, die nach dem Motto funktioniert: Ich bin mir zu schade dafür, aber andere sollen es nicht sein.

Deutlicher gesagt: Mein Müll soll die Freude des Anderen sein. Abfall als Sozialleistung. Genau das sollte der Sozialstaat ja, im Gegensatz zum Suppenküchenstaat vorhergehender Zeiten, besser machen.

Mein Müll, dein Festtagsschmaus

Aber was heißt hier Abfall? Die Lebensmittel bei den Tafeln und in den Containern hinter Supermärkten sind ja nicht schlecht, sind im Grunde ja gar kein Abfall. Sie werden aus Bequemlichkeit weggeschmissen. Das stimmt zwar, aber Müll sind sie trotzdem, denn dass sie es sind, darüber scheint es einen breiten Konsens zu geben: Bei wem gibt es schon Käse zum Abendbrot, der zwei Stunden vorher noch neben welken Kartoffeln und schimmeligen Porree in der Tonne lag? Auch wenn er noch gut ist, noch essbar: Die Wenigsten tischen ihren Lieben solche Milcherzeugnisse auf.

Was ist also Abfall? Was Müll ist und was nicht ist ein gesellschaftliches Konzept. Die Frage der Verwertbarkeit von Materialien fällt insofern immer in die sozialwissenschaftliche Deutungshoheit. Für die Mehrzahl der Menschen in unserer Gesellschaft ist tierische Scheiße nutzlos und damit Abfall; andere düngen damit ihr Feld – und in anderen Weltregionen kachelt man damit seine Hütte. Hier isst man bestimmte Tierpartien nicht, dort gelten sie als besonders delikat.

Was Abfall ist und was nicht, ist ein Konzept, basierend auf sozio-ökonomischen, teils ökologischen Entwürfen.

Nicht alle Menschen sehen dasselbe Erzeugnis als Abfall. Wir nennen es Abfall, wenn das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten ist oder wenn nicht mehr viel fehlt, bis diese Grenze hinüber zum Abfall, erreicht ist. Unser Konzept von Wertigkeit eines Artikels, das sich aus der allzeitigen Verfügbarkeit von Lebensmitteln rekrutiert, macht etwas schon vorab zum Müll, noch bevor die offizielle Zeitgrenze überschritten ist.

Letzteres mag man als schlechte Entwicklung betrachten, das ändert aber nichts daran, dass wir es mit Produkten zu tun haben, die kaum jemand regulär erwerben möchte. Aber bestimmte Leute im Lande sollten sie dennoch essen: Und diese Doppelmoral im Hinblick auf die Frische von Lebensmitteln darf sich dann sogar noch rege Hoffnungen machen, als soziales Gewissen durchzugehen.

Die Würde des armen Menschen, gleich neben abgelaufenen Fischstäbchen

Dieser vermeintliche Pragmatismus, der sich hinter der Ansicht versteckt, das alles sei ja noch gut, das könne man noch essen, offenbart natürlich das sozialstaatliche Defizit, das bei den Liberalen und den Grünen vorherrscht. Statt über Strukturen nachzudenken, die ein menschenwürdiges Leben garantieren können, übt man sich im libertären Gutmenschentum, das ein soziales Gewissen lediglich simuliert. Schließlich kann man sich so beruhigt zurücklehnen und einreden: Man habe alles getan, um die schlimmste Not zu lindern.

Von der FDP hat man freilich nichts anderes erwartet, seit Jahrzehnten ist genau das ihre Vorstellung von Sozialpolitik. Die Grünen jedoch geben regelmäßig zu Protokoll, sie seien eine gänzlich soziale Partei, hätten ein Herz für die Habenichtse. Und was fällt ihnen für sie ein? Ein Freifahrtschein zum Wühlen im Müll. Sei der auch noch so gut, noch so essbar: Für die, die das Containern straffrei machen wollen, bleibt es dennoch Müll. Sie würden sich kein Mahl aus Zutaten zaubern, die eben noch im Abfall lagen.

Es ist keine Frage der Nützlichkeit oder des Pragmatismus, die sich hier stellt: Wir haben es mit einer ethischen Frage zu tun. Und die geht so: Ist es sittlich, anderen das zuzuteilen, was ich in den Müll werfen würde?

Wer das mit Ja beantwortet, sagt damit auch: Ich bin etwas Besseres. Aber es ist und bleibt eines in diesem Deutschland eindeutig: Arme Menschen haben keine Würde, wegen der es sich um Sittlichkeit zu diskutieren lohnte. Deren Würde liegt auf dem Müll. Und wenn sie demnächst nach essbaren Resten suchen, ohne Angst haben zu müssen, dass sie gleich die Polizei mit auf das Revier nimmt, finden sie vielleicht zufällig irgendeine entsorgte Würde. Eine, die gleich neben den abgelaufenen Fischstäbchen lag. Die ausrangierte Würde anderer Leute aufzutragen: Mehr kann man als Mensch in Armut in Deutschland nicht erwarten. Auch nicht von einer Bundesregierung, die sich selbst als sozial und progressiv anpreist.

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

+++ Dieser Beitrag erschien zuerst am 17. Januar 2023 bei neulandrebellen.de

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Bildquelle: Scherbinator / shutterstock


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