Kai Diekmann blickt auf anderthalb Jahrzehnte Bildzeitung zurück und sieht nicht, was schiefläuft in den Leitmedien.
Wir wissen längst, wie eng Spitzenpolitiker und Spitzenjournalisten verbandelt sind. Wir wissen auch, dass die Redaktionen sich inzwischen als Partner der Regierung sehen und nicht als ihr Gegenspieler. Es ist trotzdem gut, das hin und wieder schwarz auf weiß nachlesen zu können. Kai Diekmann ist ein Zeitzeuge ersten Ranges. Er war von 1998 bis 2000 Chefredakteur der Welt am Sonntag und stand von 2001 bis Anfang 2017 an der Spitze der auflagenstärksten Tageszeitung Europas. „Ich war BILD“, steht auf dem Cover seiner Autobiografie. Die Lektüre lohnt sich selbst dann, wenn man diese Zeitung nie mochte.
Ein Kommentar von Michael Meyen.
Ich gebe zu: Ich mag solche Bücher. Jemand, der mittendrin war, schreibt auf, wie die Nachwelt ihn sehen soll. Heldengeschichten, natürlich. Trotzdem. Memoiren funktionieren nur, wenn man uns ein wenig unter die Decke blicken lässt. Im letzten Absatz lobt Kai Diekmann seine Frau, Katja Keßler, die Kolumnistin bei der Bildzeitung war, als sich beide kennenlernten. Seine „schärfste Lieblingskritikerin“ habe das Buch nicht nur „ins Deutsche übersetzt“, sondern immer wieder gefragt: „Warum muss man das jetzt lesen? Was erfahre ich hier, was nicht auch bei Google stehen würde?“ (1).
Antwort eins: jede Menge. Ein Promi garantiert Absatz. Der Verlag kann es sich folglich leisten, aus dem Vollen zu schöpfen. Viele Dokumente, tolle Fotos. Diekmann, Diekmann, Diekmann. Irgendwie haben es auch all die US-Präsidenten ins Bild geschafft, Bundeskanzler, der Papst, Putin, Assad, Kollegen aus dem Journalismus. Ich war BILD? Nein. Dieser Kai Diekmann war die Welt. Man muss nur auf den Schreibtisch von Donald Trump schauen, fotografiert im Januar 2017, kurz vor der Amtsübernahme im Weißen Haus. Rechts der Besucher aus Deutschland und links ein Politiker, der offenkundig froh ist, jemanden bei sich zu haben, der das Chaos endlich ordnen hilft. Kai Diekmann sagt, dass Trump nie wieder einer deutschen Zeitung ein Interview gegeben hat (2). Er wird es wissen.
Das führt direkt zu meiner zweiten Antwort. Was erfährt der Leser in diesem Buch? Was habe ich als Medienforscher gelernt? Am wichtigsten ist ein Rätsel, das ich kurz zurückstelle, um zunächst auf zwei Punkte hinzuweisen, die nicht ganz so überraschend sind, aber mit den vielen Fotos zu tun haben und mit der Idee von Journalismus, die dort eingefangen worden ist. „Alles ist falsch an diesem Satz“, ruft Kai Diekmann dem toten Hajo Friedrichs hinterher, dem legendären Tagesthemen-Moderator, der ins kollektive Gedächtnis seiner Zunft eingegangen ist mit dem Satz, dass sich ein guter Journalist nicht gemeinmache mit einer Sache, auch nicht mit einer guten. Soll er doch „in seinem Grab“ rotieren „wie eine Turbine“, dieser Friedrichs. Ich, Kai Diekmann, wir, die Bildzeitung, sind nicht „nur journalistische Beobachter, sondern Akteure“.
Ich reiße das hier ein wenig aus dem Zusammenhang. Kontext ist das, was in diesem Buch „Flüchtlingsherbst“ heißt (3), und der Autor ist schlau genug, nicht nur in diesem Kapitel Reflexionsschleifen und Fragezeichen einzubauen. Wer weiß, ob das alles richtig war. Aber egal. Wir haben das eben so gemacht mit der Willkommenskultur.
Der Basta-Kanzler kommt auch vor. Überhaupt alle, die wichtig waren in den letzten 30 Jahren. Wir erfahren, dass Gerhard Schröder auch 2022 noch abends bei Diekmann anruft, wenn er irgendetwas loswerden will. Angela Merkel hat ihm SMS geschrieben, als sie frisch im Amt war, und sich immer mal wieder auch beraten lassen, damit aber später aufgehört. Wenn Helmut Kohl in den späten 1990ern jemanden für einen Absacker brauchte, war auf Kai Diekmann Verlass. Und die Sache mit Christian Wulff, die ist längst Mediengeschichte. Der Bundespräsident auf dem Anrufbeantworter des Bild-Chefredakteurs. Das ist der Stoff, aus dem sich Bücher machen lassen.
Diekmann schreibt ein ganzes Kapitel über Wulffs „amateurhaften Umgang mit den Medien“, das zugleich viel über die Nähe sagt zwischen Spitzenpolitik und Spitzenjournalismus. Man frühstückt in Familie und, kein Scherz, man denkt sogar zusammen darüber nach, wie man ein Gerücht aus der Welt bekommen kann, das den Ruf des schicken Paares aus Schloss Bellevue für immer ruinieren könnte. Hajo Friedrichs in seinem Grab. Ich möchte nicht wissen, wie es da jetzt aussieht. Vielleicht ist es ja okay, wenn sich so ein Chefredakteur mit einer schlechten Sache gemein macht.
Der Leser lernt nicht nur hier, dass auch die Drähte zwischen den Chefsesseln der Leitmedien tatsächlich kurz sind. Ein Anruf genügt. Und wenn sich zwei nicht mögen wie zum Beispiel Bild und taz, dann wird daraus ein Theater, das nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat, aber viel mit der Eitelkeit der Leute, die eigentlich dazu berufen wären, Regierungen und anderen Entscheidern in unser aller Namen auf die Finger zu schauen.
Ich komme gleich zu meinem Rätsel, will aber vorher noch schnell erzählen, wie sich Kai Diekmann an die Finanzkrise 2008 erinnern möchte. In diesem Abschnitt geht es um „interne Bankprotokolle“, die der Bildzeitung zugespielt werden und „belegen, dass es an vielen Geldautomaten massive Engpässe gibt“. Der Chefredakteur weiß, was er eigentlich hätte machen müssen. BARGELD WIRD KNAPP – in viel größeren Buchstaben, als es das Layout von Manova erlaubt. Wir wissen, dass es diese Schlagzeile nicht gegeben hat. Wir wissen auch, dass das mit Angela Merkel zu tun hatte und mit einem Treffen am 8. Oktober 2008, bei dem „die bedeutenden Chefredakteure der bedeutenden Medien“ zugegen waren, wie die Süddeutsche Zeitung 2010 süffisant zu berichten wusste.
Damals wunderte sich dieses Blatt noch, dass Journalisten und Politiker nicht mehr „Gegner“ sind, sondern „Partner“, und dass die Kanzlerin die Leute von den Medien offenbar genauso behandelt wie „Mitarbeiter einer Abteilung im Kanzleramt“. Kai Diekmann druckt auf der entsprechenden Seite zwar ein Merkel-Bild, lässt den Leser aber allein mit einem übermächtigen Chefredakteur, der das „deutsche Bankensystem“ gewissermaßen im Alleingang gerettet hat (4).
Das Rätsel ist schwieriger. Kai Diekmann zumindest kennt die Auflösung nicht. Es geht um „Despoten“, die so anders sind als „demokratisch gewählte Regierungschefs“. Putin, Assad, Erdoğan, Orbán. Selbst Trump. Alle total unkompliziert, wenn sie Interviews geben. In Damaskus zum Beispiel kein Dolmetscher und nicht einmal ein Mitarbeiter. In Sotschi sogar das Angebot, gemeinsam schwimmen zu gehen, als das Tonband abgeschaltet ist. Keiner dieser „Autokraten und Populisten“ sei je auf die Idee gekommen, „sich vorab die Interviewfragen zuschicken zu lassen“. Aus New York nicht mehr als eine SMS. Tag und Uhrzeit, Punkt. „Und auch nach den Interviews gab es keine einzige Nachfrage, wie ich mit dem Interviewmanuskript umgehe“.
Wir ahnen, wie das auf der anderen Seite des Grabens läuft. Wobei: Ganz so dramatisch habe ich mir das dann doch nicht vorgestellt. Diekmanns Favorit heißt François Hollande, einst Präsident in Frankreich. Erst wochenlanges Hickhack um den Termin. Dann drei Wochen vorher die Frage nach den Fragen. Drei Wochen. Es folgen zweimal Drängeln und Bitten. Keine Änderungen mehr, auch nicht an der Reihenfolge. Diekmanns Pointe: „Als ich Hollande schließlich im Élysée-Palast gegenübersaß, lagen vor ihm auf dem Tisch nicht nur unsere Interviewfragen, sondern fertig formulierte Antworten“ (5).
Was sagt uns das? Man kann das wie Kai Diekmann deuten und daran glauben, dass Politiker aus dem westlichen Reich „viel mehr zu verlieren haben“ und sich deshalb „nach allen Seiten absichern“ (6). Man kann aber auch fragen, was genau es mit diesen „Seiten“ auf sich hat, bei denen sich dort abgesichert wird. Wen wählen wir da eigentlich in Spitzenämter und wem sind diese Menschen verpflichtet? Wovor haben sie Angst, wenn sie einen Chefredakteur treffen? Was macht aus einem Präsidenten eine Sprechpuppe? Vor allem: Warum reden Putin, Assad, Erdoğan, Orbán frei von der Leber weg? Sind sie nur schlauer, eloquenter, selbstbewusster, oder am Ende sogar freier? Fragen über Fragen. Eigentlich schön, wenn so eine Kolumne mit einem Rätsel endet.
Quellen und Anmerkungen:
Michael Meyen, Jahrgang 1967, hat als Journalist bei der Leipziger Volkszeitung und beim Radio begonnen. Seit 2002 ist er Professor für Kommunikationswissenschaft an der LMU München und arbeitet dort mit angehenden Journalisten, PR-Profis und Medienforschern. Was dabei herauskommt, wird in der Manova-Kolumne „Medienrealität“ dokumentiert. Von 2017 bis 2022 veröffentlichte er seine Erkenntnisse auf dem gleichnamigen Blog. Zuletzt erschien von ihm „Die Propaganda-Matrix“.
(1) Kai Diekmann: Ich war BILD. Ein Leben zwischen Schlagzeilen, Staatsaffären und Skandalen, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2023, Seite 537. (2) Ebenda, Seite 506. (3) Ebenda, Seite 310, 318. (4) Ebenda, Seite 234 bis 235. (5) Ebenda, Seite 476 bis 477. (6) Ebenda, Seite 477.
+++
Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
+++
Dieser Beitrag erschien zuerst am 09. Juni 2023 bei manova.news
+++
Bildquelle: luna4 / shutterstock
+++
Ihnen gefällt unser Programm? Machen wir uns gemeinsam im Rahmen einer "digitalen finanziellen Selbstverteidigung" unabhängig vom Bankensystem und unterstützen Sie uns bitte mit Bitcoin: https://apolut.net/unterstuetzen#bitcoinzahlung
Informationen zu weiteren Unterstützungsmöglichkeiten finden Sie hier: https://apolut.net/unterstuetzen/
+++
Bitte empfehlen Sie uns weiter und teilen Sie gerne unsere Inhalte in den Sozialen Medien. Sie haben hiermit unser Einverständnis, unsere Beiträge in Ihren eigenen Kanälen auf Social-Media- und Video-Plattformen zu teilen bzw. hochzuladen und zu veröffentlichen.
+++
Abonnieren Sie jetzt den apolut-Newsletter: https://apolut.net/newsletter/
+++
Unterstützung für apolut kann auch als Kleidung getragen werden! Hier der Link zu unserem Fan-Shop: https://harlekinshop.com/pages/apolut